Nerven (DE 1919) #Filmfest 718 #DGR

Filmfest 718 Cinema – Die große Rezension

Nerven ist der Titel eines Stummfilmdramas, das Robert Reinert im Jahre 1919 nach einem eigenen Drehbuch realisierte und auch in seiner eigenen Firma Robert Reinert Monumental-Film-Werk GmbH, Berlin produzierte. Die Studioaufnahmen fanden im Atelier der Transatlantic-Film-Comp., München-Nymphenburg, die Außenaufnahmen im Schloß Nymphenburg und in der Vorstadt Au in München, im Allgäu und am Königssee statt. An der Kamera stand Helmar Lerski. Unter den Darstellern waren Erna Morena und Eduard von Winterstein.

Wenn man „Nerven“ aus dem Jahr 1919 rezensieren will, braucht man vor allem eines: gute Nerven. Der Film ist auf eine Weise exzeptionell, die unzählige Assoziationen aufkommen lässt. Er ist prophetisch und reflexiv, brutal und sanft und am Ende auch banal. Berücksichtigen müssen wir immer, dass er nicht vollständig wiederhergestellt werden konnte. Sind es die schönen, anmutigen Szenen oder ist es noch mehr Grausames, was nun fehlt? Welche Philosophie steckt hinter dem Film, denn dass es eine gibt, ist deutlich zu sehen. Wir folgen den Spuren dieses 103 Jahre alten Werks in der –> Rezension.

Handlung

Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges: „Der Zündstoff, den Krieg und Not im Menschen erzeugt“ haben, wird als „nervöse Epidemie“ dargestellt, „die die Menschen befallen hat und zu allerhand Taten und Schuld treibt“.[1]

Geschildert werden die Schicksale verschiedener Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: der Fabrikant Roloff, der seinen Glauben an den technischen Fortschritt verloren hat, der Lehrer Johannes, der in Volksversammlungen soziale Reformen fordert, und Marja, die – sich zur Revolutionärin wandelnd – zum bewaffneten Kampf gegen die Herrschenden aufruft.

„Die junge Marja steht kurz vor ihrer Hochzeit mit Richard, liebt aber eigentlich seit ihrer Kindheit den Lehrer Johannes, der sich zu einer Art Sprachrohr des gebrandmarkten Volkes aufgeschwungen hat und soziale Reformen fordert; als er ihre Liebe ablehnt, die er zwar erwidert, aber nicht mit seinem biblischen Kodex vereinbaren kann, nimmt sie Rache, indem sie ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Ihr Bruder, der Fabrikbesitzer Roloff, der seinen Glauben an den technischen Fortschritt längst aufgegeben hat, schwört vor Gericht, er habe den Übergriff beobachtet: Seine Psyche ist längst von Krieg und Zerstörung gezeichnet, bald wird er ganz dem Wahn verfallen. Später nimmt Marja den Vorwurf zurück und wird zur Anführerin einer revolutionären Gruppe: Sie möchte an Johannes‘ Ideologie anknüpfen, ersetzt seine pazifistischen Ansätze aber durch Waffengewalt. Am Ende verfällt selbst Roloffs Frau, bis dahin die einzige Person, die man als unberührt wahrnahm, dem Irrsinn: Sie zündet Johannes‘ Haus an und tötet damit seine blinde Schwester, anschließend geht sie ins Kloster, um Buße zu tun.“ [2]

Rezension

Auf diesen Film bin ich erst durch Rüdiger Suchslands filmische Nachzeichnung von Siegfried Kracauers „Von Caligari zu Hitler“ gekommen, der Robert Reinerts „Opus major“ als eines der ersten Kinostücke innerhalb dieser sehr interessanten Dokumentation bespricht. Was mich nach dem Anschauen verwundert: Dass er zwar auf dessen formale Stärke eingeht, auf das, was damit ausgedrückt wird, auf Zerstörung und Zusammenbruch des Alten, auf Tod und Verderben, aber nicht darauf, welche Lösung Robert Reinert uns am Ende für das Entkommen aus dem Wahn der Zeit nahelegt. Ich könnte jetzt witzeln, dass man sich den Film offenbar nicht bis zum Ende angeschaut hat, aber ich gehe davon aus, dass dem nicht so ist. Suchsland hat Robert Reinert, wie auch Reinhold Schünzel und andere, zu den „Vergessenen“ aus dem großen Pool der expressionistschen Filmer in Deutschland gerechnet, die etwa gegen Ende des Ersten Weltkriegs diesen Film zur Blüte führten. 

Nach „Nerven“ dachte ich, Robert Reinert sei ein verspäteter Anhänger von Jean-Jaques Rousseau, obwohl dieser den Ausdruck „Zurück zur Natur“ nie getätigt haben soll, aber seine Haltung gegenüber der Zivilisation (des Rokoko, die in der Tat etwas besonders Künstliches hatte) iwar zentraler Bestandteil seines Werks und Denkens. Man kann Rousseaus anti-aufklärerischer Linie weiter folgen und entdeckt fraglos vieles in „Nerven“, was ihr entspricht. Die Zivilisation schreitet voran, der Krieg wird immer brutaler, die Eltern sündigen und geben ihre Sünden an die Kinder weiter, wie soll man da wieder rauskommen?

Psychologisch ist das, was wir sehen, teilweise sogar sehr modern, denn die Weitergabe von Traumata auf individueller und kollektiver Ebene und die Schwierigkeiten, diese zu bewältigen, werden heute kaum noch als etwas anderes denn eine Tatsache angesehen. Im Grunde widerspricht das sogar der Lösung im Film, aber da man sich von einem Trauma auch auf radikale Weise befreien kann, mag der Einzelne tatsächlich auf die Alm gehen und Kleinbauer werden, wie es der Lehrer Johannes am Ende mit der früheren Frau des toten Roloff tut. Vermutlich bin ich zu konstruktivistisch-aufklärerisch geprägt, um dieses Ende als der Weisheit letzten Schluss zu empfinden, zumal auf der Alm gar nicht für alle zivilisationsgeschädigten Städter Platz ist, es gäbe dort ebenso ein Gedränge wie zuvor in der Stadt, man käme einander in die Quere und der ganze Konfliktkanon würde sich an einem anderen Ort als zuvor wieder entfalten, zumal bei dieser auf Subsistenz ausgerichteten, kargen Lebensweise die Produktivität so niedrig wäre, dass es zu Hungersnöten käme. Ich verstehe schon, was Robert Reinert sagen möchte und nehme das, was wir am Schluss sehen, auch nicht ganz wörtlich, sondern symbolisch-expressionistisch wahr, aber dieses Ende kommt auch viel zu abrupt, es deutet sich noch wenige Minuten vor der Schlussszene nicht im Entferntesten an. Allerdings wird Reinerts Gedankengut von Kritikern eher seinem Zeitgenossen Oswald Spengler zugeordnet als Rousseau:

„Der Film soll gleich mehrere Münchner in den Wahnsinn getrieben haben, bis der Polizeipräsident höchstpersönlich eingriff und Reinerts düster delirierendes Drama um den Verfall einer Industriellenfamilie der Zensurbehörde übergeben ließ. Seinen künstlerischen Höhepunkt erreichte der radikale, den Ideen Oswald Spenglers nahestehende Reinert ausgerechnet 1918/19, als Deutschland immer tiefer im Chaos der letzten Kriegsmonate und der aufkommenden Revolution versank“.[10]

Die Revolution, den Aufruher der Massen, sieht man im Film vor allem zu Beginn sehr deutlich und auch, wie er sich loslöst vom Pazifismus des Lehrers Johannes, wie er pervertiert wird zu einem brutalen Aufruhr, der im wörtlichen Sinne mit der Axt ausgetragen wird. Die Axtszene gehört sicher zu jenen, die etwas feinfühligere Menschen vor Entsetzen haben umsinken lassen. Wir müssen verstehen, dass der Erste Weltkrieg für Deutschland gerade im Chaos endet und dass die russische Revolution, eine der bis dahin brutalsten der Geschichte, gerade ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Sie war sicher nicht im Sinne von Robert Reinert und die rasende Menge, die er zeigt, nachdem der Lehrer als guter Hirte sie nicht mehr kanalisiert, dürfte auch eine Kritik an der Art sein, wie die russische Revolution verlaufen ist und natürlich daran, dass in Deutschland Räterepubliken nach diesem Vorbild entstehen könnten. Auf eine seltsame Weise kreuzt sich das mit der Absage an den Weltmachtanspruch Deutschlands, der in einer der ersten Sequenzen zum Ausdruck kommt:

Roloff, der Vertreter des alten Großbürgertums, baut eine neue Fabrik, darin soll etwas produziert werden, das technisch revolutionär ist, so sehr, dass es die Weltherrschaft verspricht, aber es explodiert und die Fabrikschornsteine versinken in Schuttwolken. Man muss kein Meister der Entschlüsselung von Metaphern sein, um dies als Kommentar zu den geplatzten Träumen der deutschen Weltherrschaft zum Guten zu begreifen („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“), die in der Tat etwas wie die Raison d’être des wilhelminischen Kaiserreichs war. Imperialismus nicht als Selbstzweck, sondern um die bestmögliche Zivilisation in die Welt zu tragen. Die beeindruckende Fortschrittlichkeit des Landes in der damaligen Zeit verführte zu Selbstüberhöhung und Überspannung der Kräfte, wie 20 Jahre später noch einmal, allerdings, ohne eine von einer entwicklungsfähigen, in Ansätzen schon demokratischen Ordnung getragen zu sein. Man ging nicht aufs Land, obwohl die Nazis ebenfalls ein Faible für die Natur in ihre Ideologie integriert hatten, sondern nach Westen, nach Osten und in die Rüstungsproduktion. Was immer man auch Robert Reinert unterstellen mag, ich glaube nicht, dass er die Entwicklung ab 1933 gutgeheißen hätte.

Dafür wirken die Kriegsbilder im Prolog des Films zu eindringlich. Nackt ist der Mensch darauf, oder in halber Zivilkleidung, kenntlich als verletzliches Wesen, nicht als Uniformträger ohne Gesicht und ohne Körperlichkeit, kein Bestandteil der Masse in Feldgrau, die in den Schützengräben verendete, sondern jeder für sich Bestandteil einer Choreografie des Grauens. Diese Szenen haben, mehr als die der eigentlichen Geschichte, etwas von naturalistischen Gemälden, ohne realistisch zu sein. Dass Mütter spüren, wann ihre Söhne auf dem Schlachtfeld ihr Leben lassen, das mag es wirklich geben, aber die Art, wie Reinert es hier in die Nervensaga integriert, wirkt etwas zwanghaft, passt sich nicht ohne Weiteres in die Ahnungslosigkeit ein, mit der die Figuren später in ihr Schicksal stolpern. Es wäre noch schlimmer gekommen, wenn der Lehrer Johannes nicht ein äußerst verzeihender Mensch wäre: Er vergibt der Ex-Frau von Roloff sogar, dass sie in einem Anfall von Umnachtung versehentlich seine Schwester umbringt, das blinde, zarte, sehende Wesen. Man merkt, die Verwirrung der Zeit greift auch ein wenig nach den Filmemachern selbst und nicht alle konnten das so klar in einen künstlerisch geschlossenen Ausdruck transzendieren wie etwa Friedrich Wilhelm Murnau mit seinen Studien über das Grauen, das sich einschleichen kann in jedwedes Idyll. 

Reinerts Ausgangswelt ist allerdings nicht unschuldig, wirkt eben nicht biedermeierhaft, sondern ist schon das Ergebnis einer gewaltigen Fehlentwicklung. Das kommt vor allem zu Beginn sehr klar zum Ausdruck:

Nerven versucht etwas gar holprig, Melodrama und Gesellschaftsanalyse unter einen Hut zu bringen – doch der Inhalt ist hier, so analysierfreudig er auch wirken mag, nur der Aufhänger. Deutlich schwerer wiegt die Präsentation, und die ist enorm faszinierend. Der gebürtige Österreicher Robert Reinert (1872–1928) schuf einen der ersten expressionistischen deutschen Stummfilme, was ganz besonders die virtuose Eingangssequenz mit ihrer mutigen Montage klarmacht. Danach nimmt der Plot etwas konventionellere Züge an, doch stets sind die Bilder von eindrücklicher Natur.“[9]

Wäre der Prolog nicht, würde in der Tat ein formal sehr fortgeschrittener Film einem Schuld- und Sühne-Melodram gegenüberstehen, das in einer allzu einfachen Katharsis mündet. Wenn wir die Idee vertiefen wollen, Reinert sei ein Anhänger von Oswald Spengler gewesen, sehen wir also im Prolog den Untergang des Abendlandes anhand der Vernichtung von dessen technologischer Grundlage, einhergehend mit gesellschaftlicher Desorientierung und den Leiden des Krieges. Vielleicht glaubte Reinert wirklich, dass die abendländisch-westliche Kultur am Ende sei, das tun ja heute auch nicht so wenige Menschen, anstatt in der Kooperation von Abendland und Morgenland eine neue Chance zu entdecken. Freilich müssen dafür beide Seiten kooperationsbereit sein und wie die Menschen so sind: Es gibt genug Erscheinungen, die an der friedlichen Koexistenz zweifeln lassen. Im Ersten Weltkrieg wurde diese Unfähigkeit zur friedlichen Koexistenz natürlich als besonders bedrückend und dramatisch empfunden, weil die Jahre zuvor so hoffnungsvoll und aufbruchsfreudig waren. Die Deutschen darf man sich nicht als solch eine Mischung aus Misanthropen, Zynikern und Naiven vorstellen wie heute. Damals waren sie fast alle naiv und neugierig und fanden nach anfänglichen Bedenken den preußischen Militärstaat irgendwie schick, der zu diesem Land in seiner Gesamtheit gar nicht passte, aber das Bild davon besonders im Ausland prägte. Die Loslösung von der Macht, ihre Auflösung und die Rückgewinnung des Selbst sehen wir in der eigentlichen Handlung des Films.

Vergewaltigung als Sinnbild für die gewaltsame Lösung, nur eingebildet, aber sie führt zur tatsächlichen Gewalt, einer persönlichen Wandlung, die wir leider nicht sehen. Das wird recht geschickt durch Zwischentitel in Form von Dialogen ersetzt und ich kann mir vorstellen, dass Szenen, die Marija wirklich als Revolutionärin zeigen, geschnitten werden mussten, schon bevor der Film ganz verboten wird. Denn es ist auffällig, wie viele Szenen mit ihr und ihrem Mann und Gefolgsmann Richard, dem offenbar recht willenlosen Adeligen, durch solche Dialog-Texttafeln ersetzt werden.

Die Opfer sind riesig, fast alle Figuren kommen um, werden getötet, töten sich selbst, leisten durch Euthanasie Beihilfe zum Selbstmord, damals schon ein Thema! Die beiden Überlebenden müssten, wenn man konsequent bleibt, das Problem haben, dass eine der beiden Personen mit einer großen Schuld belastet ist, die man nicht durch Säen und Pflügen tilgen kann. Das ist allerdings der psychologische Ansatz einerseits, der christliche andererseits. Ersterer weiß um die seelische Belastung, die noch lange erhalten bleiben wird, Letzterer um die Notwendigkeit zu echter, fortdauernder Buße. Wenn man Reinerts Film via Spengler deuten wollte, müsste man allerdings diesen selbst zuordnen, und das ist bekanntermaßen nicht so einfach. Wenn jemand zum Beispiel der Lebensphilosophie in einer Richtung anhängt, dass er das Rationalistische verachtet und dem allumfassenden Naturgeist Raum gibt, was ist dann der Vernichtungskrieg als Gipfel der Irrationalität, obwohl er durch die fortschreitende Technik, die auf wissentschaftlichen Erkenntnissen und auf deren rationale Umsetzung in die Produktion erst möglich wurde? 

Was sind blank liegende Nerven, uneins mit einer geschundenen Welt, in der man doch selbst eine Position hält und ein Zahnrad ist? Roloff überlebt diese gewaltige innere Spannung nicht und mit ihm geht die auf Fortschrittsglaube gegründete alte Ordnung unter, seine Schwester ist ebenfalls dem Tod geweiht, weil ihr schwärmerischer Geist, zunächst dem Lehrer Johannes zugewandt, zur gewaltsamen Seite tendiert, insofern sogar authentisch ist, anders als bei dem Mann, den sie ohne Liebe heiratet und der ihr seinerseits ohne Überzeugung auf dem Weg in den anarchistischen Untergund folgt. Dies alles ist das Erbe einer Kaste, die sich von den Wurzeln des Lebens entfernt hat, so könnte man es also deuten. Man kann sich die Eltern und Großeltern dieser Menschen gut vorstellen, die stark daran orientiert waren, die Welt der Wissenschaft, der Produktion und der industriellen Macht zu erweitern, denn die Roloffs sind eine Kapitalistendynastie, das wird zu Beginn der eigentlichen Handlung deutlich, als das 500-jährige Bestehen des Hauses gefeiert wird – mitten im Weltenbrand, in den letzten Zügen eines Krieges, der nach Reinerts Meinung diese Dynastien hinwegfegen und zum Almidyll führen sollte. 

Wir wissen heute, es kam ganz anders. Diese Dynastien werden viel zu idealistisch gesehen. Ihr Tun wird zwar verdammt, aber die Differenz zwischen dem Wollen und dem katastrophalen Ergebnis, das sich in der zerstörten Fabrik ausdrückt, die ich oben erwähnt habe, führt zum Nervenzusammenbruch. Die Wahrheit ist: Das Kapital erfreute sich vor dem Krieg, noch mehr im Krieg und immer noch nach dem Krieg allerbester Gesundheit und auch guter Stimmung, denn wer profitiert vom Krieg, in allen Ländern? Man muss bloß die Idee weglassen, dass der Großindustrie etwas Philantropisches innewohnen könnte. Es ist auch heute wieder eine Mode geworden, dass sich Großkapitalisten auf diese Weise selbste veredeln und verherrlichen wollen, aber wir sollten dieser Form von Eigenwerbung nicht aufsitzen, als wenn sie eine unwiderlegbare Wahrheit wäre und wie es auch Robert Reinert vorführt, der einen echten Zwiespalt bei den Besitzenden annimmt. Dafür sind wir doch heute dem Zeitalter der Naivität etwas zu fern oder sollten es sein. Dass der Kapitalismus überlebt und sich an jeder Krise mästet und nicht endet wie das Haus Roloff, liegt ja gerade daran, dass er keinerlei ethische Ansätze verfolgt, die an der Wirklichkeit zerbrechen könnten.

In der Folge dieses Gedankengangs muss man auch die Bewegung der Massen am Abend des Ersten Weltkriegs anders bewerten, als Reinert es in „Nerven“ tut. Sein Lehrer Johannes ist ein Zweifler, ein sehr moralischer Mann und ein großer Pazifist, der es als Pervertierung seiner Ideen empfindet, dass das Volk sich gewaltsam in seine Rechte setzen möchte. Davon wendet er sich schließlich ab, anstatt das revolutionäre Potenzial jener Jahre zu einem mächtigen Willen formen zu helfen. Genau so kam es auch in der Realität, dass die Besten der Besten sich nicht an die Spitze stellten, um die junge Demokratie und die Möglichkeit der Selbstbestimmung zu schützen, sondern das Feld Autoritären jedweder politischen Couleur und generell wenig menschenfreundlichen Charakteren zu überlassen. Auch deswegen ist der Weg des Lehrers, dem die Menschen zuhören und sogar folgen in die Abgeschiedenheit keine Lösung. Für ihn selbst möglicherweise, sofern er als Akademiker das Bauernhandwerk zufriedenstellend ausüben kann, denn Vergessen ist besser, als jeden Tag Angst vor dem Scheitern zu haben, wo doch schon so viele Menschen im Umfeld gescheitert und gestorben sind. 

Finale

Man sieht wieder, wir sind eher konstruktivistisch. Denn wir haben erwartet, dass Reinerts Zustandsbeschreibung der Welt entweder die totale Katastrophe folgt, die nur in der damaligen Gegenwart verbleibt, oder dass eine tragfähige Lösung für die Heilung der Wunden dieser Gesellschaft gezeigt wird. Das Rad aber so weit zurückzudrehen und zum Privatisieren aufzurufen, wie er es am Ende tut und es in „arbeitet!“ einkleidet (wohl, anstatt auf der Straße zu demonstrieren), das ist erzkonservativ. Denn gute Arbeit für die Massen wird aus dieser Aufforderung nicht erwachsen können, vielmehr etwas wie der gezeigte Rückzug eines einzelnen Paares und für jene, die solche Möglichkeiten nicht haben, die demütige Unterordnung im Rahmen eines Zustands, in dem nichts bewältigt und nichts verbessert erscheint. Insofern hat die expressionistische Tour de Force, die der Film uns darbietet, die ziemliche Macke, dass er in einer wenig expressiven Scheinlösung mündet.

„Die Eingangssequenz des Films ist ein frühes Meisterwerk der Montagekunst und wirkt ungemein modern: Sie entwirft ein Panorama des Verfalls und des Wahnsinns, einschließlich der für das Entstehungsjahr 1919 extrem gewagten Bilder von Gewalt und Nacktheit, immer wieder durchbrochen von dem Wort ,Nerven‘, mal zwischentitelartig eingeblendet, mal das Geschehen unterminierend; Robert Reinerts Eröffnung mit ihrer dramaturgischen Einbeziehung von Schrift und ihrer enormen Stilisierung nimmt im Grunde schon Sergej M. Eisenstein vorweg…“.[11]

Ich glaube, dass es 1919 noch nicht möglich war und außerdem ein Ausdruck der Zerrissenheit der Menschen hierzulande, den ganzen Weg zu gehen, nämlich die Analyse des Verfalls die konsequente Anleitung zum revolutionären Handlung folgen zu lassen. Man misstraute dem Alten, aber auch dem Neuen, der Technik, aber auch der ungebremsten Macht der Emotionen gleichermaßen, die Großes bewegen können, den Führern und den Geführten, es war im Grunde ein heilloses Chaos, das sich auch in diesem Film ausdrückt. Deswegen verstehe ich auch, dass kommunistische Filmkritiker den deutschen Expressionismus kritisch gesehen haben: Formal hochstehend, aber in gewisser Weise trotzdem reaktionär. Dafür kann man zum Beispiel das geradezu heuchlerisch versöhnliche Ende am Ende von „Metropolis“ ebenso anführen wie den Nihilismus, den man aus einigen anderen Werken herauslesen kann, wenn man mag, die nur beschreiben oder gar anklagen, aber nicht erklären, wie die Aktion auszusehen hat, die zu einer besseren Welt führen soll. Und dann noch Scheinlösungen, die einem Proletarier des Jahres 1919 in seiner Not, seiner Wut über den Verrat der Herrschenden und seinem Drang nach Selbstermächtigung im Rahmen des Kollektivs weltfremd vorkommen mussten – wie das, was in „Nerven“ am Ende dargeboten wird. Dem großen Entwurf, der sich anfangs abzeichnet, wird der Film im Verlauf nicht gerecht. Was bleibt, sind Ansätze, die weit über sein Entstehungsjahr hinausweisen und immer noch Erstaunen hervorrufen. Mittendrin das Spiel, das im Rahmen dessen liegt, was man damals schon erwarten durfte, unter der Prämisse, dass der Expressionismus sich eben auch in einer überdurchschnittlichen Theaterhaftigkeit des deutschen Kinos jener Jahre manifestierte. Ungewöhnlich und sehenswert ist „Nerven“ auf jeden Fall und man fühlt die riesige Anspannung der Menschen damals gut mit, die sozusagen lost waren inmitten des Infernos, das als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Viele Filmemacher (nicht alle) eingeschlossen.

70/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Robert Reinert
Drehbuch Robert Reinert
Produktion Robert Reinert Monumental-Film-Werk GmbH, Berlin
Musik neue Kinomusik von Joachim Bärenz, Essen
Kamera Helmar Lerski
Besetzung

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