Spieglein, Spieglein – Tatort 1088 / Crimetime 249 // #Tatort #Münster #Muenster #Spieglein #Thiel #Boerne #WDR #Tatort1088 #TatortMuenster

Crimetime 294 - Titelfoto © WDR, Thomas Kost

Du bist ich und ich bin du und wir geben niemals Ruh

Rache ist ein wundervolles Motiv. Ein richtiges Mordmotiv. Rache kann man nehmen, sobald sich die Möglichkeit ergibt. Oder erst nach vielen Jahren. Letzteres kommt in der Realität nicht so häufig vor, weil die meisten Gefühle mit der Zeit verblassen, in Krimis hingegen umso mehr. Vor allem, wenn man einen Plot bauen will, bei dem zunächst weit und breit niemand ein Interesse am Tod bestimmter Personen zu haben scheint. Manchmal riecht man den Braten trotzdem. Wie er dann geschmeckt hat, steht in der -> Rezension.

Handlung, Besetzung, Stab

+++ Münster unter Schock: Mord hinter dem Dom +++ Verfolgte ein Unbekannter das Opfer schon Tage vorher? +++ Kommissar Mirko Schrader (Björn Meyer) als Urlaubsvertretung von Kommissarin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) +++

Wutschnaubend stürmt Staatsanwältin Wilhelmine Klemm in die Mordkommission: Nur kurze Zeit nachdem eine Tote hinter dem Dom gefunden wurde, tauchten die ersten Videos in den sozialen Netzwerken auf. Und jetzt auch noch dieses Foto auf der Titelseite der Tageszeitung – wie konnte Frank Thiel sich nur lachend am Tatort fotografieren lassen?

Die Ermittlungen haben kaum begonnen, da steht der Kommissar schon in der Kritik. Zumal auch Prof. Boerne keine Hinweise auf einen Täter liefern kann. Ein Motiv oder andere Verdachtsmomente sind im Umfeld der Ermordeten nicht zu finden. Freunden gegenüber berichtete sie noch, ihr sei in den letzten Tagen jemand gefolgt. Da meldet sich Prof. Boerne: Im Kanal wurde ein weiteres Todesopfer geborgen. Und es gibt einen Hinweis darauf, dass ein Zusammenhang zwischen den Todesfällen besteht.

Rezension

Es tut uns leid wegen des Schocks, den wir mit dem letzten Satz oben vermutlich bei einem Teil der Leserschaft ausgelöst haben. Die bessere Wahrheit ist: Wir haben schon lange keinen Braten mehr gegessen. Wir sind ja im Lauf der Zeit von Verköstigung bei der Oma übers Flexitarische zum fast Veganen gekommen und haben uns vorgenommen, demnächst nur noch auf einem Nagelbrett zu meditieren, nicht mehr zu essen, um unseren ökologischen Fußabdruck, auf die Lebenszeit gesehen, noch einigermaßen in den Griff zu bekommen. Ja, Münster ist überall. Vielleicht haben wir auch Thiels beste Wildledertreter geklaut, weil man auch mit verschiedenen Formen von Second Hand weiter am Selbstoptimum feilen kann. Was geschah also nach dem Dreh mit den Schuhen? Auf einer Auktion müssten sie Höchstpreise erzielen, denn Boerne trat mit seinen Budapestern sachte dagegen.

Damit wir auf bei untergeordneten Aspekten unserer Chronistenpflicht nachkommen: Sascha Kröger, der Mann, der alles steuert, den kenne wir aus der ganz großen Münster-Zeit, er hatte seinen Auftritt und wurde gestellt und inhaftiert in „Wolfsstunde„. Der Verlauf mit der langjährigen Inhaftierung kommt nicht ganz hin, der Tatort 710 wurde erst in 2008 ausgestrahlt. Und warum rächt dieser Mann sich so spät? Sein Werkzeug kennt er doch schon seit Jahren. Na, weil er eh freigelassen wird und mit jenem Werkzeug nach Rio fliegen kann. Hätte er das wirklich getan? Da müssten wir Arnd Klawitter fragen, der den Kröger wieder gespielt hat und kurz vor dem Anrufen endet ja für gewöhnlich unser Investigativjournalismus.

Nach 33 Münster-Tatorten weiß man, wo der Hase läuft und sein Panier sucht. Da kann 34 kommen, ohne dass man vom Sofa kippt, wenn das Motiv eines Täters total überzogen ist und er sich eines hörigen Werkzeugs bedient, um eine höchst skurrile Opferwahl zu treffen. Aber wenn man genau hinschaut, ist dieser Plot unter der Prämisse, dass er nicht auf Glaubwürdigkeit setzt, in sich wieder ganz stimmig. Die Logik ist schräg, aber alles bleibt im System, das Schema ein Mord pro Tag, ein Doppelgänger bzw. eine Ähnlichperson pro Tag muss gefunden werden. Sehr praktisch dass Vaddern einen Taxifahrerkollegen hat, der offenbar ähnlich sozialisiert ist wie er selbst und dadurch eine ähnliche Optik angenommen hat. Schön war die Zeit, in der Hippies noch auf anständige Berufe umsattelten und nicht als Politiker und Staatsbeamte bewiesen, dass alles nur gefakt war.

Außerdem ist der Film gut nacherzählbar. Das kann man nicht von allen Tatorten behaupten, die sich furchtbar ernst und anspruchsvoll geben. Gerade von denen nicht.

„Spieglein, Spieglein“ hat eine Story, die man vielfach variieren kann, die zum Nachdenken über Abwandlungen anregt, wenn man selbst hin und wieder Geschichten schreibt –  und die selbst eine klamaukige Variante der kruden Serientätergeschichten darstellt, in denen Menschen, die selbst gar nicht handeln können, ihre Taten durch andere ausführen lassen. Nur – Anspielungen auf „Schneewittchen“, aus dem ja immerhin der Titel stammt, haben wir nicht entdeckt. Es sei denn, man hält die unscheinbare ausführende Person, die uns nie gräulich war, mit der wir eher Mitleid oder auch Mitgefühl übrig hatten, für eine Umkehrspiegelung der Schönsten im Land, die sicher nie einem verurteilten Sexualmörder Briefe schreiben würde, um auch mal was zu erleben. Gibt es Umkehrspiegelungen? Sie wissen schon, was gemeint ist.  Die zwei Seiten der Medaille oder Naomi Campbell und Heidi Klum.

Oder Jan Josef Liefers und Axel Prahl. Die Doppelgänger von Boerne und Thiel sind nett gestaltet. Jeder von ihnen ist das komplettere Ich der bekannten Originale. Boernes Figur ist nicht nur ein  Kunstliebhaber, sondern Künstler und wohnt in einem schick renovierten Bungalow und Thiel 2 in einem Reihenhaus und hat sogar eine Frau. Man bemerkt allerdings auch etwas anderes: Während Liefers seinen Doppelgänger virtuos interpretiert, ihn mit anderer Gestik, Mimik und Stimmlage ausstattet, wird Thiel 2 optisch abgegrenzt, u. a. mit falschem Oberlippenbart bestückt, bleibt aber Prahl. Das leitet uns zu einer Aussage, die wir vor langer Zeit gemacht hatten: Dass schauspielerisch eine gewisse Asymmetrie herrscht und Thiel vor allem deshalb ein gutes Standing hat, weil er den proletarischen Antityp zum Halb-Bonvivant Boerne darstellt, der jedes Mal ein anderes Cabriolet vorführen darf, während Thiel mal wieder mit dem Fahrrad unterwegs ist. Gut, dass Münster im WDR-Format nicht größer ist als ein Berliner Kiez im Kiez. Irgendwann mal erhielt der Kommissar doch mal seinen Führerschein zurück? Apropos Größenverhältnisse. Es kommt zu einem Beinahe-Topshot, in dem deutlich erkennbar ist, dass Vaddern Thiels cremefarbene E-Klasse-Limousine aus der Mitte der 1980er kleiner ist als das milchweiße 2+2-sitzige S-Cabrio von 2018. Und wie sich erst das Interior Design verändert hat. Alltagskultur und wie sie sich wandelt, darüber zu schreiben, ist nichts für Pessimisten, deswegen steigen wir auch gar nicht darauf ein.

Auch sonst werden Münster-Tatorte nicht zum Nägel kauen erschaffen. Was bei Stephen King zu nervenzerfetzenden Thrillern gerinnt, dass in kurzen Abständen ein grausamer Mord nach dem anderen geschieht, kommt in Westfalen als gemütliches Leichenzählen daher. Jeden Tag in der Woche eine solche nicht zum Dessert, sondern gleich zum Frühstück. Da kommt Monday Motivation auf und hält sieben Tage und sieben Nächte, ein bisschen künstliches Sich-Aufregen inbegriffen. Bis auf Klemm unter Druck, obwohl ihre Ähnlichperson ja gleich zuerst dran war. Sehr gut finden wir, dass man bis auf Thiel und Boerne nicht mit tatsächlichen Doppelgängern, also immer zweimal mit derselben darstellenden Person gearbeitet hat. Weil anders bei Ernie und Bert, sehen diese ihren den ausgedruckten Bildern ihrer Ähnlichpersonen allerdings nicht sehr ähnlich, sondern gleichen sich selbst am meisten.

Die größte Schwäche dieses Tatorts liegt leider auf einer Ebene, die für Münster sehr wichtig ist. Es dauert ewig, bis die Gags besser werden. Es hatte auch einen technischen Grund, aber wenn wir uns korrekt erinnern, dauerte es mehr als eine halbe Stunde, bis wir mal lachen konnten. Die Inszenierung wirkte anfangs recht hölzern und die Witze von Thiel und Boerne waren untermittelplusgut, immer gemessen an ihren besten Filmen und Zeiten. Auch darüber haben wir schon vor Jahren reflektiert: Alle Filmkomiker-Duos hatten irgendwann den Höhepunkt überschritten, weil der Krimi als Spannungsgenre mit wenigen Varianten immer gleich gut funktionabel gemacht werden kann, aber die immer gleichen Gags sind irgendwann auch nervig. Klar, sie sind nicht exakt gleich wie beim Mal zuvor, sogar einen oder zwei neue Alberich-Witze haben sie wieder rausgehauen, wir dachten, das wäre gar nicht mehr möglich. Aber sie sind eben immer auf einer einzigen Tatsache aufgebaut, nämlich der Kleinwüchsigkeit von Silke Haller alias Christine Urspruch. Deswegen muss man eigentlich auch eher von einem running Gag sprechen, der zum Beispiel in Sketchen immer wieder verwendet wird. Das Publikum wartet darauf. Selbst, wenn die Qualität des Witzes sich dann in engen Grenzen hält, freut man sich einfach, weil die eigene Erwartung erfüllt wird. Jahrelang kann man damit Erfolg haben. In Münster sind es jetzt 16 Jahre.

Finale

Das Münster-Team kann nichts dafür, dass über weite Strecken Timing und Esprit nicht so richtig doll sind und dass es vor „Spieglein, Spieglein“ schon 33 Filme gemacht hat, also jeder das Muster bestens kennt, der öfters mal einen Tatort anschaut und Münster nicht ausspart, weil er generell dagegen ist, dass Leichen ins Lächerliche gezogen werden und es dann auch zu Handybildern wie dem mit Thiel kommt, in dem er die Leiche angrinst. Eigentlich ist das recht hintergründig, denn es symbolisiert den lockeren Umgang mit tragischen Ereignissen und schrecklichen Tötungshandlungen, den man bei der Westfalen Schiene des WDR pflegt. Und dann fährt ein Auto mitten in der Altstadt in die Menge. Absichtlich. Das Leben geht weiter. Wie man an Ernie, Bert und den anderen aus der Tatort-Muppet-Show sieht. Nee, schon klar. Wir wissen, dass Ernie und Bert aus der Sesamstraße sind. Aber in der gibt es nicht die zwei Lästerer in der Loge, und das sind doch wir, die über Tatorte schreiben.

7/10

Vor der Premiere

Im Jahr 2018 gab es nur einen einzigen neuen Münster-Tatort und rein numerisch war dies beinahe der alleinige Grund, warum die Quoten gefallen waren. Wären, wie üblich, drei Münster-Tatorte erschienen, hätte es mindestens sechs Millionen mehr Premierenzuschauer gegeben, der Schnitt hätte dann bei über 8,8 Millionen gelegen. Denn Münster liegt in der Regel bei über zwölf Millionen.

Aber mit dem Schweiz-Tatort „Die Musik stirbt zuletzt“ und „Tschiller – off Duty“ zwei Quasi-Totalausfälle mit Quoten um fünf Millionen Zuschauer, das hätte Münster wohl nur knapp auffangen können. Der Hype 2014, 2015, den man in der folgenden Tabelle sieht, kam allerdings auch dadurch zustande, dass die die ersten Tschiller-Tatorte so viele Interessierte anzogen, dass Münster zwischenzeitlich die Spitzenposition abgeben musste.

2010 8,49 Millionen
2011 8,46 Millionen
2012 8,93 Millionen
2013 9,39 Millionen
2014 9,56 Millionen
2015 9,52 Millionen
2016 9,02 Millionen
2017 8,91 Millionen
2018 8,65 Millionen

Allerdings ist die Tendenz, Münster hin oder her, seit 2016 rückläufig. Auf hohem Niveau, denn durch neue Teams und innovative, interessante Filme eroberte sich die Serie von Beginn bis Mitte der 2010er ihren Kultstatus zurück, den sie zuvor ein wenig verloren hatte. Es war Zufall, dass wir 2011 mit dem Rezensieren von Tatorten begannen und seitdem bis auf eine Ausnahme alle Premieren direkt mit einer Kritik versehen haben, aber es passte gut in diese Zeit des Auftriebs und des Aufbruchs, entsprechend groß war damals die Resonanz.

Mit Münster hatten wir allerdings von Beginn an zu kämpfen, denn wir rezensierten auch „rückwärts“, also ältere Tatorte, um eine Anthologie aufzubauen. 460 Kritiken waren geschrieben, als der „erste Wahlberliner“ Ende 2016 geschlossen wurde – nach neun Monaten sehen wir beim neuen Wahlberliner bereits bei 248 Beiträge der TatortAnthologie, die jetzt den Hauptbestand des Features „Crimetime“ bildet – darunter viele fast unveränderte Wiederveröffentlichungen.

Warum aber der Kampf? Weil die Münster-Schiene schon 2011 dazu tendierte, vom Erbe ihrer Vergangenheit zu leben. Wir stellten rasch fest, dass die Filme der ersten Jahre auch die besten waren, seitdem ist die Qualität eher untermittelplusgut. Man verlässt sich einfach zu sehr auf das tolle Team und macht es dadurch zu sehr zu einer Komikertruppe, dass man hinter die vielen Gags keine guten Fälle stellt, was ja immerhin möglich wäre. Wenn dann auch noch die Qualität der Witze oder Sketche abfällt, wird’s schwierig. Die Kombination aus magerem Fall und auserzählten Gags gab es in den letzten Jahren mehrfach. Nicht aber in „Schlangengrube„, dem einzigen Münster-Tatort 2018. Den haben wir mit 8/10 bewertet – da passte doch wieder einiges zusammen.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Playlist

Titel Komponist Interpret
Blue Haways Paolo Conte Paolo Conte

Die übrige Filmmusik wurde eigens für den Tatort von Andreas Schäfer und Biber Gullatz komponiert und ist nicht im Handel erhältlich. Vor- und Abspannmusik stammt von Klaus Doldinger.

Frank Thiel Axel Prahl
Prof. Karl-Friedrich Boerne Jan Josef Liefers
Nadeshda Krusenstern Friederike Kempter
Silke Haller „Alberich“ ChrisTine Urspruch
Staatsanwältin Klemm Mechthild Großmann
Herbert Thiel Claus D. Clausnitzer
Sascha Kröger Arnd Klawitter
Birgit Brückner Kathrin Angerer
Karl Jens Kipper
Linda Nolte Manuela Alphons
Paul Nolte Wolf Aniol
Markus Timoschek Ronald Kukulies
Fritz Mertens Wolfgang Packhäuser
Mirko Schrader Björn Meyer
Mirja Lange Regine Schroeder
Musik: Biber Gullatz
Anreas Schäfer
Kamera: Hanno Lentz
Buch: Benjamin Hessler
Regie: Matthias Tiefenbacher

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