Hexentanz – Tatort 529 / Crimetime 392 // #Tatort #Hannover #LKA #Lindholm #Hexen #Tanz #Hexentanz #Tatort529 #NDR

Crimetime 392 - Titelfoto NDR, Ines Gellrich

Beinahe: Wie das Dorf Dorf wurde

„Hexentanz“ ist der zweite Tatort mit Maria Furtwängler als Hauptkommissarin Charlotte Lindholm. Er zeigt bereits das Muster, das typisch für die Hannover-Schiene des NDR werden sollte. Die hochbegabte Polizistin vom LKA fährt aufs Land und gerät in seltsamen Dörfern an seltsame und regelmäßig mit geringem IQ ausgestattete Dörfler. Auch im allerersten „Lindholm“ („Lastrumer Mischung“, 2002) war das schon so, aber trotzdem hatten wir diesen Tatort mit 7,5/10 und damit überdurchschnittlich bewertet. Wie wir bei „Hexentranz“ rauskamen, steht in der -> Rezension.

Handlung

Gleich zwei Morde beschäftigen Charlotte Lindholm diesmal. Denn der erschlagen in seinem Haus aufgefundene Werner Hellmann war ein rechtskräftig verurteilter Mörder. Aufgrund von Zeugenaussagen wurde ihm der Tod seiner Frau Anna angelastet. Nach Verbüßung der Haftstrafe tauchte er wieder im Heimatdorf auf. Was trieb Hellmann, der stets seine Unschuld beteuert hatte, zurück?

Mitten in Charlottes Ermittlungen platzt Hellmanns Tochter Kirsten, die über Jahre jeden Kontakt zu ihrem Vater verweigert hatte. Von Kirsten erfährt Charlotte, dass deren verstorbene Mutter, Anna Hellmann, wegen ihrer freizügigen Hippieattitüden bei den Einheimischen verschrien war. An dieser Einschätzung scheint sich nichts geändert zu haben. Die damaligen Zeugen wie der Gastwirt Matthias Bergstedt, die Kassiererin Lisbeth Struck und ihre geistig verwirrte Schwester Erika können oder wollen sich gegenüber der Kommissarin nicht mehr erinnern. Und am Abend des Mordes an Werner Hellmann haben angeblich alle Dörfler geholfen, das brennende Haus Erikas zu löschen. Doch bald bröckeln einige der Alibis. Die Situation eskaliert, als Kirsten bei der Beerdigung ihres Vaters ankündigt, den Mörder ihrer Eltern zur Strecke bringen zu wollen.

Rezension

Dass in einer so düsterländlichen Umgebung mit ganz wenigen Akteuren, die zudem nicht sehr beschlagen wirken, überhaupt Morde möglich sind, die ganz lange unentdeckt bleiben, ist das Paradoxon dieser Plots. Liegt es an der ebenfalls augenfälligen Inkompetenz der Dorfpolizei? Da diese nicht für die Aufklärung von Tötungsdelikten zuständig ist, kann jene Argumentation nicht weiterführen. In „Hexentanz“ kaschiert einiger Humbug mit heidnischem Aberglauben die hanebüchene Story von Outsidern und Insidern. Natürlich ist das ein Krimi, der die Enge des Dorfs und damit des dort angesiedelten Charakters belegen soll, und wie es für Außenstehende nicht möglich ist, sich zu integrieren, zumal, wenn sie irgendwie ein bisschen anders sind.

Da wir dienstlich ziemlich viel im Berliner Umland, aber auch weiter draußen in Brandenburg und in einigen anderen neudeutschen Bundesländern herumgekommen sind, konnten wir uns bei jedem Lindholm-Tatort und mit fortschreitender Kenntnis über die Unterschiede zwischen Stadt und Land besser in dieses Szenario einfühlen, das wir zuvor nicht als einen so starken Kontrast wahrgenommen hatten; vermutlich, weil die mittelgroßstädtische Landeshauptstadt, in der wir geboren wurden und der Vorort mit vielen zugezogenen Städtern, in dem unsere Eltern sich niederließen, nicht so grob unterschiedlich waren und wir mangels Kenntnis über Schubladen nicht in Schubladen dachten, sondern eher die Menschen als sie selbst und immer als spannend wahrnahmen.

Aber als wir, viele Jahre später, in Brandenburg anfingen, die Straßen unter die Räder zu nehmen, mit einem dort eher seltenen Automobil und noch mit Westkennzeichen, da wurden manche Augen groß und einige Gesichter verhärteten sich, bevor überhaupt ein persönlicher Kontakt vorhanden war. Auweia. Da hatten wir ein schon mal ein mulmiges Gefühl, wenn wir den Wagen an einem S-Endbahnhof Richtung Berlin auf den Parkplatz stellten und an der Würstchenbude sich seltsame Glatzen versammelt hatten.

Da hat Frau Lindholm mit ihren regelmäßig silberfarbenen Volkswagen noch Glück. Sie wird außerdem nicht einmal als Frau und als die höher positionierte Dienstperson bzw. in dieser Kombination in eine No-Go-Kiste gesteckt, das muss man den niedersächsischen Dörflern geradezu gutschreiben.

Sie sind ein wenig schusselig und beschränkt, die Landeier, aber „Hexentanz“ ist noch geradezu harmonisch, verglichen mit den späteren Lindholm-Tatorten. Offenbar gab es eine Idee dahinter, den Kontrast immer mehr auszureizen und Frau Lindholm immer abgehobener auftreten zu lassen, so sehr, dass uns, obwohl wir uns als nunmehr mittelfristig ansässige Hauptstädter nicht betroffen oder karikiert fühlten, der Rezension von „Schwarzes Herz“ der Kragen geplatzt. Wie weit kann man eigentlich gehen und wie gut werden die Quoten, wenn man darauf abhebt, andere zu diskriminieren und vor allem masochistisch Veranlagte anzusprechen?

Vieles, was später in vollständiger Hybris zu besichtigen war, konnte man aber bei „Hexentanz“ aus 2003 noch nicht als Linie zum Schlechteren oder Extremeren erkennen.

Dazu ist „Hexentanz“ bei allen Klischees, die er beinhaltet,  zu dezent und wirkt Frau Lindholm noch zu natürlich – auch wenn sich im Umgang mit dem recht servilen Dorfpolizisten schon zeigt, was kommen wird.

Es kann halt nicht jeder so effizient sein wie Frau Lindholm, deren Darstellerin sich diese Eigenschaft selbst ins Lastenheft der Polizistinnen-Figur geschrieben hat. Wir werden aber das, was wir dahinter sehen, hier nicht noch einmal aufrollen, es steht alles in Rezensionen zu neueren Lindholm-Tatorten.

Die Rückwärtsbetrachtung darf auch nicht den Blick dafür verstellen, dass sowohl die Lindholm-Figur als auch das Szenario damals noch etwas Frisches und Unverbrauchtes hatten, das die Tatortzuschauer interessiert, oft auch fasziniert hat – wie für Menschen, die es gerne etwas autoritärer mögen und das Oben-Unten-Schema verinnerlicht haben, diese Polizistin vielleicht die Tatort-Ermittlerin darstellt, an der sich alle anderen messen müssen.

Aber auch das „wir fahren aufs Land“ hatte damals bereits Tradition, denn neben den Großstadtkrimis war die Tatort-Reihe von  Beginn an so organisiert, dass auch der ländliche Raum immer wieder von der Polizei bereist wurde. Die Kommissare wirkten dabei meist deutlich fortschrittlicher als die Leute, auf die sie trafen – zumindest im Denken. Vom Outfit waren sie eher traditionell; heute ist Lindholm vom Auftritt der Klassiker unter den ermittelnden Frauen.

Als Fall fanden wir „Hexentanz“ nicht sehr markant, wenn man von den vorchristlichen Dorfbewohnern absieht. Der Tod aus der Vergangenheit ist ziemlich konstruiert und es fällt der Tochter des zweiten Toten, des Ex-Lehrers, schwer, dieses „Out of the Past“ am Ende glaubhaft zu machen. Was nicht an der Schauspielleistung, sondern an der zuvor aufgedröselten Ereigniskette liegt, die immer wieder hinter einem Verdächtigen einen weiteren hervortreten lässt, ohne dass man sich aufgerufen sieht, tiefer in eines dieser Schicksale einzusteigen. Dafür sind die gezeigten Figuren zu beliebig und zu unsympathisch. Der unsympathischste von ihnen, der Herr Grote, war’s aber nicht, was gleich zu ahnen war, weil er sehr negativ hervorgehoben wurde. Auch nicht sein Sohn. Aber seine Frau, die entnervt war, weil schließlich doch ihr Mann alles zu verantworten hatte, wegen seiner Fremdgeherei.

In der Inhaltsangabe stand, dass die vor Jahren ermordete Anna Hellmann wegen ihrer Hippie-Attitüde als Hexe verschrien war. Wir können das nicht überprüfen, weil die Figur nicht ein einziges Mal in einer Rückblende auftritt, aber wir stellen uns eine Hippie, die alle Männer verrückt macht, in einem solchen Dorf vor. Und machen einmal einen Riesensatz:

Wie darf und sollte jemand auftreten, um die religiösen Gefühle seiner zum Beispiel muslimischen Mitbewohner nicht mit Füßen zu treten? So kompliziert ist die Welt, wenn man nicht grundsätzlich sagt: anything goes und was andere darüber denken, who cares? Wir finden das in einer Stadt wie Berlin klasse, weil man dadurch ungeheuer viele interessante Begegnungen hat und jeder Tag inspirierend sein kann, wenn man sich darauf einlässt, aber ist es sinnvoll, aufs Dorf zu ziehen, nur um die Dörfler aktiv aufzumischen? Dieser Tatort, das ist aber nichts Besonderes, stellt die Frage nach Integration oder Exklusion und beantwortet sie gleich mit. Wir beantworten sie für uns selbst, gemäß der Tendenz, uns eine eigene Meinung zu erlauben. Die Grenze der Freiheit ist die Freiheit der anderen – dieser Satz stammt wiederum nicht von uns.

Fazit

Es geht aber weiter, denn das Rosa Luxemburg-Zitat enthält einen Tatbestand, aber keine Einstellung. In einer kleinen Welt können andere Regeln gelten als in einer größeren, in der man nach seiner Fasson glücklich werden kann. Wer die Anonymität nicht mag, wird auch mehr beobachtet. Das ist kein Grund, Menschen wegen ihrer Lebensweise, Herkunft oder Religion zu diskriminieren. Wenn das so ist, dann muss es aber auch für jedweden esoterischen Humbug oder jede Form von Aberglauben gelten. Ob eine Frau, die nicht ins Dorfschema passt, die mehr von unten her gesteuerten Männer zum Fremdgehen bringt, wozu jenseits der Vergewaltigung ja zwei gehören, liegt aber auf einer ganz anderen Ebene, und die sollte man nicht mit irgendwelchen scheinbar vorsintflutlichen und pseudoreligiösen Praktiken in einen unguten Zusammenhang bringen.

6,5/10

© 2019, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Hauptkommissarin Charlotte Lindholm – Maria Furtwängler
Kirsten Hellmann – Lisa Maria Potthoff
Thorsten Grote – Karl Kranzkowski
Dieter Grote – Thomas Schmieder
Henrike Grote – Swetlanan Schönfeld
Martin Felser – Ingo Naujoks
u.a.

Drehbuch – Markus Stromiedel
Regie – Renè Heisig
Kamera – Hanno Lentz


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