Sturm im Kopf – Polizeiruf 110 Episode 349 #Crimetime 1019 #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Rostock #Bukow #König #NDR #Sturm #Kopf

Crimetime 1019 - Titelfoto © NDR, Christine Schroeder

Weiter, immer weiter!

Es kommt ganz dicke, in diesem Film. Er ist atemlos und lässt uns als Zuschauer kaum eine ruhige Sekunde. Privat wird zwar nur KHK Sascha Bukow gebeutelt, nicht seine Kollegin Katrin König. Von der fernen und von der näheren Vergangenheit. Dem Frust und dem Angriff des Sexualverbrechers. Aber die Handlung verwebt Fall und Nebenaspekte zeitlich so, dass Beteiligte, Verdächtige, Cops und natürlich auch wir vor dem Fernseher nicht mehr aus dem dichten Netz herausfinden, hängen gleiben und hilflos der Macht der Gefühle ausgeliefert sind, die sich im 349. Polizeiruf zu einem Sturm im Kopf entwickeln. Wie dieser Sturm inszeniert wird, ist in der -> Rezension nachzulesen.

Handlung (Wikipedia)

Auf einem ehemaligen Werftgelände in Rostock wird die Leiche von Achim Hiller entdeckt, der Chef der Firma „Hilgro Wind AG“ war, die zahlreiche Arbeitsplätze in der Region geschaffen hat. Er wurde durch mehrere Kugeln getötet, hat aber noch alle Wertsachen bei sich – ein Raubmord scheidet daher aus. Noch während der ersten Ermittlungen des Teams Katrin König und Alexander Bukow wird in der Innenstadt von Rostock ein verwirrter Mann aufgegriffen, der sich sicher ist, einen Mord begangen zu haben. Er wird daraufhin in eine Klinik gebracht und die Polizei verständigt. Schnell finden Bukow und König heraus, dass der Patient Max Schwarz heißt und bei den Hilgro-Werken als Systemadministrator arbeitet. Er selbst kann sich an nichts Konkretes erinnern, sodass die Ermittler auf weitere Untersuchungen angewiesen sind. Die behandelnde Ärztin geht davon aus, dass ein traumatisierendes Ereignis der Auslöser seiner Amnesie ist.

Katrin König wird von einem Journalisten darauf aufmerksam gemacht, dass in der letzten Woche an drei überregionale Tageszeitungen Mails verschickt worden sind, in denen darauf hingewiesen wurde, dass man Informationen über die Hilgro-Werke habe. König vermutet, dass Schwarz der Absender ist, da die Art und Weise, wie die Nachrichten verschickt wurden, auf große Sachkenntnis schließen lässt. Schwarz könnte durch seine Arbeit an sensible Daten der Firma gelangt sein und mit diesen Hiller erpresst haben. König weiß, dass Hiller 2007 in den Fokus der Steuerfahndung gelangt war, nachdem seiner Bauholding Subventions- und Steuerbetrug in Millionenhöhe vorgeworfen worden war. Die Ermittlungen wurden seinerzeit jedoch eingestellt, da die Beweislage nicht ausreichte. Diese Vermutung wird bestärkt, als das Auto von Schwarz gefunden wird. Nachweislich befand sich dort eine große Summe Bargeld, die Schwarz jedoch im Auto zurückließ, als er zu Fuß in die Stadt irrte. Bukow findet Hinweise auf eine Affäre zwischen Hiller und Nina Schwarz. Das würde erklären, warum Max Schwarz sich nicht mit dem Geld zufrieden gab, sondern seinen Nebenbuhler gleich noch beseitigte. Dass er einen Flug nach Costa Rica gebucht hatte, wie weitere Ermittlungen ergeben haben, würde gut ins Bild passen.

Während die Ermittler versuchen, sich Stück für Stück der Wahrheit zu nähern, interessieren sich auch das LKA und die Staatssekretärin Carola Willkotte für den Fall. Paul Weigert, ein ehemaliger Vorgesetzter von König, will den Fall übernehmen und versucht Bukows Vorgesetzten unter Druck zu setzen. Daraufhin äußert sich König nun auch endlich vollständig zu den damaligen Vorkommnissen, denn sie hatte 2007 mit den Ermittlungen um Hiller zu tun. Nach langen Bemühungen hatte sie seinerzeit die Hauptzeugin so weit, dass sie gegen Hiller aussagen wollte. Mysteriöserweise wurde sie kurz darauf von einem Unbekannten überfahren. Auch die Tochter der Frau kam dabei ums Leben und der Todesfahrer konnte angeblich nicht ermittelt werden. Diese Vorkommnisse belasten König noch heute, weshalb sie verbissen um die Lösung in dem Mordfall Hiller kämpft.

Anton Pöschel findet inzwischen heraus, dass Hillers Sekretärin sechs Millionen Euro von der Bank abgeholt hatte, aber nur zwei waren in Schwarz’ Tasche gefunden worden. Somit käme doch ein Raubmord in Betracht, da es offensichtlich Mitwisser der Erpressung gab.

Um Max Schwarz aus seiner Amnesie zu holen, will König es mit einer Rekonstruktion der Tat versuchen. Die beiden Ermittler fahren mit Schwarz zum Tatort, bemerken aber nicht, dass sie beobachtet werden. Schwarz erinnert sich inzwischen an eine Musik, die er gehört haben will; noch während er sie den Ermittlern vorsummt, wird er von einer Gewehrkugel tödlich getroffen. Bukow und König verfolgen den Schützen, können ihn aber nicht lebend stellen, sodass sie nichts über mögliche Auftraggeber erfahren. Für sie stellt es sich so dar, dass Hillers Leibwächter, Max Brock, die Geldübergabe an Schwarz verfolgt und seinen Chef brutal erschossen hat. Dem schockierten Schwarz hat er eine der drei Geldtaschen in der Hoffnung überlassen, dass man diesen für den Täter halten würde. Dass Schwarz von dem Vorfall so traumatisiert war, dass er sein Gedächtnis verlor, konnte er nicht ahnen, es kam ihm aber sehr gelegen. (…)

Rezension

Sascha Bukow säuft am Ende eine ganze Flasche Klaren, weil er so allein ist. Mit Kollegin König findet zwar zwischendrin eine Umarmung statt, aber es soll noch bis ins Jahr 2020 dauern, bis sie sich endlich richtig küssen. Welch ein Leidensweg. Mit dem Kollegen Thiessler kann sich Bukow nicht so recht austauschen, weil er ihm erst einmal die Lippen blutig geschlagen hat, wegen dessen Verhältnis zu Frau Bukow. Und Pöschel weint vor sich hin, nachdem er den Harten gegenüber einer attrakriven Zeugin geben musste, obwohl er mit ihr im Bett war. Nie ist mal was einfach.

Dafür wird es für mich langsam einfacher, die komplette horizontale Rostock-Erzählung nachzuvollziehen. Rostock zählt zu den wenigen Polizeiruf- oder Tatort-Städten, in denen eine echte Figurenentwicklung gemanagt wird, dies nun schon seit zehn Jahren und in vieler Hinsicht in einem unnatürlichen Schneckentempo, aber immerhin. Deswegen: Wer es erübrigen kann und den Zugang hat, sollte die Filme aus der Ostsee-Hansestadt als Neueinsteiger chronologisch anschauen. Aber das Puzzle zusammenzufügen, ist auch ganz reizvoll und in „Sturm im Kopf“ kommt wieder ein wichtiges Stück hinzu: Wie Frau Bukow in einem Aufwasch das Verhältnis mit Thiessler und die Ehe mit ihrem Mann endgültig beendet hat. Ich kann’s nicht ändern, ich dachte: Jungs freut euch, es kann nur besser werden! Wird es ja bei Bukow auch, einige Jahre später und falls man ihn und König nicht im nähsten Film wieder zurücknimmt. Das Sauertöpfische an Vivian und Bukows Bukowski-like Art, sich voll reinzuschmeißen und alle Emotionen freizulassen, das passt einfach nicht und der Kollege hat auch noch zu viel vor sich, um sich an einer Frau abzuarbeiten, welche die Polizeiarbeit des Partners nicht verkraftet oder deren Bedingungen nicht akzeptiert.

Wie viel besser mit König! Anneke Kim Sarnau kann auch dieses Mal wieder viel aus der Figur herausholen, auch ohne Backstory. Ihre Art zu handeln und zu reden, ist einmalig unter den deutschen Polizeikommissarinnen bzw. weicht von allen anderen deutlicher ab als deren Habitus untereinander. Sie ist einfach super spannend, weil sie zwar im Ganzen einigermaßen berechenbar im professionellen Sinn ist, aber in vielen Details ist sie sehr individuell. Die Besetzung der beiden Haupt-Ermittlerfiguren mit Charly Hübner und Sarnau war vielleicht der Geniestreich der 2010er Jahre, mit dem der NDR allerdings auch massive Fehler wie Hamburg / Tschiller oder die zu starke Einflussnahme ihrer Darstellerin auf die Lindholm-Filme, das zu schnelle Ende von Batu etc. ausgleichen musste – und zuletzt auch die Tatsache, dass Klaus Borowski in Kiel nicht mehr die famosen Drehbücher bekommt wie noch vor einigen Jahren.

Das gesamte Fünferteam in Rostock ist einfach stimmig, häufig dissonant, aber selten künstlich verzickt, immer emotional mittendrin und eigentlich mögen alle einander doch sehr. Bis auf Pöschel, bei dem bin ich mir bezüglich seines Mindsets nie ganz sicher und ich finde es okay, dass mir diese Ungewissheit nicht genommen wird.

Allerdings ist „Sturm im Kopf“ auf ein Film, der psychologische Grundkenntnisse nahezu voraussetzt, damit man es als realistisch einstufen kann oder nicht, wie Max Schwarz die Erinnerun an die entscheidende Nacht seines Lebens verliert und daher nicht mehr weiß, dass er ein Erpresser in großem Stil, aber kein Mörder ist. Das ist schon recht kurios und irgendetwas sagt mir, dass man mit dieser Geschichte den Boden der möglichen Tatsachen ein wenig verlassen hat, aber einen Riesenvorteil hat diese Plotgestaltung: Man kann jederzeit von den Whodunit in den Howcatchem wechseln, es hängt ganz davon ab, welche Stelle man als dramaturgisch besonders geeignet ansieht. Man hält das Konzept des Rätselkrimis relativ lange durch, gibt aber mittendrin schon die Epressungsgeschichte zumindest grundsätzlich preis – und am Ende ist der Täterexzess ein Fake und trotzdem – nicht logisch. Auch ein- oder zweimal Schießen reicht aus, um Schmauchspuren zu verursachen.

Finale

Die Handlung hat durchaus ein paar Wackler, nicht alles, was wir sehen, ist zwingend, obwohl die Involvierung der Politik auf eine Weise, die oft Interessenkonflikte offenlegt, obwohl Pannen bei der Planung und dem Bau von Großprojekten eher die Regel als die Ausnahme sind und Systemadministratoren selbstverständlich Zugang zu elektronisch abgelegten Firmeninterna haben – vor allem die Figur des wirklichen Täters wird zu spät aus dem Hut gezogen bzw. so gezeigt, dass seine Beteiligung in Erwägung gezogen werden kann, um sinnvoll ein Mitraten von Beginn an zu ermöglichen. Es sei denn, man wechselt auf die Meta-Ebene: Es gibt nur eine Figur, die plötzlich ins Spiel gestellt wird, ohne dass man sich nachher sagen kann: Ach so! War ja klar. Ein bisschen Selbstbetrug gehört manchmal eben auch dazu.

Dafür ist der Film durch das Spiel fast aller wichtigen Darsteller*innen spannend, weil sie ihren Charakteren diesen Drive verleihen. Und einige Situationen sind krass gut: Thiessler sitzt halb benommen auf dem Boden, nachdem ihm Bukow eine verpasst hat, schaut von dort, aus einer Position, die er normalerweise bei der Durchsuchung einer Wohnung nicht einnehmen würde, nach oben und entdeckt den in der Glasschale der Wandlampe abgelegten Schlüssel zu mehr Erkenntnis. Eigentlich hätte er den auch im Vorbeigehen sehen können, wenn er sehr aufmerksam gewesen wäre, aber die Szene ist witzig und nicht undenkbar. Sehr flüssige Übergänge und eine außergewöhnlich gute Verdichtungsmethode, die mehrere Themen nahtlos ineinander übergehen lässt, zählen zu den weiteren Merkmalen von „Sturm im Kopf“. Ein echter Rostocker, alles drin, alles dran, was es für 90 sehr unterhaltsame Krimi-Minuten braucht.

8,5/10

© 2021 (Entwurf 2020) Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Christian von Castelberg
Drehbuch Florian Oeller
Produktion Iris Kiefer
Musik Eckart Gadow
Kamera Martin Farkas,
Roman Schauerte
Schnitt Dagmar Lichius,
Antje Zynga
Besetzung

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