Tod durch elektrischen Strom – Polizeiruf 110 Fall 141 / Crimetime 465 // #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Strom #Wende #DDR #Kollektiv

Unter Strom stehen in der Zeit des Wandels

„Es war die 141. Folge der Filmreihe Polizeiruf 110. Oberleutnant Jürgen Hübner ermittelte in seinem 61. Fall und Oberleutnant Lutz Zimmermann in seinem 23. Fall. In Anbetracht der politischen Entwicklungen wurde im Film konsequent auf die durchaus übliche Anrede Genosse in Gesprächen zwischen Polizisten verzichtet. Die Kritik nannte den Fall bzw. die im Film dargestellte Problematik rückblickend „zwar in der DDR brisant … aber nun, anderthalb Jahre später, nur noch […] Schnee von gestern. Die Fahrlässigkeit zu kritisieren, mit der Pläne erfüllt wurden, kam zu spät. Die Planwirtschaft war pleite.“[3]

Handlung

Frühjahr 1989: Bei abendlichen Aushubarbeiten für eine geplante Abwasserleitung verhakt sich der Greifer des Baggers in Wurzelgestrüpp, wie Baggerführer Herbert Wilke vermutet. Er versucht, den Greifer mit einer Eisenstange zu lockern und beschädigt dabei das Starkstromkabel einer Kabeltrasse. Herbert wird vom Stromschlag getötet. Seine Frau Sonja hatte ihn von ihrem Haus aus stets im Blick, war doch ihr Liebhaber Sebastian Brauner heimlich bei ihr zu Besuch. So sieht sie die vom Strom ausgelösten Blitze, alarmiert die Notrettung und lässt sich von Sebastian zum Unfallort fahren. Sebastian fährt kurz darauf, will er doch nicht in die Sache hineingezogen werden.

Oberleutnant Jürgen Hübner und Oberleutnant Lutz Zimmermann übernehmen die Ermittlungen. Bei der Vernehmung gesteht Sonja, dass sie sich von ihrem Mann trennen wollte. Nun erfährt auch Sohn Thomas, dass die Ehe seiner Eltern am Ende war. Bald wird auch deutlich, dass die Arbeit nachlässig ausgeführt wurde. Herberts Schachtplan fehlt und es zeigt sich, dass der Bürgermeister und der Beauftragte des Kreisbauamtes die von Herbert markierte Trassenführung aus Bequemlichkeit zwar abzeichneten und genehmigten, jedoch nicht vor Ort überprüften. So wäre deutlich geworden, dass Herbert die Lage des Stromkabels nicht markiert hatte. Bald fragen sich die Ermittler, ob er überhaupt von dem Hauptkabel wusste. In einem Plan, der sich in Herberts Unterlagen findet, ist das Kabel nicht verzeichnet. Zudem stellt sich heraus, dass der Verantwortliche für die Planausgabe Sebastian Brauner war. Er sagt aus, dass der Plan, der in Herberts Arbeitskleidung gefunden wurde, noch aus der Zeit seines Hausbaus vor einigen Jahren stammte. Zwar lag zu dieser Zeit das Kabel bereits, doch erhielten die Hausbauer einen Plan aus dem Jahr 1979, in dem das Kabel nicht eingezeichnet war. Für die Hausbauer war es unerheblich, sodass von einem älteren, bereits existierenden Plan der Einfachheit halber Kopien angefertigt wurden.

Zufällig erfahren die Ermittler, dass Herbert für anstehende Arbeiten kurz vor seinem Tod einen Bauwagen nach Schwetzdorf bringen ließ. Hier findet Lutz Zimmermann eine weitere Arbeitsjacke Herberts, in der der korrekte Schachtplan steckt. Herbert hatte ihn einfach in Schwetzdorf vergessen und aus Zeitgründen auf den alten, ihm vorliegenden Plan zurückgegriffen, wollte er doch unbedingt an diesem Abend weiterarbeiten. Das nicht eingezeichnete Stromkabel vergaß er dabei. Sein Tod ist ein einfacher Unfall, auch wenn zahlreiche Institutionen versagt haben: Sie überprüften Herberts Arbeit nicht ordnungsgemäß, weil er ein verlässlicher und erfahrener Arbeiter war, ließen ihn nach Dienstschluss arbeiten und wiesen ihm schrottreife Arbeitsgeräte zu, wie den störanfälligen Bagger, dessen verhakter Greifer erst den Unfall auslöste. Jürgen Hübner deutet an, nicht in der Haut des entscheidenden Staatsanwalts stecken zu wollen.

Rezension

Man hat Brisanz ein wenig gefakt, indem man einen Film im Januar 1990 dreht und die Handlung ins Frühjahr 1989 verlegt. Wir hatten aber erst nach dem Anschauen recherchiert, wann der 141. Tatort produziert wurde – wie immer wollten wir den Film zunächst unbeeinflusst von Zusatzinformationen anschauen. Er hätte auch 1989 gedreht sein können, denn seine Machart und Optik sind noch DDR-Standard, das ist bei andere Polizeirufen der „140er-Serie“ schon nicht mehr so eindeutig der Fall, obwohl sie zum Teil fast zeitgleich oder nur wenige Monate später entstanden sind. Daher wirkt zunächst alles sehr authentisch und das macht es spannend. Eine Krimihandlung hätte es für uns gar nicht gebraucht, damit wir gefesselt gewesen wären. Es gab schlussendlich auch keine – es sei denn, man verbucht die gesammelten Fails als kriminell. Offenbar sieht Oberleutnant Hübner das so, denn er fragt sich, wie der Staatsanwalt nun mit einem tragischen Todesfall umgehen wird, für dessen Eindritt so viele Ursachen zusammenkommen mussten – inklusive solcher, die der Mann selbst gesetzt hat, der durch elektrischen Starkstrom starb.

Er hat nämlich die falsche Karte bewusst verwendet, weil er unter Zeitdruck stand und die richtige nicht mehr aus dem recht weit entfernt stehenden Bauwagen abholen wollte, in dem sein Kittel hing, in dem er sie hatte stecken lassen. Und hat er einen Anteil daran, dass er den ollen Bagger verwendete, der nicht mehr betriebssicher war? Der Fall eignet sich sehr gut, um ein Referat über Kausalität zu halten – über strafrechtliche Kausalität insofern, als hier eine geballte Ladung Fahrlässigkeit zum Tod eines Bauwerkers geführt hat.

Jedenfalls hat eine ganze Reihe von Personen dazu beigetragen, dass dieses Unglück passiert, und zwar in der Form, dass es ohne jeden einzelnen dieser Beiträge nicht zu diesem Unfall gekommen wäre. Keine dieser größeren oder kleineren Ursachen kann hinweggedacht werden und es wäre dasselbe Ergebnis eingetreten. Trotzdem meinen wir, niemand wird verurteilt werden – in der DDR gab es möglicherweise die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht, die zur Kausalität hinzutreten muss, damit wenigstens auf objektiv-tatbestandlicher Ebene ein Delikt bejaht werden kann. Wenn man nur die reine Kausalität hernimmt, kann man strafrechtliche Tatbestände sehr extensiv bejahen. Wohl aber nicht im 141. Polizeiruf, denn ohne das fahrlässige Zutun von Wilke selbst wäre er nicht umgekommen.

So endete also das Leben eines eifrigen Aktivisten, der immer zwischen Belobigung und Verweis pendelte. Ein bisschen müssen wir lächeln, weil bestimmte Typen es tatsächlich drauf haben, in einem Moment für Bewunderung und im nächsten für Ärger zu sorgen.

Wir müssen aber trotz der Zurückverlegung der Handlung um etwa 9 Monate, die gemäß der oben zitieren Kritik die Brisanz rausnimmt, eine Lanze für die Darstellung verschiedener Probleme im DDR-Arbeitsalltag brechen. Der Unterschied zu früheren Polizeirufen ist die Versammlung aller Probleme in einem Film, die zuvor meist einzeln dargestellt wurden. Schlamperei, die Verbrechen erst ermöglicht, oftmals ziemlich leicht nutzbare Gelegenheiten schafft, ist in vielen DDR-Polizeirufen zu besichtigen, wir haben schon eine eigene Betrachtung dazu geschrieben, weil es das in Tatorten in dieser konzentrieren Form nicht gibt. In frühen Tatorten sind eher trickreiche und auch ruchlos vorgehende Kriminelle zu sehen, die z. B. einen Geldtransporter mit einem ausgeklügelten Plan überfallen und das Geld an sich bringen, obwohl die Fahrer und das ganze Sicherheitssystem überhaupt keinen Fehler gemacht haben – es hatte nur einfach bisher niemand ein diese Begehungsweise gedacht. Das ist sicher kognitiv etwas höher angesiedelt, als die Variante, dass recht einfache Tatausführungen möglich sind, weil der Schlendrian im Betrieb es den Dieben leicht macht.

Das Problem muss mindestens ab den 1970ern real gewesen sein, denn schon in den frühen Polizeirufen ist es zu besichtigen, exemplarisch greifen wir „Kein Paradies für Elstern“ heraus, weil der Film einem realen, zum Zeitpunkt des Drehs nicht gelösten Fall nachgebildet wurde, in dem es gleich zwei nicht vorsichtschriftsmäßige Handlungsmuster gibt. Die Schlüsselverwaltung und das Wegschließen von Schmuckware nach dem Ende der täglichen Öffnungszeit. Das ringen um ordentliche Arbeit ist in vielen Polizeirufen der DDR-Zeit unübersehbar und hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen, dass die reale Ausprägung des Sozialismus offenbar die Menschen nicht zu maximaler Präzision motiviert hat, obwohl es doch so viele Auszeichnungen für verdiente Arbeitskräfte gab, im Westen höchstens mal ein kostenfreies Schulterklopfen.

Die andere Seite ist: Wendet man das System nur richtig an, kann nichts passieren. Auch das ist typisch. Ein Fehler trotz sehr genauer Arbeitsauffassung ist darin nicht vorgesehen und auch nicht, das das System selbst Schwachstellen hat, wenn die Seite, die es aushebeln will, auf etwas kommt, welche die Ersteller des System nicht vorausgesehen hatten. Eines aber ist in Tatorten und Polizeirufen gleich: Man versucht, Verbrecher nicht so darzustellen, dass sie bewundert werden und ihre Taten möglicherweise zur Nachahmung reizen – in der Regel jedenfalls. Man geht anders heran: Wie das System selbst haben im Westen auch diejenigen, die es überwinden, irgendwelche Schwächen oder machen irgendwelche Fehler, die zur Aufdeckung führen, im Osten vermied man es generell, sie als besonders versiert darzustellen. Letztere Variante führt dazu, dass gute, spannende Plots nicht gerade einfach zu konstruieren sind, aber sie haben das in den Polizeirufen doch immer mal wieder geschafft.

Ein zweites Problem taucht auch in „Tod durch elektrischen Strom“ auf und stellt eine auffällig häufig gezeigte Aufstellung von Personen adar: Die Fragilität von Beziehungen. Niemand scheint in der DDR eine funktionierende Ehe geführt zu haben, immer kam es zu unerfüllten Sehnsüchten, zu Partnerwechseln, zu Patchworks, die wieder ihre eigenen Fallstricke aufwiesen. Auch im Westen wurde derlei vor der Wende schon häufig gezeigt, aber doch nicht so dominant. Ganz so durchgängig wird es auch nicht gewesen sein, wir können schon Plotelemente, die einen Fall anreichern sollen, von der Realität unterscheiden. Die Polizeirufe sind auch eine Verdichtungsform, wie das Westpendant Tatort – aber kein Rauch ohne Feuer, wenn es um den gesellschaftlichen Realismus geht.

Wir haben auch ein Auge auf den Zustand von Wohngebäuden und Betriebsanlagen. Auf diesem Gebiet zeigen sich ebenfalls signifikante Unterschiede zum Westen, die sicher nicht zufällig mal ins Bild geraten sind – und das spiegeln, was wir 1990 bei unserm ersten Besuch „drüben“ selbst wahrgenommen hatten. Hier müssen wir im Wege der Veröffentlichung drei Monate nach dem Entwurf der Rezension etwas beifügen: In letzter Zeit haben wir einige Polizeiruf aus der DDR-Zeit angeschaut, die deutlich hochwertigere Sets aufweisen.

Die informelle Art der Bauwirtschaft, die wir auch hier wieder sehen, ist ein weiteres Sonderthema. Offenbar standen privaten Bauherren keine Firmen zur Verfügung, die sie hätten beauftragen konnten, sodass sie sich immer an Bekannte wenden mussten, die auf staatlichen Bauhöfen (PGHen) arbeiteten, damit man mit abgezweigtem Material doch mal eine Datsche oder gar einen Bungalow erstellen konnte. Im Grunde wäre das logisch, denn der private Wohnungsbau war sicher nicht Teil eines großangelegten Eigentumsförderungsprogramms, wie in der BRD mit ihren riesigen Einfamilienhaus-Neubaugebieten. Wenn man sich angesichts heutiger Politik wundert, warum viele Menschen immer noch so konservativ sind, dann liegt es auch daran, dass sie selbst oder ihre Vorfahren tatsächlich kleinbürgerliche Träume verwirklichen konnten und das macht eben einen Menschen konservativ, weil er etwas hat, das er bewahren möchte, wie es ist.

Große Neubaugebiete gab es in der DDR eher in Form von Plattensiedlungen, die aber in Polizeirufen erstaunlich selten gezeigt werden, obwohl sie damals doch das Prunkstück sozialistischer Entwicklung des Wohnungsmarktes darstellten. Immerhin gab es 1985 in einer Gemeinde den Beschluss, 19 (!) Siedlungshäuser bauen zu lassen, das erfahren wir in „Tod durch elektrischen Strom“. Auch hier eine Anmerkung anlässlich der Publikation: Altbauwohnungen dominieren eindeutig, aber es gab nun auch einige Szenen in K70-Bauwerken zu besichtigen. Wir vermuten, dass man aus ideologischen Gründen das Verbrechen nicht zu oft in diesen Monumenten des wohnungswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts ansiedeln wollte.

Finale

Mit nur 69 Minute Spieldauer kehrt „Tod durch elektrischen Strom“ fast zu den Anfängen zurück, als die Polizeirufe in der Regel etwas über 60 Minuten lang waren und ist mit so vielen Fakten gespickt, dass er sehr wendungsreich wirkt – fraglos ein guter Whodunit, der eine wirklich tragische Erkenntnis erbringt: Niemand hat Wilke umgebracht, obwohl es Menschen mit Motiven gab, es war das Versagen vieler, auch sein eigenes, das zu seinem Tod führte. Obwohl er nach wenigen Spielminuten tot ist, entsteht durch die Aussagen Dritter ein sehr plastisches Bild von ihm und gleichzeitig von seiner Privat- und Arbeitswelt. Das ist gut gemacht. „Tod durch elektrischen Strom“ ist zwar zeitlich ein Übergangs-Polizeifilm, aber im Januar 1990 wusste niemand, wie es genau weitergehen würde, erst die Volkskammerwahl vom März brachte Klarheit: Anschluss der DDR an die BRD in Form des Beitritts nach Art. 143 GG. Da war „Tod durch elektrischen Strom“ aber noch nicht ganz fertiggestellt. Es muss ein seltsames Gefühl gewesen sein, an diesem Film mitzuarbeiten.

7,5/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

 Regie Peter Hagen
Drehbuch Horst Ansorge
Produktion Hans-Erich Busch
Musik Conrad Aust
Kamera Rolf Sohre
Schnitt Christine Schöne

Jürgen Frohriep: Oberleutnant Jürgen Hübner
Lutz Riemann: Oberleutnant Lutz Zimmermann
Jörg Kleinau: Leutnant Rödel
Renate Blume: Sonja Wilke
Olaf Hais: Thomas Wilke
Peter Prager: Sebastian Brauner
Otmar Richter: ABV Karl Teterow
Helmut Schellhardt: Hermann Meißner
Peter Mohrdieck: Matthes
Wilfried Pucher: Bürgermeister Pfühlberg
Rose Becker: Nachbarin
Iris Bohnau: Mitarbeiterin Kreisbauamt
Solveig Müller: Marianne Teterow
Bertram Bolz: Schulz
Hans-Joachim Brieske: Bungalowbesitzer
Werner Ehrlicher: Leiter VPKA
Holger Franke: Energiewirtschaftler
Gerd Funk: Energiewirtschaftler
Roman-Eckhard Galonska: Schichtleiter Konsum-Großbäckerei
Werner Kanitz: Bauarbeiter
Herbert Manz: Bauherr
Detlef Neuhaus: Kriminaltechniker
Gerd Staiger: Bauleiter
Rainer Doering: Bauarbeiter
Gunnar Helm: Bauarbeiter
Peter Kaden: Weigel
Werner Kos: Mitarbeiter Bauaufsicht
Dieter Perlwitz: Willi
Knut Schultheiß: Bauarbeiter

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