Filmfest 719 Cinema – Concept IMDb Top 250 of all Time (84)
Licht und Schatten im Kampf um das Erwachen
Zeit des Erwachens (Originaltitel: Awakenings) ist ein US-amerikanisches Filmdrama aus dem Jahr 1990. Die Regie führte Penny Marshall, das Drehbuch schrieb Steven Zaillian auf der Grundlage von Oliver Sacks’ Buch Awakenings (Bewußtseinsdämmerungen, deutsch 1989). Die Hauptrollen spielten Robert De Niro und Robin Williams. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten, die der britische Arzt Oliver Sacks in den 1960er Jahren im New Yorker Montefiore Medical Center erlebte.
Es ist natürlich ein sehr assoziativer Ansatz – ein solcher Schein-Durchbruch in der Medizin, wie er im Film beschrieben wird, konnte sich wohl nur im Jahr 1969 ereignen. Die Mondlandung hatte gerade stattgefunden, es war der „Summer of Love“, ein Patient, der durch eine eigentlich für die Behandlung von Parkinson entwickelte Droge wiedererweckt wird, verliebt sich, sein Arzt wird von einer Schwester angehimmelt – und man träumt von der Besiedlung des Mars. Wir sind mehr als fünfzig Jahre weiter und damit führen wir die –> Rezension weiter.
Handlung (1)
Der Film beginnt mit einer kurzen Darstellung der Kindheit von Leonard Lowe. Seine Lehrerin bemerkt, dass er zunehmende motorische Probleme beim Schreiben hat. Seine Mutter behält den offenbar kranken Leonard daraufhin zuhause.
Dreißig Jahre später, in den 1960er Jahren, tritt der in New York City tätige Arzt Malcolm Sayer eine Stellung am Bainbridge Hospital an, wo er mit Patienten arbeitet, die seit Jahrzehnten an der Europäischen Schlafkrankheit leiden. Sie zeigen keinerlei Reaktion auf ihre Umwelt und gelten als unheilbar. Leonard Lowe ist einer von ihnen, er wird nach wie vor von seiner Mutter besucht und gepflegt. Durch Zufall entdeckt Sayer, dass seine Patienten nicht völlig apathisch sind, da es Reize gibt, auf die sie reagieren. Beispielsweise fangen sie zugeworfene oder fallende Gegenstände auf, aber nur mit einer mechanischen Bewegung ohne jede Emotion.
Sayer beginnt, sich näher mit Leonard Lowe zu befassen, und ermuntert ihn, auf einem Ouija seinen Namen zu buchstabieren. Lowe, der als Kind viel gelesen hat, buchstabiert stattdessen den Titel des Gedichts Der Panther. Das bringt Sayer zu der Überzeugung, dass die scheinbar komatösen, verkrampften Kranken tatsächlich geistig hellwach sind und sich lediglich nicht mitteilen können, sie sind gefangen in ihrem eigenen handlungsunfähigen Körper. Ihm fällt auf, dass sie alle früher an einer Enzephalitis erkrankt waren, woraus er schließt, dass ihr derzeitiger Zustand eine Spätfolge davon ist.
Auf der Suche nach Abhilfe stößt Sayer auf ein Medikament namens Levodopa oder auch kurz L-Dopa, mit dem die Parkinson-Krankheit behandelt wird. Da er das Syndrom seiner Patienten als eine Art „konzentrierten Parkinson“ deutet, erprobt er das Mittel, zunächst nur an Leonard. Leonard leidet an den enzephalitischen Spätfolgen der Spanischen Grippe, einer Influenza–Pandemie, verursacht durch den Subtyp A/H1N1, die sich zwischen 1918 und 1920 in drei Wellen ausgebreitet hatte, und zu einem sekundären Parkinsonismus führte. Zunächst zeigt sich keine Wirkung, doch eine extrem hohe Dosis des Medikaments verwandelt Lowe überraschend in einen weitgehend normal interagierenden Menschen, der sich mit seiner Mutter unterhält, seine Umwelt reflektiert, Gespräche führt und sich schließlich sogar in eine Besucherin verliebt.
Sayer wendet das Mittel an all seinen Patienten an und erweckt damit die Station zum Leben. Die Patienten beschäftigen sich miteinander und bilden eine Gemeinschaft. (…)
Rezension
Die Mondmissionen erwiesen sich als teure Sackgasse der Raumfahrt, der Summer of Love war in Wirklichkeit schon 1967, nicht zwei Jahre später, als das Woodstock-Festival stattfand, der Patient dürfte längst gestorben sein, niemals wieder in jenen Zustand vollen Bewusstseins zurückgekommen wie in jenem Sommer von 69, der Arzt und die Schwester müssten uralt sein, falls sie noch leben. Immerhin könnten sie vorsichtig zueinander gefunden haben. Aber der Film entstand 1990 und deutet auf das hin, was im kommenden Jahrzehnt häufig zu sehen sein würde, denn es war auch wieder eine Zeit der Hoffnung nach der politischen Wende.
Das Lexikon des internationalen Films schreibt: „Auf tatsächlichen Ereignissen beruhender Film, der den medizinisch wie humanitär komplexen Fall mit einer Fülle von Kino-Klischees ausstattet und einseitig emotional ausbeutet. Eine Demonstration der alten Erkenntnis, dass ein tränenvergießendes Publikum noch lange kein Beweis für einen guten Film ist.“[4]
So kann man’s deutsch-kritisch auch sehen. Es ist nun einmal ein Hollywood-Film und Werke wie dieses, mit herausragenden Darstellern, allen voran natürlich wieder Robert De Niro, bringt nach unserer Ansicht Menschen, die erkrankt sind, den anderen näher. Eine Dokumentation in höchst sachlichem Stil könnte das nicht. Manchmal hat man den Eindruck, alles, was Gefühle erweckt, muss bei uns direkt mit einem Kitsch-Bann belegt werden. Zum Vergleich die Einschätzung des US-Kritikerstars Roger Ebert:
“After seeing Awakenings, I read it, to know more about what happened in that Bronx hospital. What both the movie and the book convey is the immense courage of the patients and the profound experience of their doctors, as in a small way they reexperienced what it means to be born, to open your eyes and discover to your astonishment that you are alive.”
Selbstverständlich arbeitet „Zeit des Erwachens“ mit Konventionen und mit Tricks, aber das Thema ist auch schwierig zu vermitteln, wenn man es rein wissenschaftlich abhandelt und seine Komplexität etwas zu verringern, macht es für ein breites Publikum verständlich. Möglicherweise ist man bei uns auch peinlich davon berührt, dass Schauspieler wie De Niro Figuren spielen wie Leonard und dabei ganz im Sinne des Method Acting so in diese Charaktere eintauchen, dass ihnen nichts peinlich ist, das Spiel nicht distanziert und reflektiert wirkt und es keinerlei Zurückhaltung gibt – das funktioniert, es sei denn, man hat immer im Hinterkopf, dies ist eigentlich Robert De Niro, nicht der arme Leonard, der für einen Moment die Welt erhellt, in der er ansonsten ein reaktionsarmes Leben lebt. Für uns war das Umschalten nicht so leicht, aber wir wissen ja, dass De Niro fast alles spielen kann, im Ernstfall sogar Durchschnittstypen. Die Zahl der Darsteller, die das realisieren können, ist nicht so groß, auch nicht in den USA.
Urs Jenny schreibt im Spiegel: „Die Sorgfalt, die Penny Marshalls Film der Darstellung klinischer Vorgänge widmet, ist höchst ungewöhnlich, doch die Zutaten, mit denen er sie zur Kinogeschichte rundet, bleiben platt: Wie der tapfere Arzt gegen die gleichgültige Anstaltsbürokratie kämpfen muß; wie er aus Schüchternheit partout nicht merken will, daß die Schwester, die ihm so begeistert zur Seite steht, in ihn verliebt ist; wie der erwachte Leonard in der Schwärmerei für eine hübsche Anstaltsbesucherin aufblüht – das sind Sentimentalitäten aus einem Ärzteroman.“[7]
Merkt man etwas wirklich aus Schüchternheit nicht oder kann man bloß nicht darauf eingehen? Egal, die IMDb-Nutzer schätzen den Film weit überwiegend, er hat derzeit einen Score von 7,8/10, bei Frauen kommt er sogar auf 8/10 und auffällig mehr gemocht als von anderen Altersgruppen wird er von Menschen zwischen 18 und 29 Jahren, die noch etwas optimistischer und unbefangener sein dürften. Das Ältere etwas weniger begeistert sind, verstehen wir gut, denn „Zeit des Erwachens“ ist eine Allegorie, weist von der Station für Menschen, die „konzentriertes Parkinson“ haben, weit hinaus. Wir meinen, dass nicht nur der Arzt am Ende erwacht, sondern dass wir alle adressiert sind: Wir leben ein rastloses Leben, jagen irgendwelchen Dingen hinterher und so mit 60 kommt die Erkenntnis, dass das alles vielleicht viel Aufwand für wenig Ertrag war. Für wenig emotionalen Ertrag. Wir erwachen, wie Leonard, und stellen fest, dass wir in einem Kokon gelebt haben. Und wo sind all die Jahre hin, warum wollen wir, wie die Patientin Lucy, dass immer 1926, heute vielleicht 1985 oder 1990 ist und warum haben Menschen es mittlerweile so verdammt schwer damit, würdevoll zu altern und weise zu werden, den Gewinn von Erkenntnis als die eigentliche Chance des Alter zu begreifen?
Eigentlich kein Wunder, dass diese Generation von den Jüngeren unter Druck gesetzt wird, die spüren, dass diese Alten keine Weisen sind.
Wenn dann ein Moment des Erwachens oder auch Erwachsenwerdens kommt, geht man vor lauter Schreck über die Fragen, die sich plötzlich auftun, gleich wieder in den vorherigen Zustand zurück. Freilich gibt es bei dieser Betrachtung einen Unterschied zu „Zeit des Erwachens“: Die Patienten bleiben innerlich durchaus teilnehmend, lediglich ist es nicht möglich, sie durch die Verabreichung von Medikamenten dauerhaft aus ihrem lethargisch wirkenden Grundzustand herauszuführen.
Finale
Uns hat „Zeit des Erwachens“ berührt, auch wenn man ihm die Popularisierung medizinischer Tatbestände vorwerfen mag oder dass er nach einem bestimmten Plotmuster aufgebaut ist, das bei Hollywoodfilmen immer ähnlich verläuft und man es dabei auf die Tränendrüse abgesehen hat. Wer das auch bei einem so wohlmeinenden Film ernsthaft kritisieren will, der muss sich psychologisch einen Schritt weiter bewegen, sofern er kein professionell distanzierter Kritiker ist: Er muss hinterfragen, warum dieses Muster amerikanische Filme weltweit so überaus erfolgreich macht und uns, wenn er’s herausgefunden hat, so instruieren, dass wir dagegen komplett immun sind. Aber wäre das in einer Welt, in der es mit der Empathie nicht sehr gut bestellt ist, sinnvoll?
„Zeit des Erwachsens“ rechnet auch zu unserem Konzept, alle Filme, die je in der IMDb-Top-250-Liste enthalten waren, im Laufe der Jahre zu besprechen, er fand dort Platz in den Jahren 1996 bis 1998.
82/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2020)
Regie | Penny Marshall |
Drehbuch | Steven Zaillian |
Produktion | Lawrence Lasker, Walter F. Parkes |
Musik | Randy Newman |
Kamera | Miroslav Ondříček |
Schnitt | Battle Davis, Gerald B. Greenberg |
Besetzung | |
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