Filmfest 763 Cinema – Die große Rezension
Die Spinnen ist ein Abenteuerfilm von Fritz Lang in zwei Teilen, entstanden bei der deutschen Filmproduktionsfirma Decla Bioskop AG. Der erste Teil hatte unter dem Titel Der goldene See am 3. Oktober 1919 in Berlin Premiere, der zweite Teil, Das Brillantenschiff, wurde am 6. Februar 1920 uraufgeführt.
Wenn Sie einen Film aus dem Jahr 1919 anschauen wollten, der fixer abläuft als alles, was heute produziert wird, der mehr Handlungselemente aufweist und raschere Bildschnitte hat, dann empfehlen wir Fritz Langs Zweiteiler „Die Spinnen“. Und damit zur nächsten Größe des deutschen Films, nachdem unsere Lubitsch-Revue langsam zum Abschluss kommt. Wir bleiben dabei in der Chronologie: Die ältesten erhaltenen Filme von Ernst Lubitsch stammen aus den Jahren 1915, 1916, Fritz langs erste Regiearbeit ist „Die Spinnen“ (zwischen den beiden Teilen: „Harakiri„, den wir bereits besprochen haben), F. W. Murnau begann zwar etwas früher, aber der erste erhaltene Filme, den er inszeniert hat, ist „Der Gang in die Nacht“ aus dem Jahr 1920, den wir demnächst rezensieren werden.
1978 wurde eine amerikanische Fassung des Films mit englischen Zwischentiteln von David und Kimberley Shepard restauriert. Eine neue Musikbegleitung wurde von Gaylord Carter komponiert und auf einer Kinoorgel eingespielt. Die Kopie für die restaurierte Fassung mit Musik wurde offensichtlich in zu hoher Geschwindigkeit gezogen (vermutlich mit 25 Bildern/Sekunde statt der bei der Aufnahme wahrscheinlich verwendeten und 1919 üblichen 18 Bilder/Sekunde). Dieser Umstand verkürzt die Gesamtspieldauer der beiden Teile entsprechend um ca. ein Viertel auf insgesamt 137 Minuten und ist auch bei der Betrachtung des Films offensichtlich. Die restaurierte Fassung ist, wie auch das Original, viragiert.
Der rasante Eindruck hat auch damit zu tun, selbstverständlich. Aber vielleicht ist „Die Spinnen“ auch die Urmutter aller Filme, in denen eine geheimnisvolle Organisation hinter Schätzen oder gar der Weltherrschaft her ist und dafür keine Mittel und keine Grausamkeit scheut. Nicht nur Dr. Mabuse lässt grüßen, der im Vorspann von den Kimberleys erwähnt wird, sondern auch James Bond. Allerdings ist auch Hitchcock drin, denn der Protagonist ist ein Zufallsheld, kein professioneller Spion, er gerät in die Sache hinein aus reiner Abenteuerlust und somit hat „Die Spinnen“ auch etwas von „In 80 Tagen um die Welt“, denn fast jedes denkbare Verkehrsmittel wird verwendet, um so schnell wie möglich von einem Ort zum anderen zu gelangen. Manchmal spart man sich die Reisebestandteile ganz und ersetzt sie durch die Handlung beschleunigende Zwischentitel. Deswegen fällt auch der Part auf dem Brillantenschiff besonders auf, hier werden manche Momente sehr akribisch dargestellt. Man bekommt beinahe den Eindruck, dass der zweite Teil schon etwas weiter ausentwickelt ist, als habe Fritz Lang bei seinem ersten Großprojekt in Form von Learning by Doing gelernt. Der zweite Teil ist auch länger, wobei ich nicht weiß, inwieweit alle Bestandteile beider Teile erhalten sind. Die Übergänge sind doch teilweise, vor allem eben zu Beginn, recht heftig bzw. nicht vorhanden. Ein Western, ein exotischer Abenteuerfilm, ein Agentenfilm – mehr geht kaum. Das alles im Griff zu behalten, schafft Lang noch nicht perfekt, aber doch schon erstaunlich gut und auch dieser Film kennzeichnet die mehrfach erwähnte Explosion der Kreativität im deutschen Kino zu Beginn der 1920er. Deswegen lohnt es sich auch, diese Epoche etwas genauer anzuschauen. Wir tun das in Form von „Die Spinnen“ in der –> Rezension.
Handlung (1)
1. Teil: Der goldene See (1919)
Der britische Forscher Fred Johnson wird von einem Inka-Stamm in einer Dschungelstadt gefangen gehalten. Es gelingt ihm, zum Meer zu flüchten und eine Flaschenpost abzusetzen, ehe er von einem Inka-Krieger getötet wird. Die Flaschenpost wird Monate später vom jungen Millionär und Sportsegler Kay Hoog vor San Francisco aufgefischt. Hoog bricht umgehend auf, um den Verschollenen zu retten und den sagenumwobenen Schatz zu heben, auf dessen Suche sich Johnson befand. Der Geheimbund „Die Spinnen“, angeführt von der Millionärin Lio Sha, gelangt durch Raub des Flaschenpost-Briefes an die Information vom Schatz. Lio Sha rekrutiert in Mexiko eine Schar von verwegenen Revolverhelden, um die Ruinenstadt zu finden und den Inka-Schatz in den Besitz der „Spinnen“ zu bringen. Kay Hoog erreicht mit einem Fesselballon als erster die Inka-Stadt und rettet der Priesterin Naela, die von einer Schlange angefallen wird, das Leben. Die dankbare Naela warnt ihn vor ihrem blutrünstigen Stamm, versteckt ihn in der Inka-Stadt und zeigt ihm den sagenumwobenen goldenen See, der in einer Höhle liegt, von einem unterirdischen Wasserfall gespeist wird und unermessliche Goldschätze enthält. Lio Sha ist inzwischen von den Inka gefangen genommen worden. Sie soll anlässlich eines Sonnenfestes den Opfertod sterben. Kay Hoog rettet Lio Sha in letzter Sekunde. Die „Spinnen“ dringen in die Inka-Stadt ein. Es kommt zum offenen Kampf. Die Schatzsucher erreichen den goldenen See, lösen dort aber einen Selbstzerstörungsmechanismus aus und ertrinken bei der Überflutung der Höhle. Nach einem dramatischen und actionreichen Kampf mit den Inka gelingt es Kay Hoog, zusammen mit Naela aufs offene Meer zu flüchten, wo sie von einem Schiff aufgegriffen werden. Zurück in San Francisco gesteht Lio Sha ihrem Widersacher Kay Hoog ihre Liebe. Dieser weist sie zurück, weil er und Naela ein Paar sind. Die eifersüchtige Lio Sha lässt daraufhin Naela ermorden. Kay Hoog schwört Rache an den „Spinnen“.
Das Brillantenschiff (1920)
Der zweite Film beginnt mit einem Diamantenraub der „Spinnen“ in einer Bank. Kay Hoog gelingt es, ihre Spur aufzunehmen und zusammen mit der Polizei eine Razzia in deren Hauptquartier zu organisieren. Das eiserne Haus der „Spinnen“ wird gestürmt, als diese sich gerade zu einem konspirativen Treffen einfinden. Nach einem actionreichen Kampf entkommen die „Spinnen“ mit knapper Not durch einen Hinterausgang. Im Haus der „Spinnen“ findet sich der Zutrittscode zu einem konspirativen Verbrechertreff in San Franciscos Chinesenviertel. Dabei handelt es sich um eine unterirdische Stadt, von Tigern bewacht und von illegalen Spielcasinos und Opiumhöhlen dominiert. Kay Hoog verschafft sich dort Zutritt und belauscht Lio Sha, die gerade ein Segelschiff chartert. Die „Spinnen“ planen, damit einen riesigen Brillanten in Form eines Buddhakopfes zu finden, der seinem Besitzer die Herrschaft über ganz Asien verleihen soll. Hoog wird entdeckt, gefangen genommen und in einer Kiste mit auf die Reise dieses „Brillantenschiffes“ genommen. Die Spur des Diamanten führt nach Indien, dann zum Diamantenmagnaten John Terry nach London. Dort kann sich Hoog befreien und vom Schiff fliehen. Als die „Spinnen“ in Terrys Haus eindringen, ohne dort den Diamanten zu finden, nehmen sie Terrys Tochter als Geisel mit. Es stellt sich heraus, dass ein Urahn Terrys den legendären Diamanten auf den Falklandinseln versteckt hat. Das Brillantenschiff der „Spinnen“ ist bereits auf dem Weg dorthin. Hoog eilt hinterher. In der Schatzhöhle auf den Falklandinseln kommt es zum Showdown zwischen Kay Hoog und den von Lio Sha angeführten „Spinnen“. Kay Hoog kann den Diamanten finden und sicher verstecken, ehe er von den Spinnen eingeholt und überwältigt wird. In der Nacht steigen giftige Gase aus den Tiefen der Höhle auf und töten Lio Sha und die gesamte Expedition der „Spinnen“. Kay Hoog kann sich befreien und überlebt mit knapper Not. Er kehrt nach London zurück und überantwortet Terry den Diamanten. Inzwischen hat die Polizei die Spur von Terrys entführter Tochter aufgenommen. In einem Hotel wird sie aus der Gewalt der „Spinnen“ befreit.
Rezension
Ich glaube, bis zum Italowestern hat es gedauert, bis in wenigen Minuten so viele Menschen im Film erschossen werden wie in „Die Spinnen“. Fritz Lang spart wahrlich nicht an Bodycount, und dem Publikum hat’s gefallen. So gut, dass man damals schon hätte Rückschlüsse daraus ziehen können, was allgemein als ein Reißer und Blockbuster empfunden wird. Die Zahl der Elemente, die später zu Standards wurden, ist Legion, von den Verfolgungszenen im Westen über die Fluchtbewegungen, die Manhunt, die Schnitzeljagd quer über den Erdball, unter Einschluss von Chinatown in San Francisco mit seiner unterirdischen Stadt, die selbstverständlich erfunden ist, ebenso wie der Buddhagesicht-Diamant, der als Symbol des wiederauferstehenden Asiens gilt und hinter dem mehrere Parteien deswegen und natürlich wegen seines Wertes her sind. Ein McGuffin im engeren Sinne ist er nicht, er taucht ja wirklich auf, aber er ist das große Motiv aller, die sich an der Jagd beteiligen. An „Der Schatz der Sierra Madre“ wiederum hat mich erinnert, wie Verbrecher und Glücksucher gleich aneinander geraten, wenn es Beute zu verteilen gibt. Ein Romantiker war Fritz Lang nicht, das merkt man diesem Film an. Vermutlich lässt er deshalb den einzigen größeren dramaturgischen Fehler zu, nämlich, dass die Frau, in die sich der Amerikaner Kay Hoog verliebt, bereits am Ende des ersten Teils stirbt, weil sie von den Spinnen bzw. deren rachsüchtiger Anführerin ermordet wird. Diese Figur wiederum ist noch halb in der Vergangenheit verhaftet, mit ihrer Rache wg. verschmähter Liebe, gleichzeitig die CEO einer Verbrecherorganisation, die von Fritz Lang mit allen Insignien eines Vamps und einer Amazone ausgestattet wird und zweifellos die modernste Figur von allen darstellt. Dass es mit ihr an der Spitze des ausführenden Teils der Organisation nicht friedlicher zugeht, als wenn ein Mann diese Position innehätte, sollten wir uns merken, denn die Idee, dass die Welt nur deshalb besser werden würde, wenn sie von Frauen geführt wurde, hat inzwischen auch die Politik widerlegt, dafür gab es 1919 aber erst wenige Vorbilder. Vielleicht Katharina die Große oder Elizabeth I. von England, es gab eben nur wenige Frauen, die im Europa früherer Zeiten offizielle Positionen hatten, mit denen sie viel anfangen konnten.
„Die Spinnen“ bedarf dringend einer erneuten Restaurierung. Es ist verwunderlich, dass die Murnau-Stiftung sich dieser Aufgabe nicht längst angenommen hat, aber vielleicht hatten die US-Restauratoren von 1978 die Rechte an dem Film erworben. Frei zugänglich ist er heute gleichwohl. Eine Digitalisierung in 4K und dann ein Zurücksetzen auf die richtige Geschwindigkeit würden einiges von der sehr schlechten Bildqualität und natürlich die doch etwas zu große Hektik der Bewegungen ausmerzen. Nicht aber die Sprünge, die manchmal so abrupt sind, dass man den Eindruck hat, Lang wollte die Szenen gar nicht ausspielen, sondern nur andeuten, was geht oder was ginge, wenn die Filmtechnik schon besser wäre. Es ist schon auffällig, dass physisch schwierige Momente auf diese Weise möglichst vermieden werden. Zu den Filmern, die es gerade reizvoll fanden, solche Momente auszutüfteln und das Publikum damit in Erstaunen zu versetzen, ein Slapstickakrobat mithin, war Lang nicht und war auch keiner seiner Darsteller:innen. Der Film wirkt, als habe es ihn eher gestört, dass man nicht alles komplett realistisch zeigen kann, weshalb er lieber gleich in die nächste Szene sprang, als sich Lächerlichkeiten aufgrund mangelhafter Technik zu leisten. Bezüglich des Editings hatte sich in den Jahren danach sehr viel getan und man muss umso begeisterter davon sein, was diese damals jungen Regisseure sich zutrauten und wie sie einen Kanon des Films schufen, der bis heute im Ganzen gültig ist. Lang hat ja mit „Metropolis“ und mit „Die Frau im Mond“ ein paar Jahre später auch das SF-Genre miterfunden, mit „Die Frau im Mond“ sogar den Hard SF, wenn man so will, weil er unter Zuhilfenahme des fachlichen Rats eines gewissen Wernher von Braun alles in den Film einbaute, was damals über die Durchführung einer möglichen Mondfahrt bekannt war.
So weit sind wir in „Die Spinnen“ noch nicht, das Diamantenschiff fährt noch unter Segeln, gelegentlich wird geritten, aber bei der Regatta, um die es im ersten Teil geht, dachte ich natürlich an einen Segelwettbewerb – und dann fährt Hoog mit einem Prototyp von einer reinen Motorjacht herum und findet die Flaschenpost. Wo dabei der Sport sein soll, hat sich mir nicht erschlossen, aber der Film hat, auch hier wieder vor allem im ersten Teil, einige Wischer und macht außerdem den Eindruck, als wenn einige Szenen anlässlich der Restauration in der falschen Reihenfolge montiert worden wären. Am Ende des zweiten Teils hingegen gibt es einige Szenenfolgen, die qualitativ wirklich in herausragend schlechtem Zustand sind. Daher der Wunsch nach digitaler Restaurierung. Das alles macht das Folgen etwas schwierig, neben der erwähnten überhöhten Geschwindigkeit. Während sich Ernst Lubitsch in den Jahren zuvor mit ansehnlicher Geschwindigkeit, aber schrittweise im Jahr 1919 zu Filmen wie „Madame Dubarry“ vorgearbeitet und dabei immer gewirkt hatte, als beherrsche er alles komplett, was er zeigt, merkt man bei Lang schon in diesem frühen Film, dass er die Grenzen am liebsten für immer springen und den Filmfilm machen würde, der die Welt in Ekstase versetzt angesichts dessen, was Kino alles kann. Lang war nicht nur seiner Zeit, sondern auch sich selbst in „Die Spinnen“ ein wenig voraus. Bildtelefone, wie in „Metropolis“ gibt es noch nicht, aber Funk, Telegrafie, verschlüsselte Botschaften, ein weltweites Kommunikationsnetz des Verbrechens, das in einer Szene gut dargestellt wird, in der man eine veritable Konferenzschaltung sieht, zeugen vom Vorwärtsdrang dieses Regisseurs, der vom 19. am liebsten gleich ins 21. Jahrhundert gesprungen wäre, wenn man ihm das angeboten hätte, wie weit der Sprung auch gewesen wäre und wie ungewiss die Sicherheit einer unversehrten Landung. Allein deswegen hätte er mitgemacht, weil er seinerseits sicher gewesen wäre, dass es bis dahin den Tonfilm geben würde, mit dem man alles noch einmal mehr beschleunigen und Archetypen in Sekundenschnelle erschaffen kann. Ein F. W. Murnau hingegen hätte wohl eher Schauder angesichts dieses radikalen Wechsels empfunden. Von diesem Sturm auf das Alte, dieser Suche nach der neuen Welt im Film unter Einbeziehung aller Novitäten der Realität zeigen die amerikanischen Werke von Fritz lang leider nicht mehr viel, sie sind einfach nur, im Rahmen der Möglichkeiten des Hollywoodsystems, gut gemacht und bestenfalls gesellschaftskritisch, wie „Fury“, sein erster Hollywoodfilm.
„Mit weit ausholender Geste schüttet lang aus dem Füllhorn seiner Erfahrungen, Wünsche, Träume und Vorstellungen den Zauber der Welt über die Leinwand, er ist Reisender und Sammler, Moralist der ungebrochenen Antiethik, abenteuerlicher und abenteuernder Unterhalter von hohen Graden, Schöpfer eines aufgescheuchten Arkadiens, worin die Elfen Abendroben und die Helden Smoking tragen. Beides umfängt die überschäumende, wild dahin strömende Handlung: utopisches Mittelalter und technologische Vorgriffe. Im lebenswerten Anreißerton wird Illusionskino dargereicht, in schönen Schachteln verpackt, das Unmögliche Abenteuer, die Raritäten der Exterieurs und Intrrieurs und die Attraktion eines Siegfriedwaldes bei Yucatan, die Juweleninselgrotte in Feuerland, wie man sie aus dem Karl May heraus sinnierte – alles das reicht sich durch die inszenatorische Geschicklichkeit Langs die Hand zum bunten Reigen. Die Bilder gehen voller Vitalität über den Bildrand hinaus, schäumen über ins Herz und Gemüt des Zuschauers, der sich an die Brust greift vor lauter Spannung, wenn sich unter Hoogs Füßen eine geheime Falltür öffnet. Eine Geheimorganisation, die sich die Spinne nennt, lässt Staatsabsichten vergessen, die vor der Kino Tür lagen. Vergessen sind Wedding und Alexanderplatz. Lang lässt Kai Hoog die Sonnenpriesterin aus den Klauen Lio-Shas reißen und die Geheimorganisation zerstören. Eine höhere Gerechtigkeit, die einer synthetischen Wirklichkeit, geht so Herz und stillt Bedürfnisse und Kummer.“ – Peter H. Schröder, Filmkritik, zitiert nach Bandmann / Hembus, Klassiker des deutschen Stummfilms, S. 52.
Danach gehen die Autoren von „Klassiker“ zu Fritz Lang selbst über, dem damals schon Weitgereisten, welcher demnach in der Tat aus seiner Erfahrung schöpfen konnte oder zumindest aus den Bildern der Welt, die er als junger Mann in sich abgespeichert hatte. Damit hatte er den meisten Menschen damals viel voraus, die nie über die Landesgrenzen hinausgekommen waren, vermutlich aber auch den meisten heutigen Touristen, die andere Bilder sehen und, wenn sie die Bilder von damals sehen würden, sie nicht zu einem solchermaßen Reigen verbinden könnten, wie er oben geschildert wird. Über den Hype mit exotischen Schauplätzen im deutschen Film gegen Ende des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach haben wir uns anhand anderer Rezensionen bereits geäußert. Mit „Die Spinnen“ hat Lang dazu nicht unwesentlich beigetragen, man kann auch sagen: Kein Regisseur damals, der auf sich hielt, und sich da nicht hineinkniete. So Lubtisch z. B. in „Sumurun“, Joe May mit „Das indische Grabmal“, Robert Reinert mit „Opium“ und sicher zahllose andere, deren Filme wir niemals wieder anschauen können, weil sie verloren sind oder irgendwo vergraben wurden, ganz unten in der großen Schatzkiste der Murnau-Stiftung, von denen auch die wenigsten nur annährend so grandios gewesen sein dürften wie diejenigen, die wir schon besprochen haben und noch besprechen werden, wenn wir halbwegs anschaubare Kopien davon auftreiben können. Die Bildqualität von „Die Spinnen“ war schon grenzwertig und ich muss ich etwas anstrengen, damit sich das nicht auf die Bewertung durchschlägt, weil doch manches in dem Film recht überstürzt wirkt. Stellt man es sich um ein Drittel langsamer ablaufend vor, wird dieser Eindruck nicht vollständig verfliegen, aber natürlich wirkende Bewegungsabläufe sind schon wichtig, um das Gepräge eines Films perfekt einschätzen zu können, seinen Rhythmus und wie etwa die Interaktion von Menschen wirkt.
Finale
Kay Hoog war also das gutaussehende alter ego von Fritz Lang, ein Globetrotter, der in jeder Situation mehr oder weniger die Oberhand behält. Das unterscheidet ihn eben nicht von den besten Hitchcock-Helden, die zwar in einer Situation neu sind, aber aus ihrer „Ubiquität“ schöpfen können, wie es bei Bandmann / Hembus heißt, aus ihrer kulturellen Versatilität, die durchaus sehr eurozentristisch-westlich ist, aber in welchem Film aus dem hiesigen Kulturkreis bis heute ist das nicht so, wenn er in einem Genre angesiedelt ist, das überdurchschnittliche Fähigkeiten seitens eines Protagonisten erfordert, der am Ende auch die haarsträubendsten Situationen überleben soll, und von denen gibt es in „Die Spinnen“ eine Menge. Manchmal ist das Bild komplett vom Pulverdampf der Schießeisen vernebelt. Eine Show, keine Frage. Hätte Lang etwa 35 Jahre nach „Die Spinnen“ mit dem Filmen angefangen, hätte er vermutlich den bis heute gültigen James-Bond-Goldstandard gesetzt, in dem er „Goldfinger“ noch fetziger und technisch progressiver inszeniert hätte, als er ohnehin ist. Obwohl er seine Filmlaufbahn etwa zu dem Zeitpunkt abschloss, als dieses Franchise aufkam, musste er sich doch Anfang der 1960er damit zufrieden geben, noch einmal einen recht akzeptablen Dr.-Mabuse-Film zu machen. Zu diesem Hauptwerk von Fritz Lang kommen wir demnächst. Vielleicht müssen wir zwei Abende dafür aufwenden, obwohl wir das insgesamt über vier Stunden lange Werk in einem Programmkino am Stück angeschaut hatten. Das ist aber lange her, man wird nicht jünger und man muss ja auch noch darüber schreiben.
Wo aber steht nun „Die Spinnen“ innerhalb der teilweise erstaunlichen Filme, die in jenen Jahren die Leinwand des Weimarer Kinos bevölkerten? Ich tendiere dazu, dass Lubitsch 1919 schon etwas weiter entwickelt und kalkulierter gefilmt hat als Lang, außerdem müsste ich irgendwann einmal nachforschen, welche Vorbilder Lang seinerseits für „Die Spinnen“ gehabt haben könnte. Ich denke dabei an die französische Fantômas / Judex-Reihe, die schon einige Jahre zuvor mit großem Erfolg gestartet war. Dieses frühe Krimikino mit seinen Rätseln, vermummten Gestalten, einem gewissenlosen, schrankenlosen Verbrecher und dann einer heroischen Gegenfigur und all den Geheimnissen ungelöster Fälle, die man sich nur ausdenken kann und die von einem Mastermind ersonnen und ausgeführt wurden, hatte sicherlich ihrerseits Einfluss auf das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufkam und in großem Stil und in Spielfilmlänge in die Kinos kam.
75/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Regie | Fritz Lang |
Drehbuch | Fritz Lang |
Produktion | Erich Pommer für die Decla Bioskop AG |
Kamera | Emil Schünemann (1. Teil), Karl Freund (2. Teil) |
Besetzung | |
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