Der große Schmerz – Tatort 969 / Crimetime 288 // #Tatort #HH #Hamburg #Tschiller #Schweiger #Schmerz #Schmerlassnach

Titelfoto © NDR, Gordon Timpen

Schmerzhafte Analysen

Das erste Mega-Event des Jahres 2016 ist gelaufen. Und das gleich nach der Mega-Silvesterparty, der größten aller bisherigen Zeiten. Es kann sich nur um den dritten Tschiller-Tatort gehandelt haben.

Der vierte kommt schon morgen, Sonntag, den 03.01.2016, 20:15, auf dem gewohnten Sendeplatz. Und nächste Woche gibt’s einen Schwarzwaldfilm. Über Abwechslung kann man sich der erfreute Tatortseher nicht beklagen. Auch nicht darüber, dass die Sendefolgen immer atemloser werden, genau wie viele Filme der Reihe.

Nachdem wir uns in der Vorschau zu „Der große Schmerz“ ein wenig ironisch mit der Situation befasst haben, müssen wir jetzt ernsthaft in die Analyse ansteigen. Was ist es, was die Leute so an den Tschiller-Filmen stören könnte, denen sie doch andererseits hohe Quoten schenken? Und können wir bei einem Film dieser Art überhaupt die Elemente herausfiltern, die unser Urteil bilden, ohne selbst wie Klischee-Onkels daherzukommen? Wir versuchen Antworten zu geben in der -> Rezension.

Handlung

Seit drei Jahren kämpft Nick Tschiller (Til Schweiger) gemeinsam mit seinem Kollegen Yalcin Gümer (Fahri Yardim) und einem LKA-Team unerbittlich gegen einen kriminellen Hamburger Clan, den Firat Astan (Erdal Yildiz) aus dem Gefängnis heraus leitet. Noch immer hat der Clan-Chef Kopfgeld auf Nick ausgesetzt und versucht, seine Familie zu zerstören. Nick hat seine geliebte Tochter Lenny (Luna Schweiger) deswegen auf ein Internat geschickt und versucht, sich zu ändern. Er will ein verlässlicher Partner für Yalcin und ein fürsorglicher Familienvater für Lenny und seine Exfrau Isabella (Stefanie Stappenbeck) sein.

Doch das ist die Ruhe vor dem Sturm. Denn Firat Astan plant aus dem Gefängnis heraus den ganz großen Coup, mit dem er die Hansestadt in ihren Grundfesten erschüttern will. Als Hamburgs neuer Innensenator Revenbrook (Arnd Klawitter) davon Wind bekommt, will er den gefürchteten Gangster in ein Gefängnis nach Bayern verlegen und ihn so endgültig kaltstellen. Niemand ahnt, dass Astan die russische Auftragskillerin Leyla (Helene Fischer) auf Tschiller angesetzt hat.

Als Nick und Isabella ihre pubertierende Tochter während der großen Ferien aus der Wohnung ihres Freundes abholen wollen, schlägt Leyla zu. Nick und Isabella werden mit einem Schreckensszenario konfrontiert: Der Freund ihrer Tochter liegt tot auf dem Bett und Lenny hockt völlig verschreckt in einer Zimmerecke. Das ist alles, was Nick sieht, bevor er ausgeknockt wird. Als er wieder zu sich kommt, sind Frau und Tochter verschwunden. Ein Anruf bestätigt seine schlimmsten Befürchtungen. Ein russischer Hilfstrupp von Firat Astan hat die beiden Frauen in seiner Gewalt. Und Astan fordert ultimativ von Nick, ihm bei seiner Befreiung aus dem Gefängnis zu helfen, sonst würden Lenny und Isabella sterben. Für Nick beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Ohne Unterstützung von Yalcin Gümer und seinen Kollegen geht er durch ein Fegefeuer der Gefühle, im Kampf für seine Familie, im Kampf für Hamburg, im Kampf gegen Firat Astan und seine Komplizin Leyla – und im Kampf gegen sich selbst.  

Rezension

Weshalb man den Film von seinem ursprünglichen Sendeplatz im November geholt und auf das prominente Neujahrsdatum versetzt hat, aus Pietät wegen der Terroropfer von Paris (13.11.2015), das erschließt sich uns nicht. Es wird zwar hier, wie immer in den Tschiller-Filmen, viel geballert, aber einen Terroranschlag haben wir bisher nicht gesehen. Vielleicht im zweiten Teil „Fegefeuer“? Die offizielle Inhaltsangabe der ARD, die wir hier wiedergegeben haben, wurde für beide Filme geschrieben und enthält nur das Ausgangsszenario des ersten.

Aber dass „Fegefeuer“ noch einmal mächtig aufdrehen wird, ist nach dem ersten Teil wohl klar, denn Tschiller hat nun auch ein persönliches Rachemotiv. Das stammt aus Firat Astans Überlegung, dass doppelt genäht besser hält und ein gewisser Schwund immer zu beachten ist. Wir beachten eine saubere Vorgehensweise bei der Analyse, daher Punkt für Punkt:

  • Die Figuren in den Tschiller-Tatorten sind grundsätzlich nicht so schlecht. Wieso sollte es nicht einen Firat Astan (oder Aslan) in der Realität geben?
    • Alle Großstadbewohner wissen, dass der Untergrund von einigen großen Clans regiert wird. Und sie ein wenig reißerischer darzustellen oder martialischer, als sie im Alltag wirken, das ist Kino. Im Alltag wirken sie aber auch, denn diese brutalen Minen und einige Details ihres Verhaltens, die können sie nicht verstecken. Nur, wer behelligt sie? Ein Team wie Tschiller und Gümer? Den Gümer mögen wir, daran führt nichts vorbei, denn auch solche Polizisten gibt es mittlerweile, die keine Rücksicht auf ihre eigenen Ethnien nehmen, wenn sie sich entschieden haben, zu den Guten zu gehören. Die nicht bestechlich oder sonst zu Diensten sind. Es gibt möglicherweise auch Informanten, die durch persönliche Verbindungen zum legalen System diese, wie wir in „Der große Schmerz“ sehen, hoch riskante Tätigkeit ausüben, sich in der OK ein wenig umzuhören. Dem legalen System scheint dies allerdings nicht zu nutzen.
    • Aber gibt es Typen wie Nick Tschiller? Eben nicht, und das ist das Problem. Seine Alleingänge sind natürlich auch ein Problem, aber sie suggerieren eine falsche Welt. Nämlich die, dass tatsächlich jemand allein tiefe Schneisen in die Unterwelt hinterlassen kann. Diesen Schwachsinn kennen wir aus den USA, und dort ist das Handlungskonzept entlehnt worden. Es ist antidemokratisch, es verdummt die Zuschauer und es befriedigt niedere Instinkte, es suggeriert eine Machbarkeit, die jenseits aller Vorstellungen ist. Aber wir leben im Zeitalter des politischen Machbarkeitswahns, warum also nicht entsprechende Filme machen, wo das doch im Mutterland des Actionkinos schon so gut funktioniert und wo ständig Schüler losziehen, um Mitschülern und Lehrern das Hirn rauszuballern. Ebenso kennzeichnend: Dass alle Figuren außer dem Rächer-Cop und natürlich seinem Gegner mehr oder weniger Normalformat haben. Allerdings tut man sich dort, wo das Kino zuhause ist, leichter damit, selbst solche Rächerfiguren noch irgendwie sympathisch wirken zu lassen. Das ist eine große Kunst, wenn man bedenkt, wie sie sich verhalten und wie abstoßend im Grunde alles ist, für was sie stehen. Allerdings: dieser Beurteilung liegt ein zivilisatorischer Ansatz zugrunde, kein vorzivilisatorischer.
  • Gewalt schafft große Löcher. Plot-Löcher nämlich. Es gibt nämlich leider einen Unterschied zwischen einer gut gemachten Gewaltorgie made in the U.S. und einem Tschiller-Film. Deutsche Drehbuchautoren haben es nicht drauf, diese Gewaltorgien zu einer vernünftigen Handlung zusammenzuschustern. Deshalb gibt es in „Der große Schmerz“ so große Idioten-Momente, dass man sich fragen muss, ob der NDR, der die Tschiller-Tatorte zu verantworten hat, mittlerweile seine Zuschauer für Vollidioten hält und denkt: Hauptsache die Quote stimmt. So können die Privaten denken, wegen der Gelder für die Werbe-Einblendungen. Aber ein öffentlichrechtlicher Sender hat auch eine Qualitätsauftrag, und den schießt er NDR hier in den Wind. Vielleicht hat sich Til Schweiger auch ausbedungen, dass seine Drehbücher gar nicht erst kontrolliert werden, für unwahrscheinlich halten wir das nicht. Es ist beinahe schon so lächerlich wie die Handlung selbst, einige Punkte herauszugreifen und sich die Mühe zu machen, dem Chaos noch etwas wie biedere Vernunft entgegenzusetzen, aber warum soll ein Tschiller-Tatort nur für die Hauptfigur ein Leidensweg sein? Zwei wichtige Beispiele:
    • Wenn wir eine Killerin dingfest machen würden, wie der nette Herr Gümer, würden wir uns auch mit ihr auf ne Schaukel setzen, uns nett mit ihr unterhalten und sie dann allein dort sitzen lassen. Wir würden auch nicht darüber nachdenken, warum sie gerade einen ihrer eigenen Leute erschossen hat. Warum? Weil wir nicht wirklich auf der Polizeischule waren. Warum sie einen der eigenen Leute erschossen hat, erklärt sich übrigens ausnahmsweise ganz gut, es wird ca. 70 Minuten später nachgeschoben. Hätte man sich anfangs nicht so grunddämlich verhalten, hätte der ganze Entführungsplot nicht stattfinden können.
    • Der Ablauf der Action auf dem russischen Schiff strotzt vor Unwahrscheinlichkeiten bis Unmöglichkeiten (einhändiges Abfeuern schwerer Schnellfeuerwaffen, mehr Schüsse aus einer Waffe abgeben, als drin sein können, die offenbar absichtliche Gefährdung, die Tschiller durch seinen exzessiven Schusswechsel seinen Angehörigen angedeihen lässt, die Art und Weise, wie Frau und Tochter sich innerhalb des Schiffes selbstständig machen und im Anschluss verhalten, das ist handlungstechnisch alles unterste Schublade. Auch wie sich Leila dann erschießen lässt, das sieht so schrecklich unprofessionell aus. Und das können die Amis eben in dem Maß besser, dass es nicht ganz so verschoben wirkt. Vielleicht sollte man sich, wenn man schon so einen Aufwand für einen Tatort treibt, doch einen US-Drehbuchautor verpflichten, der schon gezeigt hat, dass er solche rasanten Handlungsverläufe beherrscht.
  • Nun aber eine Frage an uns selbst. Stimmt das wirklich? US-Actionstreifen sind oft ebenso hanebüchen konstruiert, und zwar traditionell und vom ersten Rambo-Film an. Sie gehen immer von der Voraussetzung aus, dass sich  unzählige Menschen von einem wildgewordenen Typ bereitwillig abschießen lassen. Noch einmal: Kein Wunder, dass in den USA die Mordrate so hoch ist. Zum Wahn gehört aber auch, dass die Macher des HH-Tatorts die Waffengeilheit, die dort herrscht, im Alleingang vor allem bei jüngeren deutschen Zuschauern etablieren wollen, also bei denen, bei denen nicht Computerspiele schon für eine gewisse Verrohung gesorgt haben.
    • Was man sich auch aus den USA abgeschaut hat: Dass sich ein Cop vollkommen aus dem System ausklinkt, um sein eigenes Ding zu machen. Irgendwie hat sich aus dem Mann allein im Großstadtdschungel ein Mythos herausgebildet, der wiederum dem Western entlehnt ist und der darauf fußt, dass es keine Ordnung, kein Recht und Gesetz in einer Stadt gibt. Ganz sicher war das z. B. in New York oder Chicago so, in den 1920ern oder in den 1970ern, aber auch dort hätte es Konsequenzen gehabt, wenn Polizisten sich so verhalten hätten, wie einige es im Film taten. Deswegen ist es auch eine gute Idee, nicht Polizisten, sondern private Ermittler als Hauptfiguren zu verwenden. Aber dass das übrige System korrupt ist und deshalb einen, der ausschert, bremsen muss, wird in den Tschiller-Tatorten nicht thematisiert. Wenn da noch ein Funke von Anstand gegenüber dem Zuschauer bewahrt werden soll, wird er sowieso nach dem vierten Film suspendiert. Denn dass nach allem, was geschehen ist, eine Dienststelle einen Ermittler behält, ist noch lächerlicher als alles, was wir schon gesehen haben.

Fazit

Was bleibt? Wir haben nicht alle Aspekte des Films ausgeleuchtet und wollen auch nicht zu sehr in die Psychologie einsteigen, die dafür sorgt, dass solche Machwerke auf deutsche Bildschime gelangen, oder vielmehr, dass sie hierzulande sogar produziert werden. Dass wir alles kaufen, was in den USA ausgestoßen wird, wird ja schon nicht mehr hinterfragt. Die grundsätzliche Frage, ob Platz ist für eine solche Schiene, wie sie der NDR mit den HH-Tschiller-Tatorten im Moment bietet, versuchen wir nach drei Filmen aber zu beantworten. Die Antwort ist nein. Nicht, wenn alles so bleibt, wie es dort gezeigt wird. Andere haben sich auch schon viele Bodycounts geleistet, wir denken an „Kein Entkommen“ aus Wien oder „Im Schmerz geboren“ mit Murot. Aber diese Filme hatten etwas Eigenes, etwas, das sie stimmig und natürlich auch parodistisch wirken ließ.

Genau an diesem parodistischen Einschlag fehlt es aber, der uns doch immerhin sagen will, das alles ist nicht so ernst gemeint und lässt die Actionfilme, die sich ernst nehmen, etwas blöd aussehen. Und Tschiller nimmt sich ernst, das ist sein Problem. Uns hat beim Zuschauen die ganze Gewalt nichts ausgemacht, weil wir das nicht getan haben. Das heißt aber auch, wir finden das Ganze einfach nur hohl und Ausdruck megaschlechten Geschmacks. Selbstverständlich schreiben wir von unserer persönlichen Warte aus, und persönlich müssen wir diese Tatort-Schiene nicht haben. Wir sind nicht die Anwälte von Leuten, die ins Tatortformat alles inkludieren wollen, was irgendwie mit Verbrechen zu tun hat und mit Polizei.

Wo sich ein Urteil ergibt und wo sich damit eine Tür schließt, ist aber immer ein Fensterchen: Würde man dem Team vernünftige Drehbücher schreiben, dann könnten wir sehen, wie es um Schweigers Schauspielfähigkeiten im Krimifach wirklich bestellt ist. Das müsste Schweiger aber erst zulassen, denn er ist ja persönlich für die Ausrichtung seiner Tatorte verantwortlich – ebenfalls ein Sonderfall, den es auffälligerweise beim NDR noch einmal gibt und der eine Hauptfigur in den Mittelpunkt stellt, die alles andere als das modern-weibliche Erfolgsmodell ist, das man bei oberflächlicher Betrachtung gerne in sie hineinlegt.

Wir werden selbstverständlich weiterhin über Tschiller-Tatorte schreiben, Vollständigkeit ist nicht relativ. Aber die Bewertungen fallen dann eben auch entsprechend aus. Weil es doch einige Momente in diesem Film gab, die im Kontext nicht überzeugen, aber für sich genommen ganz gut waren.

5/10

© 2019, 2016 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kommissar Nick Tschiller – Til Schweiger
Kommissar Yalcin Gümer – Fahri Yardim
Aleksej Brotzki – Sascha Reimann
Constantin Revenbrook – Arnd Klawitter
Firat Astan – Erdal Yildiz
Hanna Lennerz – Edita Malovcic
Holger Petretti – Tim Wilde
Ines Kallwey – Britta Hammelstein
Isabella Schoppenroth – Stefanie Stappenbeck
Lenny Tschiller – Luna Schweiger
Leyla – Helene Fischer

Drehbuch – Christoph Darnstädt
Regie – Christian Alvart
Kamera – Jakub Bejnarowicz
Musik – Martin Todsharow


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