Heimatliebe – Polizeiruf 110 Fall 378 / Crimetime 428 / #Lenski #Raczek #Heimat #Liebe #Polizeiruf110 #Polizeiruf #Polen #FrankfurtOder

Crimetime 428 - Titelfoto © RBB, Oliver Feist

Es ist ein Eastern

Der Brandenburg-Polizeiruf haben ja so einen rauen Realismus, haben wir in einer Kritik gelesen. An anderer Stelle: Der Film ist ganz und gar Western-Style. Ein realistischer Western? Wie das? Der Frage und einigen anderen gehen wir in der -> Rezension nach.

Handlung

Wojciech Sekula lebt mit seinem Sohn Tomasz und seiner Frau Jenny auf einem Bauernhof in Zimowe Pole nahe der Oder. Jenny ist unglücklich in dem kleinen polnischen Dorf und würde am liebsten mit Mann und Stiefsohn in Deutschland, wo sie herkommt, neu anfangen. Doch ihr Mann ist nicht für die Idee zu begeistern.

Eines Nachts werden alle Kühe des Familienbetriebs brutal getötet. Kinder finden einen abgetrennten Finger auf dem Feld. Und kurz darauf stirbt Wojciech nach einem erneuten Überfall auf seinen Hof. Wie passt all das zusammen? Wer hasst die Familie Sekula so sehr, dass er über Leichen geht?

Die Kommissare Olga Lenski und Adam Raczek beginnen ihre Ermittlungen. Unter Verdacht gerät der ältere Bruder des Toten, Andrzej Sekula, der vom Vater als Hofbesitzer enterbt wurde. Unklar ist auch die Rolle von Bürgermeister Roland von Seedow-Winterfeld. Wie sich zeigt, ist er ein alter Bekannter von Olga Lenski.

Rezension

Olga Lenski ist ja selbst eine Western-Figur geworden, weil ihre Darstellerin Maria Simon „weiterziehen, Neues entdecken will“. Sie kommt, sorgt für Ordnung, aber sie bleibt nicht. Auch nicht bei Adam Raczek. Ob sie in ihrem letzten Film in die untergehende Sonne …? Ach nein. Aber als Western kann man den Film durchaus lesen. Der Adelsmann und Bürgermeister = der Großrancher, der das ganze Land will. Der Viehzüchter, der die Zäune zieht = Bauer Sekula. Der hat einen Bruder. Im Western wäre er ein Revolverheld. Einen Sheriff gibt es nicht in der Stadt, zumindet keinen fähigen „Die Polizei hier findet nicht mal ihren eigenen Schatten“, also müssen die Marshalls Lenski und Raczek aus der nächsten größeren Stadt kommen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Es brennt ein Tierstall. Ganz klassisches Westernmotiv, die lodernden Flammen, um jemanden zu ruinieren und zu vertreiben. Es gibt die Lesart, dass die meist jüdischen Produzenten in Hollywood damit Pogromtraumata verarbeiteten oder es immer noch tun. Zerstörung von allem und die Apokalypse lassen sich aber mit kaum etwas so gut darstellen wie mit einer Feuersbrunst. Es gibt noch mehr Westernmotive, bis hin zu der Art, wie die Schießerei zwischen Jaschke und dem Gang-Bruder des Bauern ausgetragen wird und die Polizei mittenrein geht, natürlich, ohne Verstärkung abzuwarten, wie immer. Kein Wunder, dass Olga Lenski sagt „Ich mag nicht mehr, sollen sie sich doch allein abschießen“. Raczek so: „Ich hab auch Kinder und ich geh voraus.“

Eigentlich nett, so eine Haltung von Lenski, die nichts als natürlicher Selbsterhaltungstrieb ist und ganz sicher auch mit Verantwortung fürs Kind zu tun hat. Und nicht so krampfhaft auf Anti-Klischee gebürstet. Trotzdem endet hier der Realismus und der Western dreht frei. Daran ändert sich nicht deshalb etwas, weil die Polizei in vielen Tatorten und Polizeirufen so selbstgefährdend zu Werke geht, als sei man in einer Westernstadt und die Hilfe käme erst übermorgen. Und damit zum Realismus. Wir waren ja stark im Zweifel, ob der Grund- und Bodenrausch tatsächlich bis in den letzten Winkel der polnischen oder brandenburgischen Provinz vorgedrungen ist, aber das Phänomen scheint es wirklich zu geben – vielleicht nicht, wie hier, dass sich alte Adelsgeschlechter das einst Verlorene stückweise zurückholen – und ausgerechnet beim Wiederkauf des Gutshauses scheitern. Das ist auch ein bisschen unsinnig, denn wer fängt drumherum an und wartet mit dem entscheidenden Stück Grund bis zum Schluss? Naja, vielleicht kann man ja mit dem Rest zwischenzeitlich einen Spekulationsgewinne erzielen, wenn das Wichtigste, der alte Herrensitz, nicht zu erwerben ist. Die Scholle ist nicht nur in Großstädten zum Goldesel geworden. Es gibt in Polen wirklich ein Gesetz, das den Ausverkauf von Land verhindern soll und es wird tatsächlich mit Strohpuppen umgangen. So viel dazu, wie es in Berlin vermutlich aussähe, wenn man ausländischen Spekulanten den Grunderwerb verbieten würde. Da könnte mancher jetzige Mieteraktivist noch als Marionette des Kapitals Karriere machen. Spaß, muss auch mal sein. Es ist leider so, dass viele Menschen nur aus Mangel an Chancen auf der Seite der Entrechteten stehen. A Gun for Hire ist davon nicht so weit weg, nur der Waffenschein muss sein.

Und Reichsbürger gibt es, das haben wir schon mehrfach gesehen, auch wenn sie hier ihr Land Provinz Brandenburg nennen und Nationalisten aller Art natürlich auch. Der Realismusgrad ist also hoch und bezieht auch deutsch-polnische Geschichte ein. Ja, warum haben wir das jetzt so herum geschrieben und nicht „polnisch-deutsche Geschichte“? Vielleicht einfach der alphabetischen Ordnung wieder, aber Raczek hätte uns sicher eine Diskussion darüber geliefert, wie der armen Olga Lenski mit dem unverständlicherweise, obwohl es in Polen liegt, deutsch-polnischen Kommissariat. Sie: „Ich bin aber halbe Russin“. Er: „Noch schlimmer“ oder ähnlich, nur sinngemäß wiedergegeben. Das sind die Momente, die dann doch wieder nerven. Die Frau weiß tatächlich nach Jahren im Polen-Einsatz, in denen schon so viele Animositäten und Klischees durchgespielt, negiert oder bestätigt wurden, nicht, dass die Polen den Russen ebenso misstrauen wie den Deutschen? Auweia. Aber die deutsche Seite an ihr, das ist nicht der Herr von Winterfeld, denn ihm gegenüber befand sich ihre russische Mutter in der Résistance. Das wäre auch ein Kuddelmuddel gewesen, hätte sie gegen ihren eigenen Vater vorgehen bzw. ihn als den Drahtzieher hinter den Grundstückskäufen enttarnen müssen, die Todesfälle provozieren. Das wäre nicht Agro, sondern aggro abgelaufen. Vermutlich. Apropos Todesfälle: Es gibt in diesem Film drei, das ist unter Western-Durchschnitt, aber über Polzeiruf-Durchschnitt.Es gibt also doch Abweichungen von einer guten Pferdeoper. Und wir haben nicht mitbekommen, dass einer der offensichtlich in jenem ländlichen Raum in unterschiedlichen Preis- und Altersklassen gefahrenen Geländewagen Hafer frisst. Aber in düsteren Garagen stehen sie rum und haben keine Steuermarke.

Düster fand eine Kritik auch diesen Film. Die Person, die das geschrieben hat, war noch nie in Magdeburg. Das ist düster, da. Weil auch die Ermittler*innen so stockige Typen sind. Visuell ist „Heimatliebe“ in der Tat viel dunkler gehalten als die meisten Brandenburg-Polizeirufe, außerdem werden Lenski und Raczek wohl keine Freunde mehr für mehr. Möglicherweise war Lenskis Abgang schon bekannt, als dieser Film gedreht wurde, da reicht es, wenn man am Ende zusammen einen Joint raucht. Das Glimmstäbchen heißt ja nicht umsonst so, aber wir gehen davon aus, dass es trotzdem nicht zum Sex kam. Eher schon ist es eine Anspielung darauf, dass irgendwann mal Maria Simon, also Lenski, irgendwem in der Realität mal gesagt hat, sie habe mal einen Joint geraucht. Irgendwer in der Presse hat dann versucht, daraus einen Aufreger zu machen.

Finale

Ein Problem haben wir mit den meisten Polizeirufen, aber mittlerweile auch mit vielen Tatorten: Wir sind emotional ziemlich unterengagiert. Uns hat schon die bedrohliche Atmosphäre getriggert. Die ist ja auch gut gemacht und dominierte in unserer Wahrnehmung über das Düstere, aber dieses Mitgehen, Mitfühlen, das kriegen wir im Moment selten hin. Wir haben es echt versucht, schließlich herrsch tin Berlin der Mietenwahnsinn, ebenfalls eine Form der Verdrängung aus den eigenen vier Wänden, der gefühlten Heimat im Kiez. Was uns dabei aber immer wieder gelingt, nämlich uns in die Betroffenen hinzuversetzen, klappt jetzt bei den Krimireihen gerade nicht so gut. Klar: Das eine ist die tatsächliche, echte Realität, die Menschen, die um ihre Bleibe kämpfen, gibt es wirklich. Aber das ist sicher nicht der einzige Grund für das Ausbleiben der Verstrickung. Ein weiterer könnte sein, dass wir im Moment so viele Krimis sichten müssen wie lange nicht mehr, seit wir uns entschlossen haben, auch die Polizeirufe (inklusive möglichst vieler der bisher gedrehten) zu rezensieren. Das führt zu einer Rezensionsgeschwindigkeit, die alle früheren Phasen seit dem Start der „TatortAnthologie“ 2011 übertrifft. Aber was auch immer es ist, Topfilme können diese Mauer, die wir möglicherweise zum Schutz gegen allzu viel Verbrechen aufgebaut haben, immer wieder durchbrechen.

„Heimatliebe“ ist kein schlechter Film, es hat uns immer interessiert, wie es weitergeht, auch wenn wir früh eine gewisse Ahnung hatten. Ohne polnisch zu sprechen, sonst hätten wir die Identität zwischen dem früheren „Winterfeld“ und dem Namen des Bürgermeisters von Falkenhain vermutlich lange vor Olga Lenski auffällig gefunden, die dafür ziemlich lange braucht. Dafür fügen sich die beiden Handlungsstränge am Ende gut zusammen und man verliert nie den Überblick. Das ist ja auch wichtig für einen Western, dass er nicht so kompliziert ist wie zum Beispiel ein Krimi.

7,5/10

Vorschau

„Entgrenzung, Entwurzelung, Kleinstadtbürger, Großmannsträume – der „Polizeiruf“ fasst recht gut die Gemengelage der widersprüchlichen Gefühle zusammen, die den Nährboden für den extremistischen Heimatbegriff liefert. Gelegentlich verzettelt sich Filmemacher Bach im fast schon paritätischen Ausloten der unterschiedlichen nationalistischen Strömungen, dafür liefert er aber auch immer wieder brillante kleine Szenen über die Risse im längst nicht geeinten, fast schon wieder auseinanderbrechenden Europa.“ – Christian BußSpiegel Online[2] (Zitiert nach Wikipedia.)

Eher mittelbegeistert gibt sich eine Kritik vom SWR, der bekanntlich drei Tatort-Schienen fährt. Tittelbach-TV meint, der Film sei im Stil eines Westerns erzählt, was für den Brandenburg-Krimi ja nicht ganz untypisch ist, außerdem gibt es schon wieder (einen) Reichsbürger, schon wieder einen abgetrennten Finger und aus allen Kritiken gehrt hervor, dass der Film sehr politisch ist.

Nun wird auch Olga Lenski 2020 den Dienst quittieren, nachdem vor vier Jahren der altgediente und höchst beliebte Polizeimeister Horst Krause in den Ruhestand trat. Er wurde gerne als „Relikt“ bezeichnet, das war er aber gar nicht – denn es gab sowohl im Osten wie im Westen keinen Bezug zu einer ähnlichen Vorgängerfigur. Er war schlicht ein Unikum, das für die Träume von einer besseren, menschlichen Polizei als Freund und Helfer eine Projektionsfläche bot. Olga Lenski (Maria Simon) ist sicher seine kapabelste Dienstpartnerin gewesen, aber 2020 wird sich der Polizeiruf Brandenburg und wird sich Adam Raczek, mit dem sie seit drei Jahren gemeinsam an der polnischen Grenze ermittelt, neu einstellen müssen. Auf wen, wissen wir noch nicht. So ein richtiger Heimatort ist der Polizeiruf Brandenburg also nicht, anders als einige Tatortstädte, in denen Dienstkarrieren seit Jahrzehnten andauern.

Wir werden uns vor den Bildschirm setzen und für unsere Leser über den Fall berichten.

Nach „Kindeswohl“ und „Mörderische Dorfgemeinschaft“ ist „Heimatliebe“ der dritte Polizeiruf 110, den wir direkt nach der Fernsehpremiere rezensieren werden, nachdem im März 2019 der Entschluss fiel, die Tatort-Parallelreihe ebenfalls zu besprechen. In der Zwischenzeit haben wir über 50 ältere Filme der Reihe gesehen, die Rezensionen sind teilweise noch nicht veröffentlicht.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kriminalhauptkommissarin Olga LenskiMaria Simon
Kriminalhauptkommissar Adam RaczekLucas Gregorowicz
Andrzej SekulaMarcin Pietowski
Tomasz SekulaJoshio Marlon
Jenny SekulaAnna König
Helena von Seedow-WinterfeldGudrun Ritter
Roland SeedowHanns Zischler
Bernd Emil JaschkeWaldemar Kobus
Marek MajewskiTadeusz Chudecki
Inspektor Karol PawlakRobert Gonera
Starszy Aspirant Edyta WisniewskiKatharina Bellena
Polizeihauptmeister Wolfgang Neumann „Wolle“Fritz Roth
Komisarz Wiktor KrolKlaudiusz Kaufmann
Wojciech SekulaGrzegorz Stosz
Musik:Sebastian Pille
Martin Rott
Kamera:Wolfgang Aichholzer
Buch:Christian Bach
Regie:Christian Bach

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