AE 612 ohne Landeerlaubnis – Tatort 10 #Crimetime 777 #Tatort #Hamburg #HH #Trimmel #NDR #Landen #Starten

Crimetime 777 - Titelfoto © NDR

Kampf in den Wolken

Die Boeing 777 gab es im Jahr 1971 noch nicht, die Textnummer in der Rubrik „Crimetime“ passt trotzdem irgendwie. Doch „die erste Flugzeugentführung in Deutschland“ ist ein 103 Minuten langer Mega-Tatort, eine der wohl aufwendigsten Produktionen bis heute. Auch wenn für die Darstellung der Maschine „AE 612“ ein Modell verwendet wurde, allein das viele Personal an verschiedenen Drehorten und das im Griff behalten der vielen Schauplätze mit einem guten Schnitt ist für damalige Fernsehverhältnisse außergewöhnlich. Keine Frage, dass der NDR mit solchen Filmen und seiner zweiten Schiene Schleswig-Holstein und dem überaus beliebten Kommissar Finke in der Anfangszeit der führende Tatort-Sender war. Das Selbstbewusstsein spürt man auch heute noch – nicht mehr so sehr in Produktionen, die jene anderer Sender überragen, aber auf eine Weise, die es uns ermöglicht, ein weiteres Rezensionskapitel aufzuschlagen. Dazu und mehr steht einiges in der – sic! -> Rezension.

Handlung (Wikipedia)

Max Bergusson wartet und beobachtet am Flughafen Mailand-Malpensa sichtlich nervös einen arabischen Mann und folgt ihm in die Stadt und wieder zurück zum Flughafen. Obwohl Bergusson ein Ticket für den Flug nach Hamburg hat, bucht er ein Ticket für den Flug AE 612 via Athen nach Beirut, als er sieht, dass der Araber für diesen Flug eincheckt. Bergusson versucht, Kriminalhauptkommissar Trimmel zu erreichen und lässt diesem ausrichten, dass er am Abend am Flughafen Hamburg auf ihn warten solle.

Trimmel kennt Bergusson noch aus einem ein Jahr zurückliegenden Fall. Die Ehefrau von Bergusson war in Hamburg einem palästinensischen Bombenanschlag zum Opfer gefallen, der Tatverdächtige Femal Racadi musste damals jedoch aus Mangel an Beweisen freigelassen werden. Bald kann ermittelt werden, dass sowohl Bergusson als auch Racadi an Bord der AE 612 sind.

Etwa zu dieser Zeit entführt Bergusson die Maschine und zwingt die Piloten, beizudrehen und nach Hamburg anstatt nach Athen zu fliegen. Er will die Verhaftung Racadis durch Trimmel und dessen Verurteilung erreichen, da er sich mit dem Ermittlungsergebnis von damals nicht abfinden kann.

Trimmel findet mit Hilfe eines untergebenen Polizisten bei der Durchsicht der alten Akten und Asservaten heraus, dass aus Teilen eines Radios, das seinerzeit bei der damaligen Freundin Racadis sichergestellt wurde, der Zeitzünder der Bombe gebastelt worden war, was Racadis Täterschaft nunmehr eindeutig beweist. Trimmels Assistent kann in einer Diskothek den ehemaligen Komplizen von Racadi und später in der Wohnung die ehemalige Freundin von Racadi festnehmen. Letztere beteuert, dass Racadi nicht die Absicht hatte, mit dem Anschlag jemanden zu töten, sondern dieser nur auf die Lage der Palästinenser aufmerksam machen wollte.

Unterdessen bemerkt Racadi an Bord, dass die Maschine die Richtung geändert hat. Er bringt eine Stewardess in seine Gewalt, um eine erneute Kursänderung in die ursprünglich geplanten Flugziele zu erzwingen. Nach Verhandlungen erreicht der Kapitän, dass er zuerst nach Hamburg fliegt, dort alle Passagiere freigelassen werden sollen und die Maschine dann mit Racadi und der Crew nach Beirut fliegt.

Angeregt durch einen Vorschlag von Trimmel zwingt Bergusson die Piloten, anstatt auf dem Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel auf dem MBB-Flughafen-Finkenwerder direkt an der Elbe zu landen. Bergusson dirigiert die Maschine so dicht wie möglich an das Elbufer, damit die Maschine möglichst nicht wieder starten kann.

Nachdem alle Passagiere freigelassen wurden, plant Bergusson, Racadi aus dem Cockpit heraus zu erschießen, doch Racadi erzwingt die Öffnung der hinteren Tür. Nachdem der Pilot entgegen Bergussons Anweisung die hintere Tür geöffnet hat, ist dieser einen Moment unaufmerksam, und es gelingt dem Copiloten, Bergusson zu überwältigen und ihn der Polizei zu übergeben.

Racadi flieht mit seiner Geisel auf einem Polizeiboot. Als Freiwilliger, der das Boot steuern soll, meldet sich Fluglotse Jürgens. Dieser ist der Freund der Geisel. Ihm gelingt es, Racadi zu entwaffnen. Während die beiden Männer kämpfen, springt ein Polizist in das Boot und gemeinsam können die beiden Männer Racadi überwältigen.

Rezension

Die Idee zu dem Film basiert vermutlich auf der spektakulären fast gleichzeitigen Entführung dreier Passagiermaschinen durch palästinensische Luftpiraten nach Jordanien am 9. September 1970 („Skyjack Sunday“), die von ihnen anschließend gesprengt wurden. Tote gab es dabei nicht, alle Geiseln wurden im Austausch gegen palästinensische Gefangene (insgesamt 7) freigelassen, einer der Gefangenen saß in Deutschland ein. Damit begann ein Jahrzehnt bisher nicht gekannten Terrors verschiedener Gruppen und Varianten, bezüglich der Entführung von mehreren Passagiermaschinen innerhalb kurzer Zeit erst wieder erreicht am Tag des bisher größten Anschlags auf zivile Ziele außerhalb von Kriegsgebieten – dem 11. September 2001. Und jetzt muss man sich noch die Tatsache ins Gedächtnis rufen, dass zwei der Selbstmordattentäter-Entführer in Deutschland, in Hamburg, gelebt hatten.

Wenn man die weitere Entwicklung der Dinge betrachtet, muss man sagen, vor allem im letzten Drittel des Films wird der palästinensische Flugzeugentführer viel zu harmlos dargestellt, am Ende wird er sogar von einem liebestollen, eifersüchtigen Fluglotsen überwältigt. Aber es ist auch anders geworden, seit der Djihad eine wichtige Rolle spielt, nicht mehr vorwiegend der palästinensische Befreiungskampf. Dass Attentäter bedenkenlos selbst in den Tod gehen und daher nicht auf das Schließen von Kompromissen ausgerichtet sind, macht sie ungeheuer gefährlich.

In Deutschland lagen auch die blutigen RAF-Anschläge noch voraus und erst aufgrund des Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft während der Spiele von 1972 in München wurde hierzulande die Gefahr des Terrors so ernst genommen, dass man beispielsweise die Sondereinheit GSG 9 bildete, die dann tatsächlich im Jahr 1977 bei der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu eingesetzt wurde und sich bewährte. Sie ist nicht zu verwechseln mit Bundeswehr-Spezialeinheit KSK, die jüngst wegen Rechtstendenzen ins Gerede gekommen ist.

Trotz der Tatsache, dass „AE 612 ohne Landeerlaubnis“ aus heutiger Sicht stellenweise verspielt und etwas overacted wirkt, ist er der Weiser zu einem Weg, der nicht weiterverfolgt wurde – nämlich die Reihe Tatort zum Schauplatz internationaler Thriller zu machen. Hin und wieder gibt es Auslandsbezüge, aber nicht in dieser konzentrierten Form. Vor allem ist es sehr selten, dass ein Tatort gleich in einem anderen Land beginnt – und dass in den ersten zehn Minuten der einzige verständliche Satz „Are you okay“ oder ähnlich lautet, ausgesprochen von einem weiblichen Gast des Mailänder Flughafens, als Max Bergusson von seiner eigenen Kühnheit schlecht geworden ist. Dieser begleitende, fast dokumentarisch wirkende Einstieg ist typischer Zeitstil der frühen 1970er, damals sehr innovativ, heute nicht mehr genommen, weil zu langsam. Wir fanden diese Exposition zwar auch etwas überdehnt, aber es ist doch spannend, zuzuschauen, wie jemand sich in Aktion setzt und niemand weiß, worum es geht. Die Geduld muss man eben haben und darf während der Zeit das Kopfkino von der Leine lassen.

Der Plot einer doppelten Fugzeugentführung, wobei die zweite auf der ersten basiert, ist so außergewöhnlich wie der ganze Film und verliert erst im erwähnten schwächeren Schlussdrittel seine konsequente Entwicklung. Der Palästinenser Racadi hätte mehrere Möglchkeiten gehabt, um seine Lage wesentlich günstiger zu gestalten. Eine davon wäre gewesen, den Entführer Bergusson in der Kabine damit zu konfrontieren, dass dieser entweder sich stellt oder er die Flugbegleiterin, die er in seiner Gewalt hat, seinerseits tötet oder wenigstens verletzt, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Dass man ihm am Schluss die hintere Luke öffnet und riskiert, dass er entkommt, obwohl die Passagiere schon in Sicherheit sind, ist angesichts der versammelten Übermacht an Polizisten ebenfalls ein wenig unterambitioniert. Aber: Es gab eben noch keine Spezialeinheit für Fälle wie diesen und damals sind auch nicht ganz normale Streifenpolizisten herumgelaufen wie Gestalten aus dystopischen SF-Filmen, nur in dunklen Monturen; die SEKs, die nächst niedrigere Stufe zur GSG 9, wenn man so will, sind ebenfalls erst später eingerichtet worden. Die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte waren im Inneren vergleichsweise friedlich und die Vorbereitung auf die Rückkehr der Gewalt demgemäß kaum vorhanden.

Die Aufgeregtheit, besonders von Kommissar Trimmel, bei gleichzeitig relativer Sanftheit der Staatsmacht, wirkt nicht einmal unauthentisch. Die Unruhen in den Städten hatten zwar begonnen, aber in Hamburg war bis zu dem Zeitpunkt noch niemand bei einer Demonstration gestorben. Hätte man das Ende härter gefilmt, wäre „AE 612 ohne Landeerlaubnis“ ein richtiger Avantgarde-Thriller geworden, geradezu prophetisch. So aber haben wir das Kuriosum zu notieren, dass er zu den vergleichsweise wenigen Tatorten gehört, in denen nicht ein einziger Mensch getötet wird. In den ersten Jahren der Reihe kam das aber doch etwas häufiger vor als heute, wo immer mal wieder nach neuen Rekorden beim Bodycount geschielt wird.

Was „AE 612“ weiterhin auszeichnet, ist das kompromisslose Spiel. Trimmel wirkte schon damals vermutlich wie ein Fossil und qualmt und grummelt und schnauzt sich durch den Film und legt sich mit jedem an, Max Bergusson ist ebenso entschlossen wie ängstlich und man weiß nicht, ob man ihn verrückt oder sympathisch finden soll, wie er da – nun ja, Selbstjustiz ist es ja nicht, sondern eher Zuführung an die Justizbehörden – ausüben will, mit einer Chance von vielleicht Eins zu Zehn, dass das gutgehen kann. Bei versierten Terroristen als Gegnern wäre es auch nicht gutgegangen. Die Cockpitbesatzung wird ebenso überzeugend gespielt wie die verschiedenen Charaktere bei der Flugsicherung und dann greift auch noch das US-Militär in Deutschland ein und fängt AE 612 noch vor der Ostgrenze ab, denn der Entführer will sich zwischenzeitlich nach Berlin-Schönefeld absetzen. Selbst dies ist nicht undenkbar – die Änderung der Destination aufgrund neuer Ereignisse und Wendungen.

Ein paar Konzessionen werden auch an den Humor gemacht, etwa bei den Cockpitszenen, der Flugverkehrssprache und vor allem bei dem schwulen Paar, dessen Teil mit den schwächeren Nerven versucht, sich sozusagen freizukaufen, indem es dem Palästinenser Drogengeld anbietet. Dieses sowie Schusswaffen konnten damals wohl problemlos an Bord einer Passagiermaschine gebracht werden. Beim Check In mal kurz in die Tasche oder den Koffer geguckt, fertig. Das war damals tatsächlich so, auch wenn man’s heute nicht mehr glauben mag und trotz der spätestens seit „Goldfinger“ (1964) bekannten Tatsache, dass Herumballern in einem Luftfahrzeug während des Fluges böse Folgen haben kann.

Finale

Nun aber zur Auflösung des nicht als solches deklarierten Rätsels, das wir in der Einleitung gestellt hatten. Eine neue Ära begann gestern noch einmal mit der Rezension zum Polizeiruf „Ende einer Mondscheinfahrt“ aus dem Jahr 1972. Aufgrund der im neuen Mediaplayer entweder erweiterten oder wesentlich übersichtlicher dargestellten ARD-Mediathek nehmen wir uns nun alle Tatorte und Polizeirufe schrittweise vor, die wir noch nicht gesehen haben – und zwar chronologisch und in einem Wechsel, der gewährleisten soll, dass wir immer die Jahrgänge der West- und der Ostreihe etwa parallel bearbeiten. Bezüglich der Tatorte scheint es aber größere Lücken zu geben oder eine andere Art der Verwaltung der Mediathek. Es ist auffällig, dass der NDR viele seiner alten Schätze zugänglich macht, während es beim Polizeiruf vor allem den Anschein hat, dass man sich viele Filme anschauen kann, die in letzter Zeit nicht wiederholt wurden. Seltsamerweise hatte man die Jahrgänge 1972, 1973 kaum gezeigt, die Mediathek erlaubt uns nun aber das Schließen großer Lücken. Vielleicht ist dies das letzte große Krimi-Abenteuer, in das wir uns begeben – aber es umfasst auf jeden Fall mehrere hundert Filme, die wir noch nicht gesehen haben. Inklusive der Produktionen, die in den ARD-Programmen wiederholt werden und die wir noch nicht gesehen und rezensiert haben.

Der Auftakt in der Mediathek abgerufenen Tatorte war sehr vielversprechend und wir freuen uns auf die Hebung weiterer Preziosen aus der Tatort- und Polizeiruf-Historie.

7,5/10

© 2020 (Entwurf 2019) Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Peter Schulze-Rohr
Drehbuch Friedhelm Werremeier
Produktion Dieter Meichsner,
Wolfgang Theile
Kamera Niels-Peter Mahlau
Schnitt Karin Baumhöfner
Besetzung

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