Filmfest 760 Documentary
Reiner Zufall, dass wir einen Tag nach diesem Beitrag, in dem wir uns dagegen gestellt haben, für die Spekulanten der Welt büßen zu müssen (wir müssen es sowieso, auch wenn wir uns jetzt nicht weiter einschränken), auf eine vom SWR gezeigte Dokumentation gestoßen sind, die sich intensiv und 80 Minuten lang mit dem Hintergrund von Krisen aller Art befasst und dabei zu einem Schluss kommt:
Dass Spekulation ins Chaos und zu unbeschreiblicher Not führt. Mehr dazu in der –> Rezension
Inhalt
Der Dokumentarfilm zeigt, wie Preiserhöhungen von lebensnotwendigen Güter wie Brot, Wasser und Öl Wellen erzeugen, die durch die globale Wirtschaft branden und eine Woge unvorhersehbarer Ereignisse anstoßen: Wirtschaftscrashs, Revolten und sogar Kriege.
Link zum Film:
Rezension
Das ist nun nicht ganz neu, aber die Herleitung vom Schmetterlingseffekt aus gesehen ist sehr anschaulich, um nicht zu schreiben plakativ und hat lediglich zwei Fehler: Sie ist monokausal. Das kommt unter anderem daher, weil der Schmetterlingseffekt mit dem Schneeballeffekt gleichgesetz wird, es geht aber darum:
Der Schmetterlingseffekt (englisch butterfly effect) ist ein Phänomen der Nichtlinearen Dynamik. Er tritt in nichtlinearen dynamischen, deterministischen Systemen auf und äußert sich dadurch, dass nicht vorhersehbar ist, wie sich beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen des Systems langfristig auf die Entwicklung des Systems auswirken.
Die namensgebende Veranschaulichung dieses Effekts am Beispiel des Wetters stammt von Edward N. Lorenz „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?[1]“ Die Analogie erinnert zwar an den Schneeballeffekt, bei dem kleine Effekte sich über eine Kettenreaktion bis zur Katastrophe selbst verstärken. Beim Schmetterlingseffekt geht es jedoch um die Unvorhersehbarkeit der langfristigen Auswirkungen.
Es handelt sich bei dem, was wir sehen, andererseits nicht um die Erstellung einer Verschwörungstheorie, wie wir es in Kommentaren dazu gelesen haben, denn das ist ja gerade den Spekulationsmärkten immanent: Jeder handelt für sich oder seine Klienten und versucht, den anderen zu übertrumpfen. Insofern sind natürlich auch Spekulanten ins Leistungsprinzip einzugliedern. Wer die Preise am kräftigsten treibt und davon am meisten profitiert, ist der King. Anfangs kommen auch Menschen zu Wort, die sich sehr mit dem Kommher der Spekulation vertraut sind, dann geht es weiter mit jenen, die mehr analytisch-distanziert das Phänomen der allumfassenden Spekulation beschreiben und auch davor warnen – bis hin zu den Opfern. Mal sehen, ob wir sie noch alle zusammenkriegen:
Orte in Syrien werden nur überflogen, aber der Irak wird besucht, Libyen gezeigt, man spricht mit Menschen in der Ukraine, im Donbass, jetzt wird es also ganz aktuell, obwohl der Dokumentation schon im Sommer 2021 gezeigt wurde, mit Opfern der Klimakrise in Kenia, der Ölpreisspekulation in Venezuela, der Kaffeepreisspekulation im Zusammenhang mit dem Klimawandel in Guatemala.
Ob die geostrategischen Hintergründe selbst immer wieder 1:1 mit Spekulation gleichzusetzen sind, ist eine Frage, die sich uns dabei immer wieder gestellt hat. Aber auch unter jenen, die sich mit Imperialismus auseinandersetzen, ist die Ansicht weitverbreitet, dass es im Wesentlichen um Rohstoffe geht. Wir haben uns in dem oben verlinkten Artikel dagegen gewendet, dass uns die Politik zu verkaufen versucht, alles, was wir im Moment an Verwerfungen sehen, sei a.) durch Corona und b.) durch den Russland-Ukraine-Krieg bedingt. Das trifft nicht einmal faktisch zu und die Hintergründe, wie z. B. dieser Krieg zustande kam, hat viel mit – nun ja, mit Rohstoffen zu tun. Es geht vor allem um die in der Ostukraine entdeckten neuen Öl- und Gasvorkommen, von denen weder die Ukraine noch Russland lassen wollen. Insofern ein nachvollziehbarer Grund für den Krieg, für den Separatismus in dieser Region, aber darüber hinaus auch ein Clash zwischen den USA und dem ihm angeschlossenen Westen und dem russischen Imperium: Für beide hat die Ukraine eine strategische Wichtigkeit, die weit über ihre aktuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten hinausweist. Die USA wollen die Ukraine als Vorposten des Westens installieren, um Russlands rohstoffbasierte Geostrategie anzugreifen, Russland will an die Rohstoffe in der Ukraine heran, um genau das zu verhindern. Die Frontlinien, die sich jetzt in einem Krieg äußern, stammen schon aus den 1990ern, sie wurden damals zuerst beschrieben und wurden in den politischen Bewegungen in der Ukraine sichtbar. Schon damals, etwa vor und nach dem Maidan, gab es bewaffnete Auseindersetzungen, die vor diesem Hintergrund stattfanden.
Deswegen fällt es uns auch schwer, zu glauben, dass Russland nicht versuchen wird, die Ukraine so gut wie möglich vollends unter Kontrolle zu bringen. Denn was passiert, wenn im Westen des Landes sich weitere Rohstoffvorkommen erschließen? Dummerweise wird all dies wirtschaftlich ein Schuss ins Knie sein, denn eine erst einmal erzielte Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen wird irreversibel sein. Bleibt für Putin nur noch die Abhängigkeit von China oder China gegen Indien auszuspielen. Das wäre noch eine Möglichkeit, die wir bisher wenig in unsere Überlegungen einbezogen haben. Aber auch dies funktioniert nur solange, wie Rohstoffe ein Druckmittel sind.
Die Märkte machen mit alldem ihr eigenes Ding. Sie haben darauf spekuliert, dass der IS die Ölquellen des Iraks besetzen kann und dann versucht, die Abnehmer zu erpressen, also ging der Ölpreis hoch. Nach der Bankenkrise stieg er weiter, obwohl das nicht mit der Entwicklung der Weltökonomie zu rechtfertigen war, denn der Trend blieb angesichts vieler Risiken weiter intakt. Die Gegenbewegung kam 2014, 2015. Der Beitrag zeichnet das viel besser, als wir es hier können, aber auf eines müssen wir immer hinweisen: Selbst umfangreiche Bücher sind aus einer bestimmten Perspektive heraus geschrieben und für eine 80-Minuten-Doku im Fernsehen gilt das allemal, wenn sie in Form einer Anklage gegen den Finanzkapitalismus formuliert ist. In Wahrheit sind Politik und diese Form von Kapitalismus symbiotisch, weil sie sich gegenseitig stützen.
Geopolitische Absichten und Profitziele lassen sich prima koordinieren, zulasten der Mehrheit der Weltbevölkerung, selbst dann, wenn die Spekulanten nur die Nutznießer und sogar die Auslöser konkreter Krisen sind und umgekehrt die Politik: Dass z. B. ein hoher Ölpreis die Kriegsgefahr befördert, klingt eindrucksvoll und vielleicht kann man es wirklich mathematisch belegen. Eher statistisch, nach unserer Auffassung, also immer nur rückwirkend und mit Prognosen aus den Erkenntnissen der Vergangenheit heraus, die man wiederum zu Algorithmen verdichten kann. Ein neuer Faktor, dessen Auswirkungen nicht eingeschätzt werden können, kann alles über den Haufen werfen und dann kommt auch die Stunde der Emotionen, nicht der KI, die heute schon die Märkte erheblich mitbestimmt: Wer den richtigen Riecher hat, kann unendlich reich werden und unendlich viel von der Armut anderer profitieren. Wer ist Provokateur und wer ist bloß Nutznießer?
Es lässt sich nicht ändern, eine entscheidende Stelle ist nämlich im Film benannt. Besser, ein entscheidendes Ereignis. Der relative Frieden der 1990er hat zu Problemen bei der Finanzialisierung von schlicht allem geführt, besonders deutlich wurde das durch die Dotcom-Blase und ihr Platzen. Das wird so nicht in der Doku genannt, aber es gab natürlich auch Gründe dafür, dass die Rohstoffmärkte im Jahr 2000, noch von der Clinton-Administration, radikal liberalisiert wurden und sich plötzlich viel mehr Marktteilnehmer an den Börsen tummelten, die etwas vom Kuchen abhaben wollten. Wir haben es im oben verlinkten Beitrag erwähnt: Es wird viel mehr mit Lebensmittelrohstoffen gehandelt als überhaupt welche produziert werden. Klingt irre, verrückte, pathologische Narzissten ohne jedes Mitgefühl für das Leid auf der Welt finden es klasse, aber nun ist es so weit. Was im Beitrag erst angekündigt wird, findet gerade statt:
Wir alle kriegen es jetzt zu spüren, es fällt auf den Westen zurück. Und wenn wir noch mal einen Dumpfbackenbetrag über den Reichtum Deutschlands und darüber lesen, dass wir jetzt halt alle mal bisschen ran müssen und darüber, dass es unbequemer wir und überhaupt, dass immer von „wir“ und von Deutschland gesprochen wird, als sei das ein lebendiger Organismus, dem ein paar Kilo Bauchspeck weniger nichts schaden würden, dann werden wir irgendwann mindestens verbal die Contenance verlieren, noch mehr gilt das nicht für Plapperjournalist:innen, wir bringen keine Beispiele, sie sind derzeit Legion, sondern für Politiker:innen, die plötzlich so auffällig auf das Wir-Gefühl setzen. Nein! Es sind auch in Deutschland diejenigen, die mit Kapital spekulieren oder andere spekulieren lassen, die das alles mitverursacht haben und jetzt davon profitieren. Woher kommen wohl die Rekordgewinne der Industrie trotz Corona, trotz angeblicher Knappheit von Rohstoffen? Weil immer auf die wirklichen Probleme noch was draufgeschlagen wird, denn wer kann im Moment schon so genau unterscheiden, was tatsächlich kriegsbedingt ist und womit man noch zusätzlich Kasse machen kann?
Mehr als 7 Prozent Inflation. Das ist der neueste Wert, der gestern bekannt wurde. Wen trifft das wohl? Die Spekulanten, die das in 70 Prozent Gewinn ummünzen können oder die Mehrheitsbevölkerung? Sie und die meisten von uns oder diejenigen, die sich freuen, wenn es auf der Welt möglichst viele Krisen gibt, weil diese Krisen die Preise in immer rascherer Abfolge erratisch auf und ab bewegen? Nichts ist für Spekulanten schlimmer als eine ruhige Situation und regulierte Verhältnisse, die den meisten Menschen etwas wie Sicherheit geben.
Alles führt zurück zur Politik: Sie ist aufgefordert, die Schäden der Liberalisierung zu begrenzen, die sie selbst angerichtet hat, um die Reichen noch reicher zu machen. Besonders Politik in Deutschland und Journalist:innen in Deutschland müssen sich langsam fragen lassen, wir lange sie das Spiel mit uns noch treiben wollen, uns komplett von den Hintergründen der jetzigen Entwicklung sozusagen freizuhalten. In den USA versucht Joe Biden gerade, die Superreichen etwas mehr zu besteuern. Ob er’s schafft. Sollen wir darauf spekulieren, eine Wette eingehen, versuchen, Geld zu machen? In Deutschland gibt es nicht einmal einen Ansatz, nicht einmal eine Fake-Initiative dazu die Profiteure dieses rüden und menschenverachtenden System mehr zur Verantwortung zu ziehen und wenigstens einen Bruchteil der Schäden steuerlich auszugleichen, die sie weltweit mit ihrem Treiben anrichten. Selbstverständlich wissen es die Kenner, aber das Blöde ist, dass es keine 100-Prozent-Übereinstimmung gibt, aber letztlich nicht überragend relevant: Stärkegefühl hat es mit Geld zu tun und kann nur bedingt durch ideologische Festigkeit ersetzt werden, wie einst im Ostblock, dessen Anführerland, die Sowjetunion, sich einen imperialistischen Kampf mit den USA lieferte. Die Gewinner von gestern stehen heute ganz schön unter Druck und könnten die Verlierer von morgen sein, wenn China es schafft, seinen Aufstieg, der nicht auf Demokratie, auf Werten, auf guten Lebensverhältnissen für alle beruht, sondern auf Kapitalismus beruht, fortzusetzen.
Kapitalismus, Imperialismus, Krieg und Reichtum für wenige und Not für viele gehören zusammen und natürlich gibt es Gründe dafür, dass die Rohstofflieferanten dieser Welt fast alle autokratisch regiert werden. Das finden wir in der Dokumentation gut hergeleitet, aber was ist z. B. mit der ölarabischen Diversifizierung? Klar: Auch sie findet vor allem in Form von Kapitalinvestitionen jenseits der Rohstoffiwirtschaft statt. Jenseits der Förderung zumindest. Hier wird nicht gearbeitet, hier wird andere arbeiten lassen, wie jetzt noch auf den Ölfeldern, so nun auch in den Industriebetrieben, in die man sich eingekauft hat. Reichtum, der nur darauf beruht, dass jemand das richtige Stück Land besetzt hält, kann nicht demokratisch, kann nicht für die Mehrheit gewinnbringend sein. Klar sind Länder, die durch Rohstoffgeldsegen reich wurden, eher bereit, auch ein militärisches Risiko zu gehen, siehe Russland. Der Ölboom der frühen 2000er ist ein Mitgrund dafür, dass Russland seine Devisenreserven ausbauen konnte, aber was hatte und hat die einfache Bevölkerung davon? Und was haben demokratisch gewählte Politiker davon, dass sie uns informatorisch an der kurzen Leine halten wollen? Nun ja, auch als nicht-rohstoffexportierendes Land kann man Krisen aller Art, die man mitverursacht, hinter solchen auf den ersten Blick sehr linearen kausalen Zusammenhängen gut verstecken. Falls Sie nun also zu denen gehören, die ein paar Euro Ausgleich für die steigenden Energiepreise bekommen: Seien sie sicher, Sie haben sie verdient und seien Sie sicher, Sie bekommen nicht, was sie verdient hätten, nämlich einen echten Anteil am Kuchen, der darauf hinausliefe, die massive, spekulationsgetriebene Ungleichheit etwas zu verringern. Glauben Sie aber nicht, die Politik würde sich trauen, an die Wurzel des Übels heranzugehen. Das würde sie erst tun, wenn sie sich selbst ernsthaft in Gefahr sähe, und wie deren Frühwarnsystem funktioniert, haben wir in Sachen Corona und jetzt in Sachen Ukrainekrieg gesehen. Es ist quasi nicht vorhanden. Erst wenn es zu Straßenunruhen kommt, wird vielleicht reagiert. Indem man schießen lässt.
Seit Jahren anhaltende Spekulationsblasen wie die mit Immobilien, die das Wohnen für immer mehr Menschen kaum noch bezahlbar sein lässt, haben wir dabei noch gar nicht angesprochen, weil wir sie schon länger als Sonderthema in unserer Stadt behandeln, aber selbstverständlich folgt die Schneise der sozialen Verwüstung, die dadurch verursacht wird, demselben Prinzip wie bei allen anderen Anlagemöglichkeiten.
Da es sich um eine Rezension zu einem Film handelt, werden wir diesen Artikel zunächste im Rahmen unserer Kulturbeiträge „Filmfest“ zeigen, ihn aber auch für unsere politischen Darstellungen verwenden und weiterentwickeln.
TH