Todesspiel – Tatort 896 #Crimetime 455 #Tatort #Bodensee #Konstanz #Blum #Perlmann #SWR #Tod #Spiel

Crimetime 455 - Titelfoto © SWR, Stephanie Schweigert

Boris-Syndrom am Bodensee

Die Handlung in einem Satz, ohne Auflösung: Ein wohlhabender Erbe wird am Abend nach einer Party, bei der ein russisches Schein-Roulette stattfindet, wirklich erschossen und Klara Blum und Kai Perlmann ermitteln in dessen Umfeld; obwohl meist geschwiegen wird, auf den Anwalt verwiesen oder nur das zugegeben, was die Kripo schon ermittelt hat, kommen die standhaften Bodensee-Cops weiter, besonders, weil Perlmann undercover geht und auf diesem Weg beinahe pleite. Hat uns das gefallen? Es steht in der -> Rezension.

Handlung

Der Millionenerbe Benjamin Wolters wird tot in seiner Villa aufgefunden. Zwei Schüsse aus kurzer Distanz, keine Einbruchspuren. Die Liste seiner Feinde ist so lang wie der Bodensee tief: Wolters war ein Zyniker, der es liebte zu provozieren, sich auf Kosten anderer zu amüsieren und sie von sich abhängig zu machen. Selbst die Mitglieder seiner Clique, die er am Tag zuvor bei Pizza und Champagner um sich scharte, kommen allesamt als Täter infrage. Freund Marcus, dem Benjamin die Freundin ausspannte, Nadine, die er gerade zugunsten einer anderen eiskalt abservierte, die neue Geliebte Alisa Adam, der einstige Casting-Star Daniel, der es leider nur auf Platz zwei schaffte und umso mehr von Benjamins gutem Willen abhing.

Rezension

Plus:

  • Klara Blum. Eva Mattes spielt wieder mit jener Leichtigkeit und Sicherheit, die von Fans ab und an mit Desinteresse verwechselt wird. Kaum Gestik, nur kleine Wechsel im Ausdruck, ab und an eine kleine Ansage an Perlmann, den Verdächtigen gegenüber immer neutral und professionelle Ruhe auch bei der Konfrontation mit verschnöselten Snobs oder versnobten Schnöseln bewahrend, bei denen andere KommissarInnen auf die Palme gehen würden und jederzeit mit passender Tonlage für den jeweiligen Dialog(satz) sprechend. Die am meisten gefestigte, die emanzipierteste und in ihrem Job ganz selbstverständlich wirkende unter den Tatort-Ermittlerinnen (1).
  • Idee zum Film. Eine interessante Geschichte, die zwei Welten aufeinander prallen lässt. Dass man dies aber kaum bemerkt, bewerten wir weiter unten.
  • Logik. Man muss es immer gesondert erwähnen, wenn ein Plot halbwegs fehlerfrei über die Zeit kommt, weil es alles andere als selbstverständlich ist. Über die Wahrscheinlichkeit der Handlung  und die Verwendung gewisser Tricks ist damit nichts ausgesagt, wie zum Beispiel die etwas gekünstelt wirkende Zuhilfenahme diverser Namensänderungen, damit die Täterperson nicht zu früh erkennbar wird. Dabei ist es hilfreich, dass der Plot nicht zu kompliziert gestaltet ist.
  • Winter in Konschtanz. Tatorte, in denen eher gefühlskalte Menschen agieren, lassen sich trefflich mit weißem Rieseln filmen, da entsteht die frostige Atmosphäre sozusagen gratis und die Wasserfahrzeuge der Yuppies fahren nicht in der Fahrrinnen-Überholspur, sondern verharren symbolisch korrekt in Docks oder an ihren Liegeplätzen.

Neutral:

  • Kai Perlmann. Der Urlaubsrückkehrer wird von Klara ein wenig missachtet, betätigt sich als Türöffner in die Clique der Snobs, was etwas zu schnell geht, um glaubwürdig zu sein, da wäre ein gutes auslösendes Ereignis besser gewesen als das schlichte Kennenlernen einer weiblichen Person in ihrer Boutique. Er wird zum Spesenritter wider Willen und nimmt in diesem Tatort beinahe die wichtigere Ermittlerrolle ein. Weil er so viel Spielzeit hat, fällt aber noch mehr auf als sonst, dass er immer irgendwie leicht gequält und zurückgenommen, zu sehr mit dem Vordergaumen sprechend daherkommt. Wie jemand, der ein wenig zu kurz gekommen ist. Seine Attitüde passt nicht zu den Leuten der Clique, denn den Verlierer, den alle anderen hätscheln oder demütigen, gibt es schon.
  • Nebenrollen. Da haben wir schon expressivere Leistungen gesehen, allerdings vorbehaltlich der Möglichkeit, dass die etwas flachen bzw. hohl wirkenden Figuren so gedacht sind. Nicht als Menschen mit außergewöhnlicher Persönlichkeit, sondern als Produkte einer sich immer mehr banalisierenden Welt mit dafür geeigneten Stereotypen wie dem Ex-Casting-Star oder dem koksenden Nichtstuer mit Geld von der Familie.
  • Botschaft. Ganz tolle Gesellschaftskritik, wieder einmal, wie schon in „Schmuggler“ vom selben Drehbuchautor. Warum dann kein Plus? Weil sie nicht deutlich genug rüberkommt. Man muss in Figuren quasi Dinge hineindeuten und sich über ihre kaum dargestellten Hintergründe Gedanken machen, um zu erkennen, was gemeint ist. Was man dann zu erkennen glaubt, wenn es so verdeckt dargestellt wird, ist zwangsläufig spekulativ. Da wir uns aber mit den Bodensee-Tatorten und der Haltung der Macher dieses Films schon ein wenig auskennen, wagen wir in dieser Rezension jene Spekulation.

Minus:

  • Spannung, Dramaturgie. Wir schätzen die ruhige Gangart der Bodensee-Tatorte durchaus und haben immer wieder betont, dass gerade diese die intensive Beschäftigung mit Figuren befördern kann, die Konzentration aufs Zwischenmenschliche. Aber: Man kann’s auch übertreiben und die Spannungskurve zu flach gestalten. Das nicht ganz neue Element „Russisches Roulette“ hätte man akzentuierter gestalten können, hauptsächlich aber gibt es zwei andere Gründe für den Mangel an Dynamik. Zum einen, dass die Figuren nicht genug pointiert gegeneinander, die Welten nicht genug in Kontrast gesetzt werden. Zum anderen, dass dieser Film ungewöhnlich redundant für einen modernen Tatort ist. Wir konnten ihn dadurch mitten in der Nacht nach einem Abend auswärts noch schauen, ohne den Faden wegen evtl. nicht mehr ausreichender kognitiver Fähigkeiten zu verlieren. Für die Wiederveröffentlichung hinzugefügt: Wir sind aber auch nicht eingeschlafen, was ja in den letzten Jahren häufiger vorkam. Mehr verbale Zusammenfassung dessen, was bisher geschah als hier zwischen Blum und Perlmann in „Todesspiele“ war selten. Am Ende noch ne Rückblende oder zwei. In Wirklichkeit sind es viele, denn die nervigen Videos von der und über die Clique muss man hinzurechnen. Wir hatten das Gefühl, stellenweise überinformiert zu sein, aber dadurch, dass die entscheidenden Fakten nicht schrittweise, sondern am Ende sehr plötzlich kommen, wirkt jenes Ende zu sehr herbeizitiert.
  • Verschenkte Aspekte des Themas. Dazu gehört im Grunde schon die oben erwähnte Botschaft, aber sie deutlicher zu machen, hätte einer anderen Herangehensweise bedurft.
  • Täterperson, Tatmotiv, Tatausführung(en). Passen nach unserer Meinung nicht wirklich zueinander.

II. Fließtext

Wir befassen uns in ihr ausschließlich mit den Figuren und dem gesellschaftlichen Panorama – was wir eingangs zu dem Film in seiner Funktion als Krimi geschrieben haben, reicht u. E. aus, denn der Krimi tritt hinter dem zurück, was man aus den Figuren lesen oder in sie hineininterpretieren kann.

Im Grunde ist „Todesspiele“ ein soziales Lehrstück und eine große Tragödie. Man merkt nur viel zu wenig davon. Das Drama, ja die klassische Tragödie zum Schluss verpuffen in einer zu flachen Inszenierung, die nicht auf Kontraste angelegt ist, wie wir es hier für besser gehalten hätten, sondern sich auf das Zeigen flacher Menschen beschränkt und damit Chancen vergibt. Denn die Täterperson ist alles andere als uninteressant, wenn man sie auf eine Weise genau betrachtet, zu welcher der Film den durchschnittlichen Zuschauer leider nicht animiert. Wir setzen also die Kontraste, die im Tatort nicht hinreichend herausgearbeitet werden:

Die Welt der snobistischen Stereotypen. Es gibt einen reichen, privatisierenden, koksenden Erben namens Benjamin Wolter mit einem Schloss, in dem sich die Clique trifft. Sein bester Kumpel ist Marcus (mit „c“, um der ambitionierten Person gerecht zu werden), eine Möchtegern-Heuschrecke, die Benjamin gefallen will, aber auch in Konkurrenz zu ihm steht. Dann ist da der Casting-Zweite Daniel Gabler, dessen Karriere ausläuft, bevor sie richtig begann. Um diese Männer kreisen: die blonde Nadine, die zum Zeitvertreib eine Boutique betreibt, aber sich den Kunden gegenüber so arrogant verhält, dass kein Umsatz stattfinden kann, die dunkelhaarige Alisa, mit der Benjamin Sexspielchen oder -praktiken durchziehen will, welche diese nicht schätzt, was zu einem Streit führt und vielleicht zu einem Motiv.

Alle diese Menschen stehen für Auswüchse unserer Gesellschaft, unseres aus den Fugen gehenden Kapitalismus.

Der Erbe taugt zu nichts als zu seinem Vergnügen, bringt sich in keiner Weise irgendwo ein. Der Jachtbesitzer versucht, einen örtlichen Mittelständler übers Ohr zu hauen und die Mehrheit an dessen Firma an eine Schweizer Gruppe zu schanzen, wofür er eine Millionenprovison erhalten soll. Ausgerechnet Klara Blum gibt dem sympathischen Chef dieser Maschinenbaufirma aber einen Hint, der die Pläne des Marcus Pracht (diese sprechenden Namen!) durchkreuzt. Produktionsbetriebe mit echten Arbeitsplätzen und echter Wertschöpfung = guter Kapitalismus, auch wenn die Expansionsgeschwindigkeit als zu schnell dargestellt wird, wodurch die Firma Fremdkapital benötigt und anfällig für Einflüsse Dritter wird, die nur am Absahnen Interesse haben, nicht an strategischer Partnerschaft. Also gemäßigt guter Kapitalismus mit Größenwahn-Streifen drin. Equity Fonds = mieser Kapitalismus. Nach kurzer Zeit wird durch Weiterverkauf und Zerschlagung Kasse gemacht, ohne jede Rücksicht auf gewachsene Strukturen und Arbeitsplätze.

Der Casting-Star. Kann nicht singen, wie wir in einer Nachtclub-Szene erfahren. Wird von irgendeinem Privatsender, dessen Name zu erwähnen zu viel der Aufmerksamkeit wäre, gehypt und fallen gelassen. Ein Niemand war er vor dem Casting, ein Niemand ist er wieder, abhängig von den anderen in der Clique, die wirtschaftlich stärker sind. Unterschied zur Realität: Sollte das Vorbild Voice of Germany sein, dann muss gesagt werden, die Sieger und gut Platzierten können wirklich singen und meist auch ganz anständig performen. Ob sie zu Stars werden, hängt von vielen Faktoren ab. Meist aber passiert das nicht. Denn Star oder dauerhaft erfolgreich werden, erfordert auch mentale Voraussetzungen wie im Ernstfall das Sich-Hochkämpfen über Jahre. Auch dieser Mensch schafft keine Werte und macht niemandem Freude außer ein paar wenigen Zuschauern und Groupies wie Beckchen, naiven Naturen also, die Abends vor dem Fernseher sitzen und sich aus dem Leben zoomen und die unrealistischen Träume der Stars teilen. Früher, als nicht nur die Hochintelligenz Bücher in die Hand nahm, haben diese Charaktere Schnulzenromane gelesen. Hier sehen wir den minderwertigen, den Kapitalismus, der auf den Hang des Menschen zur Verblödung im Sumpf der modernen Medienwelt setzt, die er nicht mehr beherrscht, sondern die ihn beherrscht. Personen ohne Eigenschaften schauen sich tagaus, tagein Personen ohne Eigenschaften an. Daniel Gabler = Der Junge, der in die Löwengrube der Medienwelt und der Snobcliquen gerät, der Ruhm nicht erarbeiten, sondern aufgabeln will und am Ende nur Brosamen erntet, aber aus der Grube nicht mehr herausfindet.

Die oberschnöselige Boutiquière ergänzt dieses Panorama um einen gutaussehenden, aber unglaublich leeren und narzisstischen weiblichen Typ, den wir irgendwie zu kennen glauben. Eltern mit Geld, aber ohne Zeit für die Kinder und ohne Fähigkeit zum Vermitteln von Werten, ersatzweise ihre Kinder materiell vollstopfend, sind der gedachte Hintergrund. War’s an der Uni, wo wir ihn trafen? Ganz sicher. Aber auch schon in der Schule. Diese Zicke hat es nicht einmal nötig, den Kram zu verkaufen, den sie anbietet. Das ist der absurde, an sich selbst erstickende Kapitalismus ohne jeden Sinn. Jedoch, der Gag mit der Fleckenschere war der beste in einem eher ernsten Film.

Dann die ebenfalls sehr attraktive, aber dunkelhaarige Alisa. Der Vorname macht stutzig, weil er nicht ins Snob-Schema passt. Zunächst wirkt sie wie ein natürliches Mitglied der Gruppe. Architekturstudium, nette Wohnung, weite Welt an die Wände geschrieben. Nur ein Tisch, alles andere verpackt, wirkt unbehaust, eine typische Nomadin unserer Tage. Aber es ist alles ganz anders.

In Wirklichkeit ist sie die Rächerin ihres jüngeren Bruders, der wirklich in die Gruppe geraten ist und dessen jugenliche Naivität dazu geführt hat, dass er sich selbst erschoss – im Verlauf eines dieser berüchtigten Todesspiele, die von Menschen gespielt werden, die so abgestumpft sind, dass sie sich nur noch spüren, wenn der Nervenkitzel im Tod enden kann. Auch wenn es normalerweise nicht echt ist. Dass es nicht echt ist, lässt es andererseits lächerlich wirken.

Alisa und Boris kamen als Kinder aus Bosnien nach Deutschland, er war drei Jahre, sie etwa zehn. Sie haben ihre Eltern im Krieg verloren und als Kinder sicher schon Gewalt erlebt und wussten, dass das Leben jederzeit enden kann. Sie sind also traumatisiert, doch alles scheint sich zum Guten zu wenden, als sie nette Adoptiveltern finden. Sie wachsen behütet auf und Alisa behütet weiter den kleinen Bruder. Das Foto, auf dem sie ihn trägt, ist eines der Symbole im Film. Die Adoptiveltern  haben vermutlich keine eigenen Kinder, die dabei helfen könnten, unsere hiesige Gesellschaft für die beiden bosnischen Kinder zu öffnen oder auf kindliche, intuitive Art erklärbar zu machen.

So werden sie in einer persönlichen Umwelt groß, die in Ordnung ist, aber auchin einer Gesellschaft, die zynisch und kalt ist. In der Menschen leben, die keine einschneidenden Dinge mehr erlebt haben und die sich Gewaltspiele und Gewaltrituale ausdenken müssen, um sich noch wahrnehmen zu können. Keine Entbehrungen, keine Herausforderungen, keine Verantwortung, keine Persönlichkeit, die über das eigene Ego hinausdenken kann.

Das Gegenteil von Alisa. Sie wird noch einmal traumatisiert, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr Bruder in Gefahr ist, sich zu verlieren. Zu einfältig ist, die Manipulationen der Taugenichtse zu durchschauen. Noch einmal spürt sie ihre Ohnmacht und den Tod in ihrer Nähe, wie damals, als sie die Eltern verlor, vielleicht die Nachbarn. Als die gegnerischen Truppen vielleicht perverse Spiele mit der Bevölkerung trieben, die ihnen ausgeliefert war. Äußerlich  merkt man Alisa das nicht an, beinahe bis zum Ende nicht, dass sie eine wahrhaft tragische Figur ist. Sie richtet sich am Ende selbset, weil sie glaubt, sie habe versagt und es ist ein ironischer und gleichzeitig bitterernster Rekurs auf ein Spiel, das für sie kein Spiel ist.

Sie ist handelt aus Verzweiflung, nicht aus Langeweile und mangelndem Respekt vor dem Leben, wie die Cliquen-Mitglieder und doch ist das Ergebnis das gleiche. Ob aber der Rachefeldzug realistisch ist? Eher nicht. Im Grunde wird daher trotz des insgesamt sehr ruhigen Tatorts auf zu viel Effekt gesetzt. Traumatisierte Menschen verhalten sich normalerweise nicht wie Alisa, sondern werden meist depressiv (2).

Dies alles muss man sich sozusagen aus dem Off erschließen, mit dem Nachteil, dass man erst beim späteren Nachdenken über Alisas Schicksal berührend findet. Dann kommt man aber auch dahinter, dass hier ein billiger Knalleffekt im wörtlichen Sinn für die Mehrheit der Zuschauer organisiert wurde, als sie sich erschießt, und nur eine Minderheit wird diese Gedankenlinie aufbauen, die wir aus professionellen Gründen vergleichsweise leicht herstellen können – und aus der Erfahrung mit nunmehr fast 300 rezensierten Tatorten. Wir hätten uns sehr gewünscht, dass man dies alles mehr ans Publikum vermittelt, um das Thema mit deutlicher sichtbarer Tiefe zu inszenieren.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir weitere Menschen, die von den Snobs in Mitleidenschaft gezogen werden: Die ebenfalls traumatisierte Julia Nobbe, die auch einmal zur Clique gehörte und deren Vater Klaus (gespielt vom Tatort-Köln-Staatsanwalt „Dr. Scheer“, Thomas B. Martin), der bei der örtlichen Bereitschaftspolizei ist. Damit wird der Verdächtigenkreis erweitert, der Eindruck verstärkt, dass diese Clique Unheil verbreitet, aber auch diese beiden Figuren werden nicht ausgeleuchtet. Klar, man kann das nicht bei jedem Charakter tun, aber bei manchen sollte man es tun.

III. Finale

In manchen Tatortstädten werden die sozialen Anliegen oft überdeutlich, quasi mit dem Holzhammer an die Zuschauer vermittelt. Die Bodensee-Schiene wahrt normalerweise gut die Balance, gehört zu den Konzepten, die ein Anliegen haben, aber uns Raum geben, uns nicht bevormunden, sondern durch Zeigen anstatt durch langatimige Erklärungen auf uns einwirken. Ein wenig nachteilig wirkt sich aus, dass die Vorzüge des Konstanzer Schemas sich bei der intensiven Betrachtung von Bäckerfamilien, Künstlern am See, Mittelständlern aller Art usw. besser zeigen als bei einem Milieu, das es zwar gibt, aber das trotzdem ein wenig befremdlich und konstruiert wirkt. Wo keine interessanten Figuren, da keine Möglichkeit, interessiert Betrachtungen übers Menschliche anzustellen. Alisa wird uns hingegen aus Gründen der Handlungsführung – weil sie nicht zu früh als Täterin aufschreien darf – viel zu spät nahegebracht. Wir identifizierten uns mit ihr erst nach dem Ende des Tatorts, blieben während des Films hingegen wachsam, aber nicht emotional engagiert.

Vorzüge und Nachteile von „Todesspiele“ halten sich beinahe die Waage, aber die Hintergründe, die wir so ausgestaltet haben, wie es unserer Vorstellung entspricht, haben zu einer der längsten Tatort-Rezensionen bisher geführt. 

7/10

(1) Wir betonen Letzteres auch, weil wir erneut erhebliche Kritik an der vorgeblich modernen, zu Blum aber sehr konträren Lindholm-Figur üben mussten (wie schon in „Schwarzes Herz“ – hier ein Platzhalter für die noch nicht veröffentlichte Rezension von „Vergessene Erinnerung“.

(2) Unsere Beobachtung (wir sprechen nur für Berlin und das uns bekannte Umfeld) ist die, dass überdurchschnittlich viele Frauen aus den östlichen Nachbarstaaten Deutschlands oder dem Ex-Bürgerkriegs-Jugoslawien mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben oder mit anderen Belastungsstörungen, mit Depressionen, die daraus resultieren, weil die frühern Erlebnisse und / oder die Anpassung an unsere deutsche Gesellschaft mit ihren hohen beruflichen Anforderungen bei gleichzeitigem Mangel an Empathie im Alltag schwerfallen. Soziale Kontexte, die bei diesen Menschen wichtiger sind als bei uns, die wir über Generationen immer mehr gelernt haben, ohne das warme Nest der Großfamilie auszukommen und die wir seit Generationen auf Leistung getrimmt wurden und dass diese wichtiger ist als das Menschliche, stehen unter Stress, müssen sich ständig beweisen, reiben sich an der hiesigen Wirklichkeit mit ihren Gefahren anderer Art wie Abgleiten Jugendlicher in Sondermilieus, Drogen, Gewa. Dass auch wir längst an unsere Grenzen gestoßen sind, aber es teilweise nicht merken, weil wir den Zugang zu uns selbst verloren haben und wir so lange weitermachen, bis es nicht mehr geht und daher, wenn wir endlich behandelt werden, meist die schwereren Störungen aufweisen, ist die andere Sache.

© 2019, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Klara Blum Eva Mattes
Kai Perlmann Sebastian Bezzel
Annika Beck Justine Hauer
Pathologe Wehmut Benjamin Morik
Marcus Pracht Torben Liebrecht
Daniel Gabler Daniel Roesner
Nadine Weiss Alexandra Finder
Alisa Adam Anna Bederke
Benjamin Wolters Michael Pink
Klaus Nobbe Thomas Balou Martin
Julia Nobbe Samantha Richter
Katharina Sanders Britta Horn
Dr. Wiedemann Brian Lausund
Rudolf Sauerwein Bernd Kohlhepp
Spurensicherer Manfred Lucha
Putzfrau Heidi Vogel-Reinsch
Musik Florian Peter, Benjamin Fröhlich
Kamera Stefan Sommer
Buch Birgit Grosz und Jürgen Pomorin
Regie Jürgen Bretzinger

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