Crimetime 385 - Titelbild © NDR, Christine Schröder
Inside Charlotte L.
Die Handlung in einem Satz ohne Auflösung: KHK LKA Hannover Charlotte Lindholm baut des Nächtens weitab von Hannover einen Unfall und an der Stelle ist logischerweise Dorf, also entlässt sie sich selbst aus dem Krankenhaus und ermittelt und kommt richtig in Fahrt, als es nicht nur den Verdacht auf eine Leiche, sondern endlich den ersten sicheren Mord, dann den zweiten, dann den dritten gibt und am Schluss muss ihr kleiner Sohn den vierten mitansehen.
Was sich hoffentlich auf seine Psyche nicht so auswirkt, dass er wird wie gewisse Menschen, über die wir in der -> Rezension schreiben werden.
Über diesen Tatort kann man nur den Mantel des Schweigens breiten oder so viel darüber schreiben, dass klar ist, wie es zu dieser Ansicht kam. Über schlechte Krimis lässt sich intensiver referieren, als wenn man das Fazit in einen Satz fassen kann: „Glatte Eins!“ Insbesondere im Rahmen der TatortAnthologie zwingen nicht selten die besonders schwachen Momente, Personendarstellungen und Handlungen zu längeren Ausführungen, weil man auch den Fans einer bestimmten Tatort-Schiene, und von Charlotte Lindholm gibt es eine Menge davon, sonst hätten ihre Fälle nicht so hohe Einschaltquoten, begründen muss, warum man diese Ansichten vertritt.
„Vergessene Erinnerung“ ist beinahe die Apotheose aller schlechten Eigenschaften, die Lindholm-Tatorte manchmal einzeln, manchmal summarisch, aber selten so konzentriert vereint aufweisen wie im Tatort Nr. 755. Ein vollkommen überdrehtes Drehbuch, eine vollkommen abgedrehte Kommissarin, eine vollkommen vertrottelte Dorfbevölkerung, die sich wirklich alles gefallen lässt und das sich immer mehr zur Gewissheit verdichtende Gefühl, dass wir in unserer Rezension zu „Schwarzes Herz“ in allen wesentlichen Punkten richtig gelegen haben. 755 bestätigt 621 auf eine besonders eindrucksvolle und unangenehme Art. Daraus ergibt sich eine der längsten Kritiken, die bisher im Rahmen der TatortAnthologie des Wahlberliners entstanden sind.
Handlung, Besetzung, Stab
Charlotte Lindholm fährt durch die Nacht, als plötzlich auf der Straße vor ihr die Silhouette eines kleinen Jungen und der Schatten eines Mannes auftauchen. Charlotte weicht aus, knallt vor einen Baum und wird im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus wieder wach.
Der Junge, der unbekannte Mann, den sie glaubt angefahren zu haben, die Einstichstelle an ihrem Arm – Hirngespinste einer übermüdeten Polizistin oder Puzzleteile einer Verschwörung?
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fährt Charlotte zurück zu ihrem persönlichen „Tatort“, in den kleinen Ort Volsum. Dessen Bewohner erschrecken, als sie Charlotte Lindholm zum ersten Mal sehen: Offenbar ist sie einer Großbäuerin wie aus dem Gesicht geschnitten – der Frau, die mit ihrer Familie an der gleichen Stelle tödlich verunglückte, an der Charlotte den Unfall hatte.
Besetzung und Stab
Kommissarin
Charlotte Lindholm – Maria Furtwängler
Martin Felser – Ingo Naujoks
Charly Mommsen – Jonathan Dümcke
Berta Mommsen – Petra Kelling
Helga Mommsen – Margarita Broich
Holger Mommsen [Dorfpolizist] – Max Hopp
Petra Borgmann [Tierärztin] – Ute Willing
Horst Randers – Thomas Thieme
Tamma von Heuven – Idil Üner
Drehbuch –
Dirk Salomon, Thomas Wesskamp
Regie – Christiane Balthasar
Quelle Handlung, Besetzung, Stab: DAS ERSTE
Rezension
Über diesen Tatort kann man nur den Mantel des Schweigens breiten oder so viel darüber schreiben, dass klar ist, wie es es dazu kam, dass man erstere Option ins Auge gefasst hat.
Über schlechte Krimis lässt sich intensiver referieren, als wenn man das Fazit in einen Satz fassen kann: „Glatte Eins!“ Insbesondere im Rahmen der TatortAnthologie zwingen nicht selten die besonders schwachen Momente, Personendarstellungen und Handlungen zu längeren Ausführungen, weil man auch den Fans einer bestimmten Tatort-Schiene, und von Charlotte Lindholm gibt es eine Menge davon, sonst hätten ihre Fälle nicht so hohe Einschaltquoten, begründen muss, warum man diese Ansichten vertritt.
„Vergessene Erinnerung“ ist beinahe die Apotheose aller schlechten Eigenschaften, die Lindholm-Tatorte manchmal einzeln, manchmal summarisch, aber selten so konzentriert vereint aufweisen. Ein vollkommen überdrehtes Drehbuch, eine vollkommen freidrehende Kommissarin, eine vollkommen vertrottelte Dorfbevölkerung, die sich wirklich alles gefallen lässt und das sich immer mehr zur Gewissheit verdichtende Gefühl, dass wir in unserer Rezension zu „Schwarzes Herz“ in allen wesentlichen Punkten richtig gelegen haben. Nr. 755 bestätigt Nr. 621 auf eine besonders eindrucksvolle und unangenehme Art. Daraus ergibt sich eine der längsten Kritiken, die bisher im Rahmen der TatortAnthologie des Wahlberliners entstanden sind.
Wer gleitet so spät durch Nacht und Wind – es ist Charlotte, sie eilt geschwind. Ihrem nächsten Fall entgegen, auch wen sie’s erst einmal gar nicht weiß.
Mindestens vier ihrer Filme sind uns mit diesem beinahe deckungsgleichen Beginn im Gedächtnis, obwohl wir noch nicht alle Werke der Hannover-Schiene kennen. Mit „Lastrumer Mischung“, ihrem allerersten Tatort, fing es an (Rezension für den Wahlberliner noch nicht veröffentlicht). Auto + Panne oder Unfall + rein zufällig erlangte Kenntnis von einem Verbrechen oder etwas, das eines sein könnte + Eindringen in eine finstere, von ebenso sinisteren wie unterbelichteten Typen bewohnte Dorfwelt, + dementsprechend berechtigt arrogantes Verhalten gegenüber diesen Trotteln + keine Logik + aber dafür viele Zufälle und oft mehrere Morde, die für Drive sorgen und die perfekte Bühne für die Lindholm-Show darstellen.
Über den Tatortfaschismus der Hannover-Schiene mit der erzblonden Herrenmenschin Charlotte haben wir uns in der erwähnten Rezension zu „Schwarzes Herz“ (Der Name ist programmatisch für diejenigen, die einige Plots für Lindholm und vor allem die Lindholm-Figur selbst entworfen haben) ausführlich geäußert.
Heute sind weitere Aspekte dieser Figur publikationsreif. Oder eine weitere Sichtweise, wie man will. Man kann sie ohne Weiteres auch psychologisch deuten. Man darf dabei einbeziehen, dass Maria Furtwängler, die Lindholm-Darstellerin, massiv Einfluss auf die Gestaltung sowohl ihrer Figur wie auch der Handlungen nimmt, indem sie „Ideen“ vorlegt. Dass auch „Vergessene Erinnerung“ auf ein Motiv von ihr zurückgeht, haben wir nicht nachlesen können, aber es reicht ja, dass die Figur konsistent bleiben muss und damit ihr Fahrwasser nicht verlassen kann, auch wenn sich der eine oder andere Mitwirkende an den Hannover-Tatorten das vielleicht insgeheim wünscht (1).
Es kann den Machern neben den erwähnten und hoffentlich unbewussten Rückfälllen in die NS-Ideologie nicht entgangen sein, dass sie mit Lindholm einen pathologischen Charakter ins Rennen geschickt haben, der aber, im Gegensatz zu neueren männlichen Tatort-Ermittlern, die ähnlich schräg sind, weder fürs Publikum so ausgewiesen und schon gar nicht von den Hintergründen her schrittweise entblättert und ganz offen und ehrlich so dargestellt wird – wie Faber in Dortmund, Murot in Wiesbaden, Steier in Frankfurt. Der Mut zur Selbstschonungslosigkeit ist vielleicht eine neue Männerdomäne und das als Verbindungskriterium und als „Psycho ist das neue Macho“ in einer Rezension herauszuheben, ein Anflug von Galgenhumor.
Genau darin liegt aber in der Tat das Tückische. Lindholm wird als äußerst kompetente, hoch überlegene Polizistin dargestellt, an der sich anhängliche Kreaturen wie zum Beispiel der bedauernswerte Martin Felser hochziehen können (gut, dass Ingo Naujoks diese erschütternd diskriminierende Rolle los ist, das kann seiner Karriere nur gut tun). Sie hat das Recht, jeden nach Belieben zu behandeln und tut dies ausgiebig und in einer so verletzenden Art, dass man sich fragt, ob es auf dem Weg zu einer leitenden Ermittlerin auch psychologische Tests gibt und wenn ja, was sie nützen. In „Vergessene Erinnerung“ kommt dieser generalarrogante Zug besonders zum Vorschein, nachdem die erste Leiche entdeckt ist. Da beweist sie, dass sie doppelt so schnell reden, dreimal so schnell denken, Akten, die ihr nicht gehören, auf den Boden knallen, in ein Polizeirevier einbrechen, einen schweren Lkw steuern und den größten Drogendeal der niedersächsischen Geschichte auf den Weg bringen kann.
Die im Tatort 755 besonders extreme Darstellung der Lindholm-Figur hat uns frappierend an die Art erinnert, wie Mark Zuckerberg in „The Social Network“ gezeigt wird, den wir gerade rezensiert haben (Publikation im Verlauf des Jahres 2014). Ein sozial inkompetentes Genie überfährt alle mit seiner jeder emotionalen Zugänglichkeit abholden Logik und nimmt andere gar nicht erst als gleichberechtige Individuen wahr. Die Spreche ist im erwähnten Film noch extremer, das hätte der Person Lindholm und ihrer Darstellerin so nicht getaugt, aber der Grundtenor ist ähnlich. Wir haben es vorsichtshalber recheriert – „Vergessene Erinnerung“ wurde bereits im Juni 2009 gedreht, etliche Monate vor „The Social Network“.
Weitere Unterschiede sind zu bemerken. Im „SN“ ist bei aller Einseitigkeit und allen Fehlern ein echtes Genie am Werk, im Tatort ist bei näherer Betrachtung alles Aktionismus, der Linholm lediglich von Leiche zu Leihe stolpern lässt, ohne dass sie inzwischen bei ihrer rüden Art, mit den Dörflern umzuspringen, weitergekommen wäre oder je weiterkommen würde, wenn ihr nicht ein gehörloser Junge auf eine beinahe märchenhafte Art zur Lösung des Falles verhelfen würde – oder wenigstens zu einer Annäherung an die Wahrheit.
Für uns ist das stimmig. Für uns wäre es vor allem aber stimmig, wenn ihre Art, die als so effizient dargestellt wird, in der Realität daran scheitern würde, dass die Leute sich nicht jede Überheblichkeit ohne jeden Zwang und Grund reindrücken lassen. Und das würden sie nicht tun. Die in Wirklichkeit eher sturen Niedersachsen werden hier aber als verängstigte Hühner gezeigt, die vor der großen – blonden, nicht rothaarigen – Lindholm-Füchsin aber auch gar nicht aufzumucken wagen, sondern bereitwillig die Marginalisierung ihrer eigenen Persönlichkeiten bei jeder noch so kleinen Interaktion mit dieser Parade-Arierin hinnehmen.
Untermenschen halt. Zittern schon bei ersten stahlblauen Blicken, nicht erst in hochnotpeinlichen Verhörsituationen, nicht erst, wenn die Menschen mit diesen Blicken mal richtig ihre SS-nahe Aura rauslassen, um Geständnisse zu erzwingen, ohne die physischen Folterwerkzeuge auspacken zu müssen. Polizisten mit Zottelhaaren und Dreitagebärten und Büros, in denen man mal endlich Ordnung machen muss und, ah, diese glanzvolle Erniedrigung, Lindholm lässt die Akten fallen, der Dorfschupo hebt sie auf und sinniert später auch noch darüber, warum sie es zur Kommissarin gebracht hat und er nicht. Das ist ja wohl so offensichtlich, wie dass die Faust aufs Auge ein Veilchen hinterlassen kann.
Wie verschroben und selbstgefällig von allen, die an solchen Skriptbestandteilen einen Anteil haben. Es ist einem normalempathischen Menschen, oder sagen wir, einem, der sich im Rahmen des modernen Lebens bemüht, nicht ständig wie der Elefant im Porzellanladen aufzutreten, weil das in der sozial interaktiven Großstadt zur vollkommenen Ausgrenzung des eigentlich doch Minderheitenschutz genießenden Elefanten führen würde, kaum möglich, sich da hineinzuversetzen.
Dass diese Obernerds trotzdem in der Lage sind, die vermutlich weltweit größte unterirdische Shit-Fabrik zu betreiben, sollte selbst Lindholm zu denken geben. Tut es aber nicht, sie fährt das Zeug zur holländischen Grenzen, um ihren Sohn freizukriegen, der von einer Drogenschmugglerin gekidnappt wurde (eine so große Figur wie die Lindholm ist nur dann von einer Krise zu ereilen, wenn ihr Sohn gefangen wird, in anderen Filmen, in denen sie selbst festgesetzt wird, bleibt sie natürlich übernatürlich Herrin der Lage). Dieser Schlussakkord ist zwar auch überdrüber, aber gar nicht so komplett unglaubwürdig wie diese Hanfplantage in der Einöde, etwa 123 km (haha!) von Hannover entfernt.
Dass Lindholm den üblichen Rahmen sprengt, wirkt deshalb so bedrückend, weil es manipulativ eingesetzt wird, anstatt dass man den Zuschauer darüber aufklärt, dass dieses Verhalten genauso zu missbilligen ist wie alles, wogegen doch Frauen und Minderheiten und andere lange Zeit benachteiligte lange gekämpft und immer noch kämpfen: Unterdrückung, Respektlosigkeit, erniedrigende Behandlung. Wir wollen jetzt nicht alle Merkmale nach ICD durchgehen und versuchen zu ermitteln, welche Persönlichkeitsstörung überwiegend zu diagnostizieren wäre, aber es geht gewiss und Mindestens in Richtung eines ausgeprägten und zudem in seiner Ausprägung sehr destruktiven Narzissmus. Nach dem Anschauen vieler Lindholm-Filme ist die Vornahme einer solchen Zuschreibung nicht sehr gewagt.
Unweigerlich stellt sich eine Frage, die wir bisher nicht aufgeworfen haben, aus gutem Grund. Aber einige Tatortqualen mit und durch Lindholm lassen uns mittlerweile die gewisse Vorsicht ad acta legen. Wie sehr ist Lindholm mit ihrer Darstellerin identisch, die immer dann komplett echt wirkt, wenn sie andere klein machen kann und wenn sie weinen muss, wie wegen ihres Sohnes, komplett künstlich? So eine überragende Schauspielerin ist Furtwängler nicht, dass dieser Gedanke sich nicht irgendwann einstellt. Wir kam es zu der so wichtigen Rolle, wie kam es zu diesem enormen Einfluss auf die Plots bei jemandem, der vorher als Darstellerung quasi unbekannt war, vor allem nicht im Vergleich zu jenen Schauspielgrößen, die schon vorher jeder kannte und die sich in ihren Tatort-Figurenrollen oft auf sehr unkomplizierte, zuweilen sehr humorvolle Weise in Dienst des Konzeptes arbeiten. Die sich einbringen dürfen, gewiss, aber nicht alle Fäden in der Hand halten (Ausnahme: Schweiger / Tschiller, siehe oben). Auch die totale Humorfreiheit der Lindholm-Figur fällt in diesem Zusammenhang auf. Mit etwas mehr Humor könnte man die Überhöhungstendenzen brechen, aber leider ist bezüglich dieses guten Mittels, die Dinge in ihr Maß zu bringen, Fehlanzeige zu vermelden.
(Hier haben wir bei der Veröffentlichungsversion des Beitrages zwei Sätze gestrichen, die uns dann doch zu direkt auf den Abgleich Realität-Film bezogen waren). Die Art, mit anderen Menschen umzugehen, wie sie in den Lindholm-Tatorten vorgeführt wird, die muss (jedenfalls) aus einer echten Haltung kommen und wirkt auf uns nicht lediglich elitär, sondern auf Unterdrückung von Menschen angelegt vor, die sich nicht wehren können. Wie zum Beispiel die oft eher wenig bekannten Schauspieler, die in den Lindholm-Tatorten die Nebenrollen besetzen. Niemand, der auf sich hält und seine Karriere im Blick hat, lässt sich im wirklichen Leben oder in einer Rolle so mies behandeln, wie Lindholm das immer wieder in ihren Filmen mit anderen personen praktiziert.
Man kommt beinahe zu dem Schluss – sie muss es nötig haben. Irgendetwas ist in dieser Persönlichkeit einer Frau, die viel erreicht hat, als Kommissarin oder als Mensch in der sozialen Oberklasse, das jede Form von Tolerenz und Großzügigkeit verhindert. Dass dies als provozierend und herausfordernd, als taff und modern als besonders prägnante Ausformung der weiblichen Emanzipation zugetan verkauft wird, insbesondere von ihrer Darstellerin selbst, wenn sie sich zu ihrer Rolle äußert, verstehen wir gut. Leider stimmt es nicht. Es ist vielmehr pubertär. Nur jemand, der in der Wirklichkeit nie die typischen Auseinandersetzungen des täglichen Lebens führen musste, kann auf die Idee kommen, sich so in Filmen so zu verhalten und zu glauben, das sei zielführend im Sinn eines Ermittlungserfolges. Jeder, der halbwegs auf dem Boden der Tatsachen steht, weiß, dass er als Kriminaler so nicht weiterkäme.
Vor allem die Befragten, die nichts zu verbergen haben, würden sich angesichts dieser Konfrontation sperren und sich keineswegs einschüchtern lassen, denn es ist wahr, wir sind nicht mehr im komplett autoritären, obrigkeitshörigen 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Wär uns so daherkäme wie Frau Lindholm und wir hätten eine saubere Weste, dem würden wir – okay, Schluss. Man muss nicht alles aussprechen oder schreiben, was man denkt. Das Leben kennt innere Widerstände, die man auch provozieren kann, das ist Frau Lindholm offenbar nicht bewusst. Daher wirken auch ihre Dialoge oft sachfremd. Sie kann Leute im Filme auf eine Art schachmatt setzen, die so niemals funktionieren würde, würde sie einer halbwegs intakten Persönlichkeit gegenüberstehen. Okay, einmal. Auch zweimal. Überraschungseffekt, Überrumpelung. Aber spätestens beim zweiten Aufeinandertreffen wäre es damit vorbei.
Der Schluss liegt nah: Die Lindholm-Tatorte sind für die submissiven Persönlichkeiten unter den Zuschauern geschrieben. So gesehen ist Lindholms Verhältnis zu Felser kollusiv. So gesehen ist es ein Bärendienst an einer mühsam demokratisierten Gesellschaft, und immerhin haben die Öffentlich-Rechtlichen ja einen Bildungsauftrag gegenüber dieser Gesellschaft, dies alles als cool zu verkaufen.
Felser und Lindholm kurz zusammengefasst: Er ist dienstbar, mitleiderregend durchsetzungsschwach, sie nutzt es aus und findet das vollkommen in Ordnung, er freut sich, dass sie ihn überhaupt beachtet. Dass es auch die Möglichkeit gäbe, dass sie ihn für voll nehmen könnte, angesichts dessen, was er für sie tut, darauf kommen beide nicht. Eine solche Konstellation gibt es in keiner anderen Tatort-Stadt.
Wir wollen unseren Lesern etwas zu denken geben. Die kursiven Bestandteile der nächsten Absätze sind aus der Beschreibung eines Persönlichkeitsstils entnommen, der, wie jeder Persönlichkeitsstil, pathologische Züge annehmen kann, wenn er ins Übersteigerte tendiert. Wir verraten nicht, was wir mit Lindholms Verhalten abgleichen, es ist eine kleine Denksportaufgabe. Oben haben wir bereits einen Hinweis gegeben.
Die (…) zeichnet sich durch ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten aus (Lindholm entlässt sich selbst aus dem Krankenhaus, weil sie besser als die Fachleute ihren Zustand einschätzen kann, sie fährt einen Lkw, ohne je einen Führerschein dafür gemacht zu haben, sie verständigt sich auf eine Weise mit einem ihre bis dato unbekannten Gehörlosen, die vollkommen undenkbar ist, sie bricht einfach in der Nacht in ein Polizeirevier ein und verkauft das nicht etwa humorvoll, sondern todernst als Ermittlungsarbeit – dass dies alles möglich ist, steht ja im Drehbuch und wer es spielt, als sei es selbstverständlich, steht mit der darin liegenden Überhöhung im Einklang).
Da Betroffene oftmals extrem unsicher sind, bauen sie ein Größenselbst auf und suchen ständig neue Bestätigung, um ihr Selbstwertgefühl weiter zu stärken (tut Charlotte Lindholm jeden Tag und jedem gegenüber, den sie deckelt, anstatt kooperativ mit ihnen zu reden, obwohl die Leute ihr gar keinen Anlass zur Überheblichkeit gegeben haben – also eigentlich gegenüber allen).
Menschen mit (…) werden oftmals als arrogant, überheblich, snobistisch oder herablassend beschrieben. Sie besitzen einen Blick für das Besondere, können leistungsstark (in Schule, Beruf, Hobby) sein und haben oft gepflegte und statusbewusste Umgangsformen (stimmt alles, bis auf die Umgangsformen, die hat Charlotte aber gar nicht erst nötig).
Daher sind Betroffene immer auf der Suche nach Bewunderung und Anerkennung, wobei sie anderen Menschen wenig echte Aufmerksamkeit schenken. Es fällt ihnen schwer, auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen (Das Verhältnis Lindholm-Felser ist ein schlagendes Beispiel dafür).
Sie haben ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit, hoffen eine Sonderstellung einzunehmen und zu verdienen (Linholm hat diese Sonderstellung als gottgleiche LKA-Invasorin im ländlichen Raum per se und per Figurenanlage auch den Auftritt des Besonderen. Die Darstellerin, die starken Einfluss auf ihre Figur ausübt, hat sich diese Sonderstellung selbst verpasst, ebenso an deren Ausformung mitgewirkt und lässt damit die gebotene Distanz zur Figur vermissen).
Betroffene sind häufig sehr stolz und besitzen eine hohe Anspruchshaltung an sich selbst. Betroffene zeigen ein meist ausbeutendes Verhalten und einen Mangel an Empathie (-> Felser -> Vorgesetzte -> Mitarbeiter = alles nur Dienstpersonen oder Zweckpersonen, deren Gefühle unwichtig sind, Felser wird manchmal auch von Lindholm auf eine wirklich heimtückische Weise dafür bedauert, dass er ihr echte Gefühle entgegenbringt).
Bei alldem darf man Aspekte der Optik nicht außer Acht lassen. Lindholm wirkt in ihren Filmen immer sehr groß. Das liegt manchmal an den Kameraperspektiven, häufiger aber daran, dass es offenbar eine Anweisung gibt, ihr keine wirklich groß gewachsenen Schauspieler gegenüberzustellen. Felser / Naujoks ist etwas größer, aber so signifikant untertänig-sorgend, dass sich diese Physis geradezu ins Gegenteil verkehrt. Maria Furtwängler misst aber nach unseren Informationen 1,74 Meter. Das bedeutet, sie ist nach heutigen Maßstäben noch knapp über dem Durchschnitt. Jedenfalls ist sie nicht exorbitant hoch gewachsen.
Im Film jedoch werden immer mindestens 1,80 Meter suggeriert. Die schlanke, gerade Figur und das kantige, längliche Gesicht, die hellen Haare als Kontrast zu meist dunkleren Hintergründen unterstützen natürlich den Eindruck optischer Höhe, trotzdem ist da offenbar auch eine Inszenierung im Spiel, die auf subtile Weise die mentale Haltung der Frau gegenüber Dritten festigt. Ob auch noch zusätzliche Tricks wie Einlagen und Spezialschuhwerk angewendet werden, wissen wir nicht, wir können nur die Wirkung beschreiben.
Nun noch einiges zum Fall:
Anhand der Lindholm-Beschreibung bzw. in diese dezent eingeflochten, ist zum Fall im Grunde alles gesagt. Eine gewisse Dynamik ist durchaus spürbar, das sollte man erwähnen, schon deswegen, weil immer wieder Morde passieren und wegen der partiellen Amnesie, die Lindholm anfangs aufweist – nach ihrem Unfall. Auch die Zusammenhänge zwischen den Figuren auf dem Dorf und ihrer Handlungen erschließen sich zumindest sachlich. Dass wir das gesamte Szenario für beinahe so verzerrt halten wie die Lindholm-Figur, haben wir bereits angedeutet.
Fazit
Dass Zuschauer sich über eine offensichtlich verschobene Persönlichkeit auf Ermittlerseite Gedanken machen müssen, ohne dass die Macher des betr. Tatorts uns einen Hinweis darauf geben, finden wir unfair. Müssen wir immer alles selbst ermitteln, was wirklich wichtig ist und was man uns eben gerade nicht auf die Nase bindet? Wird uns immer das Unwichtige lang und breit erklärt, um das Relevante zu kaschieren?
Es gibt aber Hoffnung. Die Lindholm-Tatorte ab etwa den fortlaufenden Nrn. 800 ff. wirken nicht mehr ganz so vogelwild, was das Persönlichkeitsbild der Kommissarin angeht. Irgendwann haben vielleicht doch alle Beteiligten gemerkt, dass sie überziehen und mal auf die Bremse treten nicht das Schlechtest wäre, damit nicht zu sehr auffällt, was man da für eine monströse Persönlichkeit kreiert hat bzw. das Adjektiv „selbstbewusst“ immer weiter in die falsche Richtung verschiebt.
Immerhin, einen Burnout oder jede Form von Überforderung oder eine Grenzerfahrung in Form echter emotionaler Herausforderung, wie bei vielen anderen Ermittlern der aktuellen Generation haben wir bei Frau Lindholm nicht zu befürchten. Das lässt die Zentrierung ihrer Persönlichkeit nicht zu – und wer wollte bestreiten, dass das, wenn auch zu Lasten anderer, ein Selbstschutz ist?
Leider müssen wir noch einmal, wie bei „Schwarzes Herz“, eine Note zücken, die wir ursprünglich für Tatorte nicht vorgesehen, die wir für das Format generell für unangemessen gehalten hatten. Nein, „Vergessene Erinnerung“ ist nicht der schlechteste Tatort aller Zeiten, aber einer der unangnehmsten – daher 4/10.
Der Beitrag ist die Tandem-Rezension zum aktuellen Lindholm-Tatort
(1) Einflussnahme von Schauspielern scheint beim NDR in Mode zu kommen, anstatt dass diese sich in den Dienst des Senders stellen und Fachleute die Grundkonzeption entwickeln dürfen – siehe nun auch Nick Tschiller alias Till Schweiger in Hamburg. Was dabei herauskommt, haben wir in der Rezension zu „Willkommen in Hamburg“ und den seitdem gezeigten neuen Hamburg-Tatorten beschrieben.
© 2019, 2016, 2015, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Kommissarin
Charlotte Lindholm – Maria Furtwängler
Martin Felser – Ingo Naujoks
Charly Mommsen – Jonathan Dümcke
Berta Mommsen – Petra Kelling
Helga Mommsen – Margarita Broich
Holger Mommsen [Dorfpolizist] – Max Hopp
Petra Borgmann [Tierärztin] – Ute Willing
Horst Randers – Thomas Thieme
Tamma von Heuven – Idil Üner
Drehbuch – Dirk Salomon, Thomas Wesskamp
Regie – Christiane Balthasar
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