Traum des Vergessens – Polizeiruf 110 Fall 95 / Crimetime 424 // #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Dresden #Sachsen #Radeberg #Ostsee #DDR

Crimetime 424 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD, Christine Becke

Alptraum einer Kindheit

Den Vorgänger von „Traum des Vergessens“ mit dem Titel „Inklusive Risiko“ haben wir bereits angeschaut und rezensiert, ebnso den Nachfolger „Lass mich nicht im Stich. Beide Filme befassen sich intensiv mit Jugendlichen und ihren Träumen und mit Jugendlichen, die sich bewähren müssen. Es hat uns erstaunt, wie man in der DDR weit mehr als in den westdeutschen Tatort-Krimis versucht hat, dem Wesen der jungen Generation auf die Spur zu kommen, die nicht immer so tickte, wie man es gerne gehabt hätte. Dabei sind verblüffend ehrliche und interessante Filme herausgekommen. Doch „Traum des Vergessens“ schlägt sie auf eine Weise um Längen. Warum wir dieser Ansicht sind, schreiben wir in der -> Rezension.

Handlung (Wikipedia)

Die Ehepaare Werner und Krumm sind seit vier Jahren miteinander befreundet. Seit zwei Jahren haben Sabine Krumm und Dr. Hartmut Werner eine Affäre, die den beiden anderen Ehepartnern bekannt ist. Die introvertierte Christiane Werner frisst den Schmerz in sich hinein und versucht, ihre Kinder Annett und den zweijährigen Tobias als Druckmittel gegen eine Scheidung zu verwenden. Dr. Rainer Krumm wiederum glaubt, Sabine seine Liebe durch Toleranz zu beweisen. Erst als Sabine und Hartmut sich scheiden lassen wollen, beginnen sich Christiane und Rainer aktiv zu wehren. Christiane droht mit Selbstmord, dreht vor den Augen ihrer kleinen Tochter den Gashahn auf und meint, dies sei eine Lösung für ihre Probleme. In der nächsten Nacht wacht Annett auf, weil ihr kleiner Bruder aus dem Doppelstockbett gefallen ist. Gasgeruch hängt in der Luft und beide Elternteile lassen sich von Annett nicht wecken. Im Nachthemd rennt sie durch die Stadt zum Haus der Großeltern. Opa Rudolf holt die ohnmächtigen Christiane und Hartmut aus dem Haus, die mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht werden. Für Tobias kommt jede Hilfe zu spät, er stirbt noch am Tatort an einer Gasvergiftung.

Annett wurde mit schweren Schocksymptomen im Krankenhaus behalten. Sie fragt ständig nach ihrem Bruder, doch sagen ihr die Ärzte nicht, dass Tobias nicht mehr lebt. Die Behandlung der Werners übernimmt der Chefarzt der Klinik – Rainer Krumm. Hartmut ist schon bald wieder ansprechbar, doch liegt Christiane im Koma, hatte sie doch vor dem Zubettgehen Schlafmittel genommen. Hartmut glaubt an einen Unfall und berichtet dem ermittelnden Oberleutnant Jürgen Hübner von dem Abend. Christiane habe nach ihrem Streit in der Küche abwaschen wollen, dies jedoch nicht getan. Sie sei dann wiederum vor ihm schlafen gegangen. Er selbst habe sich noch ein Getränk aus der Küche geholt, einen offenen Gashahn habe er dabei nicht bemerkt. Die Ermittler vermuten, dass Christiane Wasser für den Abwasch auf dem Herd erhitzen wollte, jedoch vergaß, die Flamme zu entzünden. Der Fokus von Rainer und Polizeipsychologe Dr. Rohrbach liegt in der Behandlung von Annett. Sie ist für Fragen unzugänglich, schreit und gerät in Panik, als ihr Vater sie besuchen kommt, und steht oft teilnahmslos am Fenster und blickt in den Park des Krankenhauses, wo sie eine glückliche Familie mit zwei Kindern zu sehen scheint. Der Psychologe versucht, die Ereignisse des Abends zu rekonstruieren, doch unterbricht Annett das spielerische Verhör stets nach kurzer Zeit.

Eines Tages erwacht Christiane aus ihrer Ohnmacht und bestreitet, den Gashahn aufgedreht zu haben. Die Familie hat einen Wasserboiler, sodass sie auch kein Wasser auf dem Herd erhitzen muss. Christiane ist sich ihrer Psyche jedoch nicht sicher und würde eine Tat zugeben, wenn man sie ihr unterstellen würde. Am Ende gerät sogar Rainer Krumm unter Verdacht, die Tat aus Eifersucht begangen zu haben. Das Blatt wendet sich, als Rainer mit einer Krankenschwester beobachtet, wie Annett im Garten ihren Teddy beerdigt. Er sei nicht mehr aufgewacht, begründet sie ihr Handeln. Zudem reagiert sie wenig später panisch, als eine Schwester für sie Milch auf dem Herd erwärmt. Dr. Rohrbach spielt Rainer und Annett einen Stummfilm vor, der unter anderem Sequenzen eines streitenden Ehepaars und eines Herdes mit aufgedrehter Gasflamme enthält. Annett hält sich zunächst die Ohren zu und geht schließlich, als die Herdszene beginnt. Dabei spricht sie, dass sie den Vater nicht verlieren wollte. Eines ihrer gemalten Bilder zeigt eine Familie in Gasschwaden. Rainer überbringt den Werners, dass Annett den Gashahn aufgedreht hat. Sie nahm dabei Christianes Drohung, mit der Gasflamme alle Probleme lösen zu können, ernst.

Einige Monate später wird Annett sechs Jahre alt. Jürgen Hübner kommt zum Gratulieren, wird von Hartmut jedoch unfreundlich begrüßt. Zwischen Hartmut und seiner Frau ist das Verhältnis angespannt, Sabine wiederum wird von den Werners ausgeschlossen.

Rezension

Ob der Film nun allgemein und speziell kinderpsychologisch State of the Art ist, wollen wir nicht entscheiden – selbstverständlich ist manches darin vereinfacht und recht linear. Wir glauben nicht, dass man Kinder stets so leicht entschlüsseln kann, wie es hier bei Annett gezeigt wird.

Aber „Traum des Vergessenes“ ist ein flammendes Plädoyer für sichere, geordnete Verhältnisse. Das Unbehagen über die allgemeine Beliebigkeit im Beziehungsleben, die in der DDR nach dem, was wir später bei Ostdeutschen beobachtet haben, mindestens so ausgeprägt war wie im Westen, die war wohl nicht nur dem Staat unheimlich, sondern auch Menschen, die sich um die seelischen Defizite sorgten, die durch ständige Konkurrenzsituationen in der Partnerschaft entstehen. „Ich kann euch doch beide lieben“, das ist ein Satz, der in Polizeirufen aus der DDR auffällig häufig vorkommt. Frauen sprechen ihn eher aus, Männer leben aber genauso nach dieser Devise, sonst würde es nicht funktionieren.

Verlierer: In diesem Fall der Chefarzt Krumm, der seinerseits keine Geliebte hat, aber seine Frau mit seinem Oberarzt Werner teilen muss. Verlierer: Christine Werner, die ihrerseits kein Verhältnis mit einem anderen Mann hat. Gewinner: Christiane und Hartmut Werner, die sich alle Freiheiten nehmen. Verlierer aber wiederum die Kinder auf beiden Seiten: Tobias Krumm hat Angst, dass seine Familie auseinandergeht, nachdem die Mutter ihm von ihrem Verhältnis mit Hartmut erzählt hat und Annett und ihr kleiner Bruder bekommen die häufigen Streits ihrer Eltern mit und die Selbstmorddrohungen der Mutter.

Die Enge, in der das alles stattfindet, haben wir mittlerweile als ein typisches DDR-Setting kennengelernt. Es kommt sehr häufig vor, dass die Konflikte im Arbeitsumfeld entstehen und in dem Fall entstehen sie auch aus der Freundschaft der beiden Ärzte miteinander. Herausragend für die damalige Zeit, wie genau das alles dargestellt wird, zum Beispiel anhand der Urlaubsfilme, welche die Entwicklung der Fehlfunktionen oder Schieflagen in diesem Beziehungsgeflecht nachzeichnen.

Wir hören das häufig: Lieber keine Beziehung oder eine neue, als eine schlechte weiterführen, das sei auch für die Kinder besser. Diese banale Rechtfertigung für einen Mangel an Konfliktlösungsfähigkeiten innerhalb eines Systems ist für uns viel spießiger als ernsthaft an Problemen zu arbeiten. Klar kann Patchwork funktionieren, aber am besten wohl dann, wenn es nicht zu ungelösten Situationen kommt, wenn nicht alle fast im Stil einer Kommune immer miteinander Kontakt haben und die Eifersüchtigen unter ihnen, die nicht so leicht über alles hinweggehen, permanentem Leidensdruck ausgesetzt sind. Insofern ist es wieder besser, nicht alles schwelen zu lassen.

So können sich neue Systeme ergeben, von denen jedes wieder seinen eigenen, halbwegs sicheren Raum hat. Der Verlust an Integrität ist aber immer vorhanden und kann höchstens dadurch aufgefangen werden, dass das neue System ausgezeichnet funktioniert. Wenn in diesem auch was schiefgeht, wird’s richtig schwer. Das kommt durchaus vor; eine ganze Reihe von Fails, von misslungenen Beziehungen aufgrund Unfähigkeit, solche dauerhaft zu gestalten, ist nicht so selten.

Die Kinder haben uns sehr leid getan und es ist schon krass, dass hier eine Sechsjährige gezeigt wird, die versucht, ihre Familie und sich selbst umzubringen, auch wenn sie noch gar nicht erfasst, was töten heißt. Uns ist kein Tatort bekannt, auch kein neuerer, in dem so etwas dargestellt wird. In diesem Anklagefilm gegenüber der Leichtlebigkeit und Gedankenlosigkeit von Erwachsenen, die in gewisser Weise in der DDR gefördert wurde, indem man jedwede religiös intendierte Moralvorstellung ablehnte und nicht durch eine Art sozialistische Partnerschaftsethik ersetzen konnte, wird, anders als in einigen Polizeirufen über Jugendliche aus der Zeit, die eher einen beschreibenden und manchmal auch leicht fatalistischen Charakter haben, nochmal das ganz große Besteck verwendet.

Der Gipfel ist, dass ein halbes Jahr später alles ungelöst geblieben ist. Mit dem Unterschied, dass nun massive Schuldgefühle seitens der Eltern hinzutreten mussten. Vielleicht wehren die Werners auch nun Eindringlinge ab, schließen die Box, wollen auch den Kommissar nicht sehen, der damals ermittelt hat. Ganz selten, dass in einem Film überhaupt keine Straftat geschieht, weil eine tatbestandsmäßige Täterin einfach zu jung ist. Das gab es schon, aber nicht so viel zu jung und tatsächlich überhaupt nicht in der Lage zu verstehen, was sie tut.

Nun könnte man meinen, dies sei ein melodramatisches Stück, voll darauf angelegt, den Zuschauer richtig durchzuschütteln. Aber so waren die DDR-Polizeirufe nicht, wie auch die frühen Tatorte. Die Distanz zu allen Figuren ist manchmal sehr unangenehm, man sucht nach einer Identifikation mit jemandem und findet sie nicht. Das kleine Mädchen ist dazu am besten geeignet, aber eher in der Form, dass sie den Beschützerinstinkt wachruft, als dass man sich ihr ähnlich fühlt und dadurch eine Verbindung entsteht – es sei denn wiederum, man hatte ähnliche Kindheitserfahrungen. Vielleicht nicht gerade mit Gashahn aufdrehen, aber bezüglich der verkrachten Familie. Das war bei uns aber in dieser Form nicht der Fall, das heimische System wirkte sehr übersichtlich und stabil. Wir sind bis heute ziemlich sicher, dass das kaum ein Fremdgehen gelaufen sein dürfte, vor allem seitens der Mutter nicht – und definitiv gab es keine Auflösung von Beziehungsstrukturen. Dass man, genau wie Hübner, denkt, bitte lass es nicht die Kleine gewesen sein, macht es nicht besser, mit der Abneigung gegen das gesamte Setting, sondern schlimmer.

Wir blieben also Fremde, die nur beobachteten und sich ärgerten über die Hilflosigkeit derer, die unter der Situation leiden, während Christiane und Hartmut uns einfach als Typen unangenehm waren. Wenn Wolf-Dieter Lingk besetzt wird, ist eh klar, Trouble ahead. Und dass der andere Arzt Krumm heißt, wie sprechend ist denn dieser Name wieder. Er verbiegt sich von hinten bis vorne, um seine Familie zusammenzuhalten.

Finale

Es liegt ein schweres Verbrechen vor, das bei einem Erwachsenen als heimtückisch ausgeführter Mord gewertet würde, sofern der Erwachsene psychisch gesund ist. Ein Kind hingegen ist unschuldig an allem, was es tut und Annett auch ein Mädchen, das keinerlei offensive Charakterzüge trägt, die schon auf eine Art erstes Erkennen oder eine gewisse Boshaftigkeit deuten würden. Spannend fanden wir den Film trotz seiner ruhigen Erzählweise und mit der Ablehnung, die er beim Zuschauer evoziert, mussten wir klarkommen. „Traum des Vergessens“ erhielt einen wichtigen Fernsehpreis und eines bleibt ihm auf jeden Fall:

Dass er so tief in das eingestiegen ist, was eine voranschreitende Zerstörung der Familie von innen heraus mit Kindern macht, wie zu der Zeit kein westdeutsches Werk – zumindest nicht eines, das als Krimi in einen Tatort gepackt worden wäre. Auch neuere „Sozialdrama-Tatorte“ gehen nicht so scharf ran und alles wird dadurch für den Zuschauer leichter gemacht, dass es aus der Perspektive bekannter und beliebter Ermittler gefilmt wird, die Halt bieten. Hübner und die anderen jedoch, die als Polizeiruf-Cops arbeiteten, werden viel mehr zurückgenommen, kommen oft erst spät ins Spiel. Deswegen waren wir überrascht, dass Hübner gleich in der ersten Szene zu sehen ist. Doch es geht zunächst um die Öffnung des Handlungsrahmens, der nur wenige Minuten umfasst.

8/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Hans-Werner Honert
Drehbuch Hans-Werner Honert
Produktion Uwe Herpich
Musik Jürgen Wilbrandt
Kamera Wolfgang Voigt
Schnitt Margrit Schulz
 
Jürgen Frohriep: Oberleutnant Jürgen Hübner
Werner Godemann: Psychologe Dr. Rohrbach
Hannelore Koch: Sabine Krumm
Wolfgang Dehler: Dr. Rainer Krumm
Petra Kelling: Christiane Werner
Wolf-Dieter Lingk: Dr. Hartmut Werner
Katja Rank: Annett Werner
Helga Raumer: Hedwig Mittau
Günther Grabbert: Rudolf Mittau
Doris Otto-Franke: Schwester Karin
Barbara Zinn: Schwester Angelika
Norbert Braun: Dr. Albrecht
Michael Telloke: Dr. Renger
Heinz-Karl Konrad: Pförtner
Michael Lucke: Gastwirt
Walter Nickel: Leutnant
Jürgen Polzin: Kriminaltechniker
Peter von Ruthendorf: René Krumm
Stefan Hermann: Patient
Hans-Werner Honert: Kneipengast
Enrico Hund: Tobias, Sohn der Eheleute Werner
Anna Maria Olizeg: Ehefrau
Johannes Richter: Nachbar der Eheleute Mittau
Klaus Werthmann: Ehemann 

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