Sollte man wegen Nahrungsmittel-Versorgungsproblemen weniger Fleisch essen? (Umfrage) | Frontpage | Wirtschaft, Umwelt | Fleischkonsum auf dem Prüfstand, aber aus den richtigen Gründen. Kommentar

Frontpage | Ökonomie und Ökologie | Getreideengpässe als Grund zum Fleischverzicht?

Liebe Leser:innen,

heute haben wir wieder eine Umfrage für Sie mit der Bitte um Beteiligung. Disclaimer: Wir arbeiten diesbezüglich nicht mit den Erstellern der Umfragen zusammen, weder wir noch die Anbieter der Umfragen haben davon einen Vorteil. Das wollten wir auch einmal klarstellen. Es geht uns nur um das idealistische Projekt dieses Blogs, um  Politik, um relevante Themen und um interessante Fragen dazu: Wie stellen und / oder verhalten wir uns persönlich dazu? Heute geht es, ähnlich wie beim Energiesparen („Frieren für den Frieden“) darum, den Fleischkonsum wegen des Russland-Ukraine-Kriegs einzuschränken. Civey fragt dazu:

Sollte man Ihrer Meinung nach angesichts weltweiter Nahrungsmittel-Versorgungsprobleme weniger Fleisch konsumieren?

Der Erklärungstext von Civey lautet:

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) ruft dazu auf, weniger Fleisch im Kampf gegen den weltweiten Hunger zu konsumieren. Aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges leiden besonders Entwicklungsländer unter Versorgungsengpässen. Dem RND erklärte sie: „Wenn wir in Deutschland die Schweinefleischproduktion um 30 Prozent reduzieren würden, wäre eine Ackerfläche von einer Million Hektar frei.“

Die Ukraine und Russland gehören zu den wichtigsten Getreideproduzenten der Welt. Nun drohen immense Getreideexporte wegzubrechen und die Lebensmittelpreise zu explodieren. Die Vereinten Nationen warnen laut rbb vor globalen Auswirkungen, die „über alles hinausgehen, was die Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt habe.“ Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) plädierte im Spiegel für einen reduzierten Fleischkonsum, um den Druck auf Russland zu erhöhen.

Zudem gibt es Forderungen, weniger Getreide als Futtermittel für Tiere zu verwenden. Für Sebastian Lakner, Agrarökonom an der Universität Rostock, ist es eine Frage der Solidarität. Bei RTL hinterfragt er den hohen Fleischkonsum reicher Industriestaaten, „während das Getreide am Weltmarkt als Lebensmittel fehlt.” Klimaexpertin Sabine Gabrysch fordert indes eine Reduktionen der Biokraftstoff-Verwendung von Getreide.

Klingt alles wieder sehr logisch, nicht wahr? Vielleicht der Herr Agrarökonom nicht den Begriff „Weltmarkt“ verwenden dürfen, der hat uns nämlich getriggert. Und zwar, nachdem wir schon mit „eher ja“ abgestimmt haben. „Eher ja“ deswegen, weil die Restspuren von Fleischkonsum in unserer persönlichen Ernährung ganz sicher Russland nicht in die Knie zwingen werden. Ähnlich, wie wenn wir uns jetzt den Gashahn selbst zudrehen würden. Solidarität geht nach unserer Ansicht anders.

Aber betrachten wir’s doch mal von der Marktseite. Haben Sie gewusst, dass die Preise, mit denen arme Länder nicht erst seit der Russland-Ukraine-Kriegssituation nicht mehr klarkommen, keine Preise nach dem Motto „Ich bin Erzeuger oder Verarbeiter und Sie kaufen von mir das, was ich herstelle“ bezahlen müssen. So, als wenn Sie zum Biobauern gehen oder vielleicht noch die Lebensmittel in einer geschlossenen Kette im Discounter oder Lebensmitteleinzelhandel beziehen? Selbst da stimmt es wohl nicht, aber das Hauptproblem ist nicht, dass nun der Weizen aus der Ukraine knapp wird, die Welt kann locker genug Getreide für alle produzieren. 

Haben Sie gewusst, dass im vergangenen Jahr eine Rekordernte an Weizen eingefahren wurde und die Erzeugung fast jedes Jahr steigt? Es gibt keine Knappheit. Sehr wohl aber gibt es auch auf diesem Gebiet eine Fehlsteuerung.

Das Desaster der Markt selbst, den man einfach den Spekulanten überlässt. Mit Getreide wird spekuliert wie mit anderen Gütern, als wenn es ganz normal wäre, lebenswichtige Grundnahrungsmittel durch die Profitmachereinudel zu jagen und sie dadurch stark zu verteuern. Für dieses Verfahren gibt es eigene Börsen, sie zählen sogar zu den ältesten Handelsplätzen dieser Art und haben immer schon für massive Ungleichverteilung gesorgt. Wie bei anderen Anlageklassen kann man mit Getreide auf fallende und steigende Preise spekulieren und daher wird ein Mehrfaches von dem an Weizen u. a. an der Börse gehandelt, als weltweit produziert wird. Einfach dadurch, dass er mehrfach den Besitzer wechselt, nur virtuell vorhanden ist, bis er sich wieder materialisiert und endlich zu überhöhten Preisen beim Verbraucher ankommt. Dass es dabei für diejenigen, die bei dieser Mischung von Auktion und Spekulation nicht mithalten können, auf dem Teller ziemlich leer ausschaut, versteht sich von selbst.

Würde sämtliches Getreide fair gehandelt und nicht auf diese Weise, die darauf ausgerichtet ist, möglichst hohe Profite zu erzielen (wie ebenfalls in diesem freidrehenden Kapitalismus), würde also der Spekulationsmechanismus wegfallen, würden sowohl Produzenten als auch Konsumenten wesentlich mehr Getreide fürs Geld bekommen. Genossenschaften oder Direktverkäufer gehen z. B. diesen Weg, indem sie direkt mit ihren Abnehmern handeln und Zwischenprofiteure ausschalten. Länder, die traditionell kaum gute Böden für den Getreideanbau haben, können so aber nicht operieren, sondern sind auf Importe angewiesen. Und diese erfolgen in weiten Teilen zu Spekulationspreisen. Das krasse Ergebnis: Je ärmer und abhängiger von Importen ein Land ist, desto teurer muss es einkaufen. Es ist eine Rohstoffabhängigkeit wie jede andere, um die es sich bei Getreide handelt, mit denselben Ungleichheiten, die durch solche Abhängigkeiten auch auf anderen Gebieten wie der Energieversorgung hervorgerufen werden, wie wir gerade wieder sehen. Nur, dass wir in den nicht rohstoffexportierenden Industrieländern bei der Energieversorgung selbst gerade und ausnahmsweise einmal die Dummen sind.

Auch bei der Nahrungsmittelversorgung bestimmen also wieder die Länder des Überflusses und ihre Finanzjongleure, was Phase ist und bestimmen auch darüber, wie viele Menschen weltweit verhungern müssen, weil sie sich die Spekulationspreise nicht leisten können, die am Ende der Verwertungskette zu Buche stehen. Wer sich in dieser Sache auf die Ukraine und Russland fokussiert, lässt das Wichtigste außer Acht: Dass zum Beispiel eine weltweite solidarische Ersetzung der Ausfallmengen aus diesen Ländern zu fairen Preisen dafür sorgen würde, dass es auch jetzt keine Engpässe gäbe. Wir zahlen halt für ein Biobrot 4 oder 5 Euro, was ebenfalls kritisch zu betrachten ist, aber es geht eben für viele hierzulande noch. Eine solche Wahl haben die Menschen in armen Ländern nicht. Sie haben sie deshalb nicht, weil sie von den Reichen nicht nur knapp gehalten werden, sondern weil der Kapitalismus den Hunger eben nicht so beseitigen möchte, wie es möglich wäre, weil sich damit der Profit derer mindern würde, von denen jede einzelne Person in dieser Welt weitaus mehr zu sagen hat als die Millionen von hungernden Menschen in Afrika, von denen uns seit Jahrzehnten anklagende Bilder geschickt werden. Es ist richtig, auf diesen Hunger hinzuweisen, es ist auch richtig, persönlich zu helfen und zu spenden, aber es ist falsch von jenen, die dazu aufrufen, sich zu beschränken oder zu spenden, die wahren Ursachen für dieses Menschheitsverbrechen nicht zu benennen. 

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnis schränken wir uns auch gerne noch etwas weiter ein, in erster Linie aus Klimagründen, aus Respekt vor den Tieren, aber wir lassen uns nicht verkaufen, dass der Russland-Ukraine-Krieg den Welthunger explodieren lässt bzw. dass es dazu keine Alternative gäbe. Den Hunger gab es zuvor bereits und hierzulande haben sich nur wenige daran gestört.

Dieser schreckliche Krieg wird im Moment dazu verwendet, alle möglichen Narrative zu befördern, den Verzicht populär zu machen, jede Woche kommt ein Politiker mit neuen Vorschlägen, die an uns alle adressiert sind. Sie laufen immer darauf hinaus, dass wir mal darüber nachdenken müssen, dass wir auf viel zu großem Fuß leben. Das tun einige von uns auch, das betonen wir immer wieder und es gibt sehr gute Gründe, das eigene Konsumverhalten grundsätzlich zu überdenken. Aber so, wie wir die Menschen im Allgemeinen kennen, fühlen sich jetzt wieder diejenigen am meisten moralisch gepackt, die eh schon selbst sehr wenig haben und überlegen verzweifelt, wo sie denn bitte noch „Einschränkungen“ herzaubern sollen. Mit anderen Worten: Auf ohnehin bestehende Ungerechtigkeiten werden mithilfe dieses Krieges und der willkommenen Spins, die er bietet, neue aufgesattelt. Es muss mal ein Ende haben, dass uns die Politik dermaßen verschaukelt, was die wirklichen Folgen des Raubtierkapitalismus angeht und uns konsequent vorenthält, vom wem bzw. wodurch Hunger, Krieg und Elend auf der Welt verursacht werden, warum es mit dem Klimaschutz nicht vorangeht usw. usw. Ehrlichkeit ist der Anfang von allem, nur dadurch kommt das Vertrauen zustande, das Menschen solidarischer macht. Wenn die Politik das begriffen hat, können wir über fast alles reden. Sogar über Konsequenzen, die wirklich für sehr viele Menschen etwas bringen, nicht nur für die Geldbörse weniger.

Wie auch immer Sie abstimmen und welche guten Gründe Sie auch für (vollkommenen?) Fleischverzicht haben, lassen Sie sich nicht einreden, der Krieg sei ein solcher guter Grund. In der gesamten Menschheitsgeschichte wurden Völker mit solchen Geschichten, um nicht zu schreiben, mit solchen Lügen, unterm Joch gehalten und gleichzeitig gegeneinander aufgehetzt. Es ist ja klar, dass gegenwärtig viele einen Brass auf Russland haben, das diesen vorgeblichen Engpass ausgelöst haben muss. Der Krieg an sich ist auf jeden Fall ein Verbrechen des imperialistischen Wladimir Putin, aber es ist auch ein Verbrechen, ihn als willkommenes Mittel für den Klassenkampf von oben zu verwenden.

TH

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