Vergeltung? – Polizeiruf 110 Fall 63 / Crimetime 337 / #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Hübner #Fuchs #Arndt #Woltersdorf #Rügen #Sassnitz #Identitätswechsel

Crimetime 337 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD

Rüber und nüber machen verlangt sowieso eine Revision der Identität

In der Wikipedia steht, dass nur in diesem Film alle vier Ermittler_innen zusammen aufgetreten seien. Das stimmt, sofern es Arndt, Fuchs, Hübner und den damals als Nachfolger von Subras eingesetzten Woltersdorf betrifft, aber in „Per Anhalter“ sind alle vier von der Kripo aufgetreten, die das erste Team bildeten. Auf jeden Falls ist der Einsatz aller vier ein Indiz dafür, dass man einen aufwendigen Film machen wollte, dass man etwas vorhatte. Dafür steht „Vergeltung?“ in mehr als nur einer Hinsicht und darüber schreiben wir in der -> Rezension.

Handlung (Wikipedia)

Nach 17 Jahren Haft wegen Raubmordes wird Eberhard Gantzer aus dem Gefängnis entlassen. Er zieht bei seiner Freundin Ilse Lanning ein und macht nach längerer Suche seinen damaligen Komplizen ausfindig, dem die Flucht gelungen war. Er fordert von ihm Geld, jedoch nicht zum Eigenbedarf. Er soll so lange zahlen, bis er sich freiwillig der Polizei stellt. Da Ilse von Eberhards Tun genug hat, wirft sie ihn raus. Er zieht in ein Hotel, wo er wenig später tot aufgefunden wird. Hauptmann Peter Fuchs und Leutnant Woltersdorf übernehmen die Ermittlungen.

Oberleutnant Jürgen Hübner und Leutnant Vera Arndt bearbeiten unterdessen einen anderen Fall. Nach einem Theaterbesuch meldet Dietmar Söhnl, dass sein Wagen gestohlen wurde. Mit dem Wagen, so stellen die Ermittler wenig später fest, wurde am Abend ein Fußgänger angefahren und schwer verletzt, während der Täter Fahrerflucht beging. Da es am Tatabend regnete, können die Ermittler keine Spuren feststellen. Dietmars Vater Gunter reagiert gereizt und wirft Dietmar vor, den Wagen nicht abgeschlossen zu haben. Gunter hat für die Tatzeit zwar kein Alibi, lässt jedoch seinen Freund Richard Ahrend aussagen, dass er während der Zeit bei ihm war. Der PGH-Vorsitzende ist mit Gunter in kleinere Betrügereien verwickelt, die auffallen könnten, wenn Gunters Leben näher untersucht würde.

Im Fall des toten Eberhard Gantzer rekonstruieren die Ermittler, dass ein anderer Mensch im Zimmer gewesen sein muss. Von Ilse erfahren sie, dass Eberhard von seinem damaligen Mittäter Geld erpresst hat. Den Namen des anderen Mannes kennt sie nicht, doch geben die Ermittlungsakten von damals seinen Namen als Georg Schlauf an. Der sei 1960 in die Bundesrepublik Deutschland gegangen. Der Akte liegt ein Foto aus der Zeit bei.

Beide Ermittlerteams kommen in ihren Fällen nicht weiter. In einer ruhigen Minute lassen Jürgen Hübner und Peter Fuchs den jeweils anderen in ihre Arbeitsakte sehen. Sie finden erstaunliche Parallelen: Georg Schlauf und Gunter Söhnl haben die gleichen Geburtsdaten, auch wenn die Geburtsorte unterschiedlich sind. Während Georg 1960 in die Bundesrepublik ging, kam der in Kassel geborene Gunter Söhnl 1961 in die DDR. Die Ermittler ahnen, dass Georg Schlauf und Gunter Söhnl dieselbe Person sind. Gunter wird festgenommen, wobei er sich mit ganzer Kraft wehrt, und verhört. Er bestreitet, Georg Schlauf zu sein, doch stellt sich heraus, dass es in der Bundesrepublik tatsächlich einen Gunter Söhnl gibt, jedoch mit anderem Geburtsdatum als das, was der vermeintliche Gunter bei der Vernehmung angibt. Da er jedoch auf Peter Fuchs’ Nachfrage eine tatsächliche Wohnadresse Söhnls als seine letzte im Westen angibt, hat er sich verraten. Ein früherer Arbeitskollege identifiziert Söhnl anhand einer charakteristischen Narbe als Schlauf. Schlauf wird verhaftet und verfällt in Depressionen, da er 18 Jahre unter falscher Identität gelebt hat und diese nun auch psychisch ablegen muss. Schlaufs Familie – seine Frau und zwei Kinder – sind ebenfalls erschüttert, weil sie ihre gesamte Familie einschließlich Namen nun infrage stellen müssen.

Rezension

Später, als Regisseur Peter Vogel zwei Ehrlicher-Tatorte inszenierte, war es nicht mehr so deutlich zu bemerken, aber der MDR war zu jener Zeit nun mal ein besonders konservativer Sender innerhalb der ARD, während das Fernsehen der DDR mit seinen Polizeirufen immer wieder mal versuchte, neue Akzente zu setzen und Fälle zu inszenineren, die nicht routinemäßig wirken. Zu den Filmen aus dem ersten Jahrzehnt der reihe, die wir bisher gesehen haben, die herausstechen, zählen wir unter anderem den schon ewähnten „Per Anhalter“ und „Heiße Münzen“. Auch „Vergeltung?“ ist besonderer Film, nicht nur wegen des Fragezeichens im Titel und der vier Ermittler – dieses Ermitteln an verschiedenen Fällen, die aber zusammengehören, ist auch nicht neu, sondern kommt in Polizeirufen häufig vor.

Mittlerweile ist der Ex-Oberleutnant Fuchs Hauptmann geworden und damit auch formal der Chef im Ring, welcher er bisher schon war, wenn er mit  Hübner zusammenarbeitete. Dieses Mal erschließt sich auch sofort, warum das so ist: Peter Borgelt spielt den Hauptmann mit einer Entschlossenheit, gegen die Jürgen Frohrieps eher zurückhaltende Interpretation von Hübner nicht ankommt. Letzterer darf sich sogar eine anstecken, damit man merkt, dass er nicht ganz so strikt ist und vielleicht   einen inneren Konflikt aus der Subordination gegenüber Fuchs bezieht. Eine Sonderrolle nimmt eigentlich immer Leutnant Arndt ein. Sie ist nicht nur attraktiv, sondern man spürt auch, dass sie taffer ist, als sie sein darf und hat eine Szene, in der sie durch Lauschen ermittelt. Durch Lauschen ermitteln ist immer dann super, wenn man technisch nicht weiterkommt.

Das sehr gepackte Drehbuch, das in 78 Minuten durchlaufen muss, bietet viele Möglichkeiten, stecken zu bleiben, aber offenbar ist die Romanvorlage kapabel bzw. man hat sie gut umgesetzt. Auffällig sind die vor allem in der ersten Hälfte sehr guten Dialoge, die weitaus flüssiger und psychologisch stimmiger wirken, als wir das bei vielen bisherigen Polizeiruf-Folgen der DDR-Zeit gesehen haben. Nicht, dass die Mehrzahl der Filme diesbezüglich Kopfschütteln hervorrufen würde, aber hier ist die Literarizität höher und man fühlt sich trotz der komplexen Handlung als Zuschauer gut aufgehoben. Allerdings auch wegen eines simplen Kniffs, der heutzutage verpönt ist: An durchaus passender Stelle wird nicht per talking  ead, sondern per Rückblende entblättert, was geschah und werden fehlende Puzzlestücke in das Bild eingefügt, das Zuschauende von dem einen Fall, der letztendlich zu bearbeiten ist, erhalten sollen. Obwohl die vielen Zeitebenen und Stränge des Films nicht optisch voneinander abgesetzt werden, wirkt alles kohärent und man verirrt sich nicht. Die heutige Methode, schwache Drehbücher mit viel visuellem und akustischem Brimborium zu übertünchen, hat „Vergeltung?“ nicht nötig. Obwohl er in diesem Bereich viel zeigt.

Okay, diese rasche Schnitt-Gegenschnitt-Folge im Hotelzimmer wirkt etwas übertrieben, aber sonst sind die visuellen Reize des 63. Polizeirufs höher als in jenen Jahren bei fast allen Tatorten, ebenso registriert man eine sehr variantenreiche und pointiert eingesetzte Musik, oft jazzig, aber manchmal auch sehr den Thrill oder die Gefahr oder das Schräge einer Situation untermalend, ein bisschen was vom westdeutschen Starkomponisten Peter Thomas, der auch mit Stilrichtungen souverän spielen konnte, steckt da drin. Diese Untermalung wirkt ebenso mutig und dezidiert wie die Optik und beides schafft viel Atmosphäre – die wird außerdem an- und abgestellt und verändert, wie es gerade gebraucht wird, zieht sich also nicht als trauriger oder elegischer Unterton durch den ganzen Film, wie etwa die Jazz-Scores von Markowitz‘ Berlin-Tatorten.

Ein weiteres Plus von „Vergeltung?“ sind die Figuren. Das Personal von der Polizei kann viel zeigen, wirkt nicht so zurückgenommen wie in manch anderem Film der Reihe, aber auch Uwe Zerbe und Raimar Bauer als Gantzer und Söhnl liefern prägnante Vorstellungen von zwei Männern, die mal zusammen ein ganz böses Ding gedreht haben und ganz unterschiedlich dabei rauskamen. Dabei flicht man Motive wie Gerechtigkeit vs. Rache und auch die Zweistaatlichkeit Deutschlands ein. Das Ganze ist zwar sehr dicht, aber nie unglaubwürdig. Dass Menschen viele Jahre lang ihre Identität verbergen können, ist fraglos möglich. In den USA leben viele Krimis genau davon, dass Männer, fas immer Männer, irgendwo neu anfangen. In Deutschland geht das nicht so leicht, aber wenn man erstmal die Grenze gewechselt hat, hat man auch den ersten Schritt getan. Nebenbei wird erzählt, dass es durchaus Menschen gab, die freiwillig von West nach Ost gewechselt sind – nicht. Denn hinter Schlauf, wie Söhnl wirklich heißt, war die westdeutsche Staatsanwaltschaft her, weil der Mann für seine Kinder keinen Unterhalt leisten wollte. Im Osten empfindet er es dann als Einschränkung, dass er immer treu sein musste, sich nie Gesetzesübertretungen leisten konnte, weil sonst seine wahre Identität vielleicht doch aufgeflogen wäre. Der andere hingegen konnte sich im Gefängnis zu einem Mann entwickeln, der die Gerechtigkeit sucht und nicht vorsichtig sein muss. Denkt er jedenfalls und rechnet nicht damit, dass der andere ihn so verletzen könnte, dass er stirbt.

Ein weiteres Merkmal, das dem Film zugute kommt: Es wird bei den Verbrechen nicht so übervorsichtig agiert wie in vielen Polizeirufen der DDR-Ära. Es geht um Raubmord, um Fahrerflucht nach schwerer Körperverletzung, um eine Körperverletzung mit Todesfolge, vielleicht war es aber auch Totschlag, man sieht das nicht so genau. Es geht auch darum, ob eine Erpressung vorliegt oder nicht. Tatbestandlich wohl, aber das Motiv ist, den Erpressten zum Sich-Stellen zu zwingen, nicht eine Bereicherungsabsicht. Selbstverständlich geht diese Justizerzwingung gar nicht und wenn der Film Fragezeichen zurücklässt, dann wohl dadurch, dass Gantzer nach 17 Jahren Gefängnis den Ex-Kumpan auf eine so komplizierte und nicht ungefährliche Weise in die Arme der Polizei treiben will, anstatt ihr einfach zu erzählen, wie es wirklich war.

Er hat ganz schön lang gebraucht, um herauszubekommen, dass Schlauf mittlerweile als Söhnl firmiert und sich eine komplette neue Familie aufgebaut hat und einen guten  Job. Auch sein Job ist interessant. Einerseits ein ehrgeiziger, guter Mann, andererseits immer ein bisschen am Schieben, um noch besser dazustehen. Nach einigen Fällen, in denen man sich in Betrieben gegenseitig informell aushilft, kommen wir langsam zu der Ansicht, dass die strikte Planwirtschaft kaum etwas anderes zuließ, wenn man nicht – sic! – hinter den Plan zurückfallen und Material-Engpässe ausgleichen wollte. Manche haben diese Sachhilfe auf Gegenseitigkeit später als besseren sozialen Zusammenhalt im Vergleich mit dem Westen missinterpretiert, ebenso wie der Improvisationszwang herhalten musste, um daraus eine überlegene Praxistauglichkeit oder gar eine besonders findige, allen Stürmen gewachsene Überlebensstrategie herzuleiten. Wenn Austauschsystem freiwillig in einer Welt der Fülle, also ideologisch begründet, installiert werden, ist das eine andere Sache.

Sehr interessant ist, dass das chronologische Ende, nämlich, wie Schmaus in der Psychiatrie sitzt, vorgezogen wird und am Schluss eine Bewertung seiner Person stattfindet, als die versammelten Ermittler_innen ihn doch drankriegen, die eher traditionell-unempathisch ist. Vielleicht war es so leichter, durch die Zensur zu kommen, vielleicht ist es ein Trick, der uns zum Nachdenken bringen soll – wie das so ist, mit einem fremden Leben, das man angenommen hat und dessen konsequente  Durchführung ständige Anspannung verursacht. Wir erinnern uns: Die harte Reaktion von Söhnl / Schmaus zu Beginn seinem Sohn gegenüber, als der Wartburg geklaut wird. Jederzeit kann etwas geschehen, was zu Überprüfung und damit zur Aufdeckung führen könnte, auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist. In Wirklichkeit hat Söhnl den Wagen selbst gesteuert. Die Referenz an frühere Erziehungsmethoden seinem Sohn gegenüber dürfen wir auch nicht vergessen: Es war nicht besser, wenn man sieht, was dabei an krimineller Energie entstand.

Finale

Das Setting auf Rügen, die relative Gediegenheit der Dekors, das hilft natürlich alles, um den Film hochwertig wirken zu lassen, man wird nicht so augenfällig auf etwas schäbigere Tatbestände gestoßen. Dass der Täter mal wieder kein DDR-Produkt als Auto fährt, würde sich ganz gut in eine Reihe von anderen, die immer was Besseres sein wollen, einfügen, es kann aber auch eine verdeckte Kritik am System sein: Denn auch Polizist Woltersdorf benutzt, um nach Suhl, in den Süden der Republik, zu gelangen, lieber einen bequemeren und schnelleren Lada als einen Wartburg, wie ihn z. B. die Oberleutnants / Hauptleute etatmäßig und als Kombimodell steuern.

„Vergeltung?“ ist von wohltuender Zurückhaltung bezüglich der Ideologie, er kommentiert nicht durch Belehrungen von irgendeiner Seite, sondern zeigt, dass Vergeltung sich gerne mal als Suche nach Gerechtigkeit tarnt, und das ist keine systemtypische Story. Wir wissen nicht, was uns an Überraschungen aus den ersten Polizeiruf-Jahrzehnten noch erwartete (bei den neueren Filmen gibt es so große Ähnlichkeiten mit den Tatorten, dass man zumindest die qualitativen Ober- und Untergrenzen in etwa kennt), daher ziehen wir punktemäßig noch nicht ganz nach oben, aber die heutige Wertung wäre auch für einen Tatort eine der höchsten bisher vergebenen für eine Produktion aus den 1970ern.

8,5/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke 

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