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Crimetime 561 - Titelfoto BR / Bavaria Film / Hauri

Der letzte Winterschnee

„Schneetreiben“ steht auf Platz 13 von 83 Tatorten des Teams Batic und Leitmayr, in der Gesamtrangliste des Tatort-Fundus auf Platz 72. Das ist eine ausgezeichnete Bewertung für diesen Winterfilm, der am 18. Dezember 2005 Premiere feierte. Damals hatten wir Deutschland gerade verlassen. Wir sollten nun aber nicht schreiben, oh ja, wir wissen noch, wie kalt – denn gedreht wurde das Werk natürlich einige Monate früher, nämlich vom 31. Januar bis zum 3. März 2005. Und dieser vorausgehende Winter war für uns nicht so prägnant, dass wir sagen könnten: Kalt war’s. In den letzten Jahren wäre es zunehmend schwieriger geworden, solche Filme zu machen, in denen die Eiseskälte zur Atmosphäre beiträgt – denn in München wird der Schnee auch immer unzuverlässiger. Was es tatsächlich um Film zu schreiben gibt, steht in der -> Rezension.

Handlung

Winter in München. Die offiziellen Wetteraufzeichnungen sprechen von einem der kältesten Tage in der bayerischen Landeshauptstadt seit Menschengedenken. Nach einem Schneesturm findet ein Förster am Rande eines Gewerbegebiets im Münchner Norden die blutjunge Stefanie Thaller: halb nackt und erfroren.

Selten standen die Kriminalhauptkommissare Franz Leitmayr und Ivo Batic mit derart dürftigen Hinweisen einem Mordfall gegenüber, und der Vater der Ermordeten, Ludwig Thaller, ein fliegender Händler, sitzt den Ermittlern ständig im Nacken. In den Mittelpunkt der Befragungen geraten zum einen der eigenwillige Discobetreiber Kris Stanislas, zum andern zwei nassforsche, aber erfolgreiche junge Herren: Oliver Hufland und Jasper Bruckner. Sie haben ihr Vermögen beim New Economy-Boom gemacht und sind dadurch ins Kreuzfeuer neidischer Staatsanwälte geraten. Die Tote aber haben sie nicht gekannt.

Zu den nervenaufreibenden Recherchen für Batic und Leitmayr plagt Oberkommissar Carlo Menzinger noch ein anderer Fall: Sophie Berger und Max Kanther von der Dienstaufsichtsbeschwerde werfen Menzinger vor, die Punkerin Pinky bei der Vernehmung zu hart angepackt zu haben.

Rezension

Eines ist bei diesem Film herausragend gut gelungen: Die Zeichnung einer Epoche kurz vor der Bankenkrise, die Darstellung von Typen, die schon an der Grenze der Unfähigkeit, sich selbst und die Außenwelt wahrzunehmen, angelangt sind. Die koksenden Yuppies sind geradezu prophetische Vertreter einer Alters- und einer beruflichen Klasse, die mit dazu beigetragen hat, die Wirtschaft an den Abgrund zu führen, auch wenn die Protagonisten der Bankenkrise im Schnitt etwas älter waren.

Gefühllos, gewissenlos und dann so klein im Angesicht des großen Schneetreibens, das sich Leben nennt. Sie vernichten das Leben anderer ohne Bedenken und werden selbst vernichtet, ohne es noch richtig wahrzunehmen. Mord, Insidergeschäfte, alles geht durcheinander, nur die Frau im Dreieck ist ein eher konservativer Typ, der sich, obgleich vom schönen Leben beeindruckt, am Ende distanziert.

Aber vorbei ist es noch lange nicht. Die kränkelnde Wirtschaft, die aus Geld Geld generieren soll, wird seit vielen Jahren mit Notbeatmung über Wasser gehalten, zulasten der Mehrheit, zugunsten einer Blase, wie sie im Film gezeigt wird. Zu ihr rechnen wir durchaus den herrischen Chef der beiden Jungzocker, denn im Grunde geht es nicht darum, dass jemand versucht hat, dieses System auszunutzen und in die eigene Tasche zu wirtschaften, dass er Informationen zum persönlichen Vorteil verwendet hat, die ihm beruflich zuflossen, sondern darum, dass es die Möglichkeiten überhaupt gibt, die solches Verhalten herausfordern.

Demgegenüber die Welt des mobilen Gewerbetreibenden, des Vaters des Opfers. Auch sein Tun ist einer gnadenlosen Marktlogik unterworfen, aber selbstverständlich steht er auf der Seite derer, die sich abrackern, nicht derjenigen der Profiteure. Dann wird ihm in einem Akt sinnloser Zerstörungswut die Tochter genommen, die einzige Person, die ihm Halt gibt. Aber so hartnäckig, wie er seinen Stand betreibt, hängt er sich an die Polizei, misstraut der Polizei, arbeitet unaufgefordert an der Aufklärung mit, ist schneller als die Polizei, kann doch nichts erreichen. Die Unwiderbringlichkeit eines sinnlos ausgelöschten Lebens im Schneetreiben des Lebens wird geradezu körperlich spürbar.

Wie finden sich die beiden Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr darin wieder? Schon damals sehr routiniert, aber auch unter Druck. Dieses Mal nicht dadurch, dass es gegen die Uhr geht, dass dringendst Ergebnisse präsentiert werden müssen, dass vielleicht der Täter erneut morden könnte. Nein, es ist der Vater, der nunmehr nicht relativ, nicht prozentual, sondern vollkommen Einsame, der dies spürt: Für die Ermittler ist der Fall seines Lebens ein Fall von vielen. Wir waren uns nicht sicher, ob das leicht Hilflose, oft etwas verschoben wirkende, das Udo Wachtveitl  und Miroslav Nemec, die Darsteller von Leitmayr und Batic, zeigen, ob das gespielt oder echt war, jedenfalls hat es stellenweise amateurhafte Züge.

Wir mussten ein wenig darüber nachdenken, warum man Carlo Menzinger, den Dritten auf der Polizeistube, mit solch einer seltsamen Nebenhandlung ausgestattet hat. Damit er überhaupt ins Spiel kam? Oder weil sein Kampf gegen eine Falschaussage eine eigene Bedeutung hatte? Die Punkerin, die ihm eine Dienstaufsichtsbeschwerde einbrachte, als letztlich doch Gegenmodell zu den abgefuckten Neoliberalen? Eine, die sich gegen die Staatsmacht auflehnt, aber dann doch Mitleid hat, als Carlo im Treppenhaus mit solch einem Hundeblick zu ihr aufschaut? Wie der gesamte Film ist auch diese Szene ausgezeichnet fotografiert, das kann man auch 15 Jahre nach seinem Entstehen noch sagen – und wir meinen, sie soll diese Bedeutung haben. Klarzustellen, dass nicht die Restanten einer längst im Rückzug begriffenen Alternativkultur das Problem darstellen, sondern der gefährliche, psychisch nicht selten auffällige Mob, der im Turbokapitalismus Karriere macht. Auch der Club, in dem Studentinnen arbeiten und in dem Roeland Wiesnekker Dienst tut, passt ins Schema. Eine seltsame Welt, die nie als mit Leben erfüllt dargestellt wird, in der nie so viel los ist, dass er sich nach üblichen kaufmännischen Maßstäben tragen könnte. Man ahnt es schon: Dunkle Geschäfte im Untergrund halten das Etablissement aufrecht.

Finale

„Schneetreiben“ ist ein unangenehmer, kühler Film, der dem Zuschauer viel von der gemütlichen Sicherheit wegnimmt, die in vielen anderen München-Tatorten vermittelt und durch Batic und Leitmayr und, bis 2006, Carlo Menzinger, personifiziert wurde. Auch hier gibt es wieder das übliche kleine Bashing dem dienstgradmäßig niederen Kollegen gegenüber, aber dadurch, dass dieser so unter Druck steht, kann man nicht darüber schmunzeln oder sich über dieses Hierarchische echauffieren, man hat Mitleid. Dass die beiden anderen dieses Mal auch in Unsicherheit geraten, weil sie von einem entschlossenen Vater gestalkt werden, der seine Tochter wegen eines wirklich furchtbaren, unsinnigen Mordes verloren hat, verstärkt das Gefühl von Vagheit und Unsicherheit, das der Film auslöst.

„Schneetreiben“ ist auch ein Sittenbild, das einen Ausschnitt der Gesellschaft beleuchtet, der erst dadurch entstanden ist, dass im neoliberalen Schneetreiben Grundwerte verloren gingen. Charaktere werden privilegiert, die jedwede soziale Anbindung an andere oder sich selbst vermissen lassen. Der Film wirkt nicht wie ein „Sozialtatort“, ist es aber. Er prangert die Gefühllosigkeit einer Welt an, die gerade dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Dafür hatten die Macher ein geradezu prophetisches Gespür. Bis heute ist die alte Ordnung nicht wiederhergestellt und sie wird auch nicht mehr herzustellen sein. Wir sehen ein System, das in allen Fugen ächzt, weil es nur noch in dauerhafter Notverwaltung aufrecht erhalten werden kann und das keine Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen zu liefern im Stande ist. Die New Economy der 1990er und frühen 2000er schafft kaum neue Werte, heißt heute Industrie 4.0 und hat mit Industrie im herkömmlichen Sinn nicht mehr viel zu tun, sondern sorgt nur dafür, dass die Margen in der Verwertungskette immer mehr schrumpfen.

Die Mentalität, die hier beleuchtet wird, gibt es immer noch, selbst das Porsche-SUV, einer Fahrzeugklasse zugehörig, die damals noch eher selten war, ist ein Symbol dafür, wie es eigentlich immer schlimmer geworden ist, allen kaum zu übersehenden Krisenzeichen zum Trotz. Kalte Winter gibt es kaum noch, vielmehr brennt es auf der Welt immer häufiger, aber menschlich wärmer ist es nicht geworden. Im Gegenteil. Immer mehr frisst sich die Vernichtung sozialen Denkens jetzt auch ins Politische hinein und wirft dunkle Schatten, die vom Gestern direkt ins Übermorgen hineinreichen. Das zumindest war 2005 noch nicht abzusehen.

8,5/10

© 2020 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kriminalhauptkommissar Ivo Batic – Miroslav Nemec
Kriminaloberkommissar Carlo Menzinger – Michael Fitz
Kriminalhauptkommissar Franz Leitmayr – Udo Wachtveitl
Ludwig Thaller – Michael Brandner
Oliver Hufland – Wanja Mues
Jasper Bruckner – Jan Henrik Stahlberg
Stefanie Thaller – Katja Jerabek
Hanna Senft – Nina-Friederike Gnädig
Katja Weiss – Edita Malovcic
Kris Stanislas – Roeland Wiesnekker
Max Kanther – Johannes Herrschmann
Sophie Berger – Nicole Belstler-Boettcher
Angelika Zabert – Jenny-Marie Muck
Arzt – Klaus Haderer
Forstwirt – Aloisius Landgraf
Pathologe – Wolfgang Czeczor
u.a.

Drehbuch – Claus Cornelius Fischer
Regie – Tobias Ineichen
Musik – Fabian Römer

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