Crimetime 1078 – Titelfoto © BR, Foto Sessner
Raus aus den Wohnheimen, rein in die Beheimatung!
Der Fall Wohnheim Westendstraße ist der 63. Fernsehfilm der Krimireihe Tatort. Vom Bayerischen Rundfunk produziert, wurde die Episode am 9. Mai 1976 im Ersten Programm der ARD erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um den 7. Fall von Kommissar Veigl, dargestellt von Gustl Bayrhammer.
Den einen oder anderen Veigl-Film aus der Münchener Tatort-Steinzeit haben wir mittlerweile für den Wahlberliner rezensiert, wie nimmt sich „Wohnheim Westendstraße“ nun aus? Hier ist ein Sonderfall eingetreten. Der Film wurde kürzlich im Rahmen der Festlichkeiten zum hundertsten Geburtstag von Gustl Bayrhammer wieder ausgetrahlt und ich konnte daher die Rezension um frische Eindrücke ergänzen, bevor wir sie fünf Jahre nach dem Entwurf veröffentlichen. Dabei handelt es sich zunächst um ein Versehen, dann merkte ich: Ach, dieser Film ist das!, und schaute ihn trotzdem zu Ende. Mir war der Titel nicht mehr geläufig gewesen. Mehr darüber steht in der –> Rezension.
Handlung
Melchior Veigl, der Münchner Kriminalhauptkommisar, hat Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. Wegen Personalmangels soll er Lenz, seinen besten Mann, für eine Sonderaktion abstellen, die sich gegen die immer mehr überhandnehmende Schwarzarbeit richtet. So bleibt ihm nur Brettschneider, den er an diesem Tag zur routinemäßigen Überprüfung eines Betriebsunfalls mit Todesfolge auf das Bahngelände vor der Einfahrt zum Hauptbahnhof schickt.
Brettschneider und Lenz machen jedoch bald merkwürdige Entdeckungen. Der Tod eines talienischen Gastarbeiters durch Starkstrom kann unmöglich zur angegebenen Zeit eingetreten sein. Auf einem überprüften „Schwarzbau“ wurde vermutlich gestohlenes Material der Bundesbahn verwendet. Veigls Recherchen führen ihn mehrfach in ein Gastarbeiter-Wohnheim zu den italienischen Kollegen des Verunglückten, und es stellt sich tatsächlich ein Zusammenhang heraus. Die bei der Bundesbahn arbeitende Gastarbeiterkolonne arbeitet am Feierabend schwarz auf eben jenem Bau, der Lenz aufgefallen ist.
Einer der Italiener verschwindet spurlos. Was steckt dahinter? Veigl hat nicht nur sprachliche Verständigungsschwierigkeiten mit den Gastarbeitern. Sie geben vor, nichts zu wissen. Haben sie Angst? Der sich bedrohlich zuspitzende Kampf eines Italieners und eines Türken um ein Mädchen verwirrt die Lage zusätzlich. Eine einfühlsame und engagierte Dolmetscherin steht Veigl bei der Aufklärung zur Seite.
Rezension
Eines konnte ich sofort nachvollziehen: Dieses Gefühl von Beengtheit, das die ausländischen Arbeiter hier empfinden. Nicht nur wegen des kasernenartigen Wohnheims, sondern auch wegen der Sprachbarrieren und des übergriffigen Umgangs quasi aller Deutschen mit ihnen – oder sollte man sagen, aller Bayern? Das Deftige ist ja aus den heutigen Bayern-Tatorten weitgehend eliminiert, aber in der Realität wird hinter dem Weißwurst-Äquators immer noch robuster geredet als anderswo – der Politikstil, den man pflegen muss, um dort Erfolg zu haben, beweist es.
Das Bild, mit dem hier gearbeitet wird: Handschuhe und Uhren, um zu verdeutlichen, dass nicht nur Veigl Kommunikationsschwierigkeiten hat und sich bei der Vernehmung der Italiener unbehaglich fühlt, sie nicht einschätzen kann, sondern es diesen Menschen umgekehrt genauso geht, wenn sie vernommen werden, ist vielleicht nicht das Beste, das man sich hätte ausdenken können, aber es ist geeignet, wenn die Dolmetscherin dieses Bildv von Veigl aufgreift, um den Kommissar ein wenig zugänglicher zu machen.
Der WDR strahlt mittlerweile Schimanski-Folgen, die etwas später entstanden sind, mit dem Hinweis aus, dass sie übergriffige Sprache und kulturell rückständige Ansichten enthalten, dabei ging es zuletzt ebenfalls um einen Tatort, in dem Fremdenfeindlichkeit mit einem Button „Hände weg von meinem Kumpel“ gekontert werden sollte, aber auch dort war erst im Verlauf ein etwas tieferes Verständnis der Polizei für die Belange von Immigranten zu bemerken. Bei Veigl wird das geradezu exemplarisch dargestellt, wie er anfangs „Itaker“ sagt und sich dann von der sympathischen Dolmetscherin so lange erzählen lässt, wie man in den Schuhen der „Gastarbeiter“ geht, bis er sie am Ende sogar bezüglich ihrer Nationalität korrekt anspricht.
Ich verstehe schon, dass der Tatort das damals in Krimis noch neue Thema der Immigranten in Deutschland auf eine für die Mehrheit nachvollziehbare Weise behandeln wollte, dafür wird Veigl mit seiner recht derben Art auch noch mit allen Vorurteilen ausgestattet, die man nur haben kann, inklusive der Vermutung, dass „die alle lügen“ – um sich dann von einer vergleichsweise modern wirkenden Figur, der Dolmetscherin, ein wenig in die Psyche der Fremden einweisen zu lassen. Natürlich lernt er dazu, außerdem ist er ja kein Nazi, wie man am Taxifahrer-Dialog sehen kann, wie man aus anderen Filmen mit ihm weiß, in denen er eine soziale Ader zeigt, aber trotzdem ist der Ton des Films für heutige Verhältnisse bedenklich.
Wenn ein Veigl zum Beispiel mehrfach sagt, „Die lügen doch alle!“, dann bleibt dieser Eindruck, auch wenn sich am Ende ein Arbeiter der Polizei anvertraut und klar wird, warum diese Menschen so verschlossen sind – weil sie sich einer feindlichen, ablehnenden Umwelt gegenüber sehen. Und dass die Deutschen sie ausbeuten, ausnutzen und lügen wie gedruckt, das darf man gerne mitnehmen. Auch die Story, die Veigl von der Dolmetscherin erzählt bekommt, dass manche der Männer, die hier Hilfsarbeiten verrichten, zuhause, im Mezzogiorno, etwas dargestellt haben, dann aber vom Zustand der dortigen Wirtschaft in den finanziellen Abgrund gezogen wurden, ist als Darstellung richtig und wichtig und sollte uns heute auch beim respektvollen Umgang mit Geflüchteten helfen, aber letztlich sind starke, aggressive Worte nun einmal in der Welt, wenn man sie hineinsetzt, und sie prägen sich leichter ein als dezent vorgetragene Korrekturwünsche.
Umso bemerkenswerter, dass der BR den Film wieder einmal gezeigt hat, diese Bemerkung stammt bereits aus dem Entwurf von 2016, nun war es nach fünf Jahren wieder so weit. Wie bei den „Giftschrank-Tatorten“ oder den „Vorbehaltsfilmen“: Zeigen und sich damit auseinandersetzen ist besser als die Leute für so unbeschlagen zu halten, dass sie diese Filme nicht bewerten können. Wer sowieso rechts tickt, braucht keine uralten Krimis, um am Ende mit dem unangenehmen Gefühl zurückzubleiben, dass sein Narrativ hinterfragt wird, wer es nicht tut, wird nicht aufgrund von dem, was er hier sieht, seine Einstellung ändern. Oder? Sicher, es gibt Menschen dazwischen, die außerdem leicht beeinflussbar sind. Ich persönlich wünsche mir, um darüber schreiben zu könen, einen möglichst eifachen Zugang zu allen Filmen, die hierzulande produziert wurden.
Um beispielsweise festhalten zu können, dass Veigl zwar lernfähig ist, dass seine Sprache und alle Klischees, die in dem Film gezeigt werden, trotzdem problematisch sind. Denn das Spiegeln derselben und dann ihre Infragestellung ist nicht das Gleiche, als wenn man gleich von ihnen Abstand nimmt und visuell und sprachlich dagegen arbeitet. Und das hat man hier erkennbar nicht getan. Nicht nur wegen des Konnex zwischen „Gastarbeitern“ und Schwarzarbeit am Bau bleibt viel Negatives hängen, auch wenn für diese Menschen oder ihre Nachkommen die Wohnheimzeiten vorbei sind, sie haben ihre Familien geholt, Existenzen gegründet – nicht zuletzt dank der EU-Freizügigkeit ist das für italienische Staatsangehörige kein Problem mehr.
Die EWG spielt übrigens im Film auch schon eine positive Rolle. Es obliegt dem späteren Chef der Mordkommission, Lenz, sich mit der Rentengesetzgebung zu befassen und zu ermitteln, dass die in Deutschland entstandene Rente an ausländische Arbeiter, die EWG-Angehörige sind, unabhängig von der Todesursache ausgezahlt wird – in diesem Fall die Witwenrente. Und dass Schwarzarbeit die Ansprüche aus legal erworbener Arbeit nicht zerstört. Eigentlich hätte es aber auch 1976 schon „EG“ heißen müssen.
Die Todesart ist aber: Unfall bei Schwarzarbeit. Nicht Mord. „Wohnheim Westendstraße“ ist einer der zahlreichen Tatorte aus dem ersten Jahrzehnt, in denen sich herausstellt, dass am Ende kein Töungsdelikt vorliegt, in wenigen steht nicht einmal eines zur Debatte. Auch so kann man bei der Mordkommission einen Fall ausermitteln, dass man zufrieden feststellt, es liegt kein Delikt vor. Jedenfalls keins, für das Veigl und seine Mitarbeiter zuständig waren.
Der Schwarzarbeitspart als solcher, vom tödlichen Unfall des italienischen Handwerkers abgesehen, der nur erzählt, nicht gezeigt wird, war sehr vergnüglich. Wegen Veigl und seinem Brettschneider, der eines der ersten und lustigsten Undercover-Engagements der Tatort-Geschichte eingeht, aber auch wegen der Situation und dem Pfusch am Bau, in diesem Fall bei der Planung. Ich stamme aus einer Gegend, in der viele Leute sich ein Handwerker-Gen zurechnen und so sieht es dort auch aus; nirgends sonst habe ich je so viele dilettantische, schon optisch furchtbare Bauten, Renovierungen, Anbauten, Einrichtungselemente, Gartengestaltungen gesehen.
Der Tatbestand an sich ist auch in Berlin weit, sehr weit verbreitet. Die Nationalitäten wechseln mit den Jahren, aber das günstige Bauen mit oftmals illegalen Beschäftigungsformen verschiedener Art ist geblieben. Das Thema als Ganzes und auch die Ausbeutung der Arbeiter, die damit einhergeht, ist also nach wie vor aktuell. Dass ein Bahn-Vorarbeiter sich seinen Bautrupp für private Nebenarbeit abgreift, wirkt zwar für heutige Verhältnisse etwas überzogen, aber ich musste mächtig lachen, als es um das geklaute Werkzeug ging. Ja, genau so haben sich die Berchleute und Stahlwerker bei uns beeindruckende Werkzeugsammlungen angelegt. Darüber gab es richtig gute Witze. Leider bin ich nicht bewandert im Witze erzählen und mir fällt keiner ein, den ich hier komplett wiedergeben könnte. Im Jahr 2021 hat sich allerdings eine weitere Assoziation eingestellt: Viele DDR-Polizeirufe befassen sich mit Materialklau am Bau und mit Schwarzbauten, manchmal sind ganze Kollektive an der Abzweigung und den privaten Überstunden beteiligt. Allerdings steht das, was wir dort sehen, unter der Ägide der Mangelwirtschaft, nicht des Überflusses, der damals im Westen herrschte und der die nicht aus Not und dem Zwang zur Improvisation, sondern aus Gier geborene Klauerei um einiges verwerflicher aussehen lässt.
Ein weitrer großer Unterschied besteht aber darin, dass es ein Unterschied ist, ob jemand aus dem System und dessen Kenntnis heraus Schmu macht oder von sprachlich überlegenen, mit dem System vertrauten und groben Typen wie dem Vorarbeiter Winniger angeleitet wird, ein hohes Risiko einzugehen und gar nicht weiß, wie einem geschieht. Sicher wissen auch die Bauarbeiter im Film auf einer gewissen Ebene, dass das, was sie tun, nicht legal ist, aber letztlich sind sie die Dummen, denn der Kapo kassiert vermutlich mehr für ihren Einsatz als sie selbst.
Finale
Der verflixte siebente Fall von Melchior Veigl und seinen wackeren Mitstreitern Lenz und Brettschneider ist ganz schön nervig. Der Zuschauer, und so unsubtil ist das gar nicht, wird in die Rolle des Fremden versetzt, der nichts versteht, wenn er den italienischen Gastarbeitern zuhört, denn es gibt keine Untertitel. Einige Wörter habe ich aufgeschnappt, vor allem, wenn geflucht wurde (hier kann ich in einer Rezension leider keinen Grinser setzen), aber die Idee, uns fühlen zu lassen, wie es ist, wenn man in einem engen Raum ist, einer manchmal aggressiven Stimmung ausgesetzt, und nicht nachvollziehen kann, was vor sich geht, hat funktioniert.
Nun ist „Wohnheim Westendstraße“ kein herausragender Krimi, aber wieder einmal erfüllt er den Zweck, mich als Zuschauer in eine Zeit zu entführen, in der bestimmte Themen auf bestimmte Weise behandelt wurden, ist also ein Zeitdokument, ein alltagskulturhistorisches Ereignis, wenn man so möchte. Welche soziale und politische Agenda lag an, wie fühlen sich jene Jahre aus Tatort-Sicht an? Ganz anders als in der Realität, das kann ich zumindest für die Zeit feststellen, in der ich schon ein Bewusstsein für die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre hatte. Aber man nimmt eben nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wahr, und die Tatorte zeigen, pointiert und selektiv, andere Ausschnitte. Auch heutige Filme der Reihe spiegeln kaum den Alltag der meisten Menschen in jedem einzelnen Film wieder, aber typische Strömungen kann man aus ihnen herausarbeiten. Und Bayern in den 1970ern, das könnte schon so gewesen ein, wie man es hier sieht, und wie man es hier deutlicher sieht als in vielen anderen Tatorten.
„Wohnheim Westendstraße“ hat also einen hohen Zeitkolorit-Faktor und zeigt uns einen Ausschnitt aus einem düsteren Kapitel der an sich als progressiv geltenden 1970er und wie in Deutschland immer noch im Prinzip Herren- und Untermenschen voneinander geschieden wurden. Und ist das heute so viel anders? Sicher haben sich die Frontlinien verändert, aber sie treten gerade in unseren Tagen wieder schärfer hervor, „oben“ und „unten“ ist relevant. Bei vielem, was man in dem Film sieht, denkt man: Oh, wie rückständig! Aber damals wurden wenigstens noch keine Wohnheime angezündet.
7/10
© 2021 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)
Kriminalhauptkommissar Veigl – Gustl Bayrhammer
Kriminalmeister Brettschneider – Willi Harlander
Kriminalhauptmeister Lenz – Helmut Fischer
Kriminaldirektor Härtinger – Hans Baur
Ernesto Legrenzi – Renzo Martini
Cesare Dall’Antonio – Piero Gerlini
Alberti – Ugo Fangareggi
Darfù – Carlo Valli
Frau Welponer – Margot Leonard
Eva Krüner – Veronika Fitz
Herr Roßtanner – Toni Berger
Alois Winninger – Karl Obermayr
Bauführer – Jörg Hube
Murad Bugra – Kurt Weinzierl
Anna Lirati – Liliana Nelska-Nisiels
Smaragdakis Agamemnon – Panos Papadopulos
Scheungraber, Hausmeister – Georg Blädel
Putzfrau – Trude Breitschopf
Milchfrau – Franziska Liebing
Frau Feicht, Gastwirtin – Ursula Luber
Schalterbeamter – Leopold Gmeinwieser
Taxifahrerin – Franziska Stömmer
Regie – Axel Corti
S/B – Wolfgang Hundhammer
Kamera – Xaver Schwarzenberger
Autor – Herbert Rosendorfer