Frontpage | Geopolitik | Krieg in Europa
Reihenweise, kann man sagen, sprechen sich Politiker:innen mittlerweile für die Lieferung schwererer Waffen an die Ukraine aus, als das bisher geschehen ist. Was ist davon zu halten? Wir beziehen uns dabei auf diesen aktuellen Artikel der „Welt„.
So schrecklich es klingt, wir haben schon vorletzte Woche geschrieben: Besser so, als die Wirtschaft im eigenen Land mit unabsehbaren Risiken kaputtzusanktionieren. Beides zusammen wird nicht gehen, also lieber das.
Das klingt zynisch.
Es gibt in dieser Lage keine schönen Möglichkeiten. Nicht, wenn man in Verantwortung steht. Ein komplettes Heraushalten können sich nur Beobachter wie wir leisten. Nicht aber die Politik. Sie ist unweigerlich in das Geschehen involviert, weil die Welt nun einmal vernetzt ist. Wirtschaftlich und militärisch. Jede Entscheidung, die jetzt getroffen wird, kann nicht nur positive Aspekte haben. Das wäre zu schlicht gedacht. Es gibt nichts Schönes oder schlicht allein Richtiges im Moment der Schrecken eines Angriffskrieges, der so viele Länder indirekt betrifft.
Steigen wir tiefer mit der Gegenposition ein, nehmen wir die Meinung einer bekannten Politikerin als Ansatzpunkt für die bekanntermaßen linke Einstellung. Sahra Wagenknecht sagt: Jede Sanktion, jede Waffenlieferung verlängert nur den Krieg und schürt Leid.
Bei den Sanktionen bin ich sogar weitgehend bei ihr. Wir werden sehen, dass die Sanktionen wieder von den Armen aller Länder die größten Opfer fordern, während es den Spekulanten egal ist, ob sie auf Friedens- oder Kriegsdividende spekulieren dürfen. Gerade ethisch orientierte Menschen sind aber meistens nicht dieser Klasse zuzurechnen und bringen freiwillig oder gezwungenermaßen Opfer, während sich das Kapital die Hände reibt. Das darf nicht das Hauptergebnis dieses Krieges sein.
Das Kapital freut sich aber auch über Waffenlieferungen.
Leider ja. Aber bei Weitem nicht in dem Maße, wie es sich über die Verwerfungen auf den Weltmärkten freut, die durch massive Sanktionen hervorgerufen werden, die immer weitere Schleifen ziehen, die sich, wenn man so will, am Schmetterlingseffekt orientieren und auch dafür sorgen, dass Menschen in ohnehin armen Ländern vermehrt hungern müssen. Was wir aber auch hierzulande jetzt schon an Inflation und teilweise künstlicher Knappheit sehen, ist für weniger Begüterte ein Wohlstandsverlust. Heute kamen die neuesten Inflationszahlen aus den USA: 8,5 Prozent im März. Das muss man sich vorstellen. In Deutschland waren es zuletzt 7,3 Prozent.
Für jene, die nicht höhere Preise durch höhere Spekulations- und Ausbeutungsgewinne ausgleichen können oder die nicht Preissteigerungen an Kunden weitergeben können. Im Fall eines sofortigen Energieembargos würden sich die Probleme vervielfachen. Die hiesige Politik neigt dazu, leichtfertig über solche Folgen hinwegzugehen. Vor allem die Grünen tun sich dabei immer wieder hervor: Naja, dann gibt’s eben einen Wohlstandsverlust. Welcher Wohlstand, bei denen, die sowieso kaum etwas zum Zusetzen haben? Und wie lange wird es dauern, die Schäden an der Industriestruktur zu reparieren, falls eine vollständige Reparatur überhaupt möglich ist?
Kanzler Scholz ist aber noch vorsichtig und wird dafür sehr kritisiert.
Wenn, wie im Artikel erwähnt, Frau Strack-Zimmermann, die viele ja als die bessere Verteidigungsministerin apostrophieren, und Außenministerin Baerbock ihre Meinungen ändern, dann ist das angesichts des Kriegsgeschehens nachvollziehbar. Es hat aber nicht dieselben Auswirkungen, als wenn der Kanzler den Paradigmenwechsel in der Außenpolitik sofort mit schwerem Gerät unterstreicht. Was er tut, ist die gültige deutsche Politik, er hat die Richtlinienkompetenz. Er kann ein Vorpreschen anderer einfangen, umgekehrt aber funktioniert das nicht. Deswegen verstehe ich auch seine Vorsicht. Scholz ist kein Hasardeur, das ist in der aktuellen Lage kein Nachteil, sondern ein Vorteil.
Waffenlieferungen, die der hiesigen Wirtschaft eher noch Vorteile bringen anstatt Sanktionen also, die uns hier schmerzen könnten. Ist das nicht doch zynisch?
Ich sagte, es gibt keine schönen Entscheidungen, in dieser Situation. Alles, was jetzt getan wird, kann und muss hinterfragt werden. Wenn man das tut, kommt man aber auch auf erschreckende Erkenntnisse über sogenannte Linke. Wenn wir sie schon erwähnen.
„Die Waffen nieder“ ist also erschreckend?
Wenn es auf faire Weise möglich wäre, wäre es das Allerbeste, welcher Mensch, der ein Herz hat, würde das bestreiten? Es tut sehr weh, anzusehen, was in der Ukraine jeden Tag geschieht. Ich sage das bewusst so und nicht „was die Russen dort jeden Tag anrichten“. Sie sind aber die Auslöser des Krieges, egal, ob man ihn auf Putin personalisiert oder nicht. Deswegen ist das, was gewisse „Linke“ von sich geben, nicht etwa pazifistisch, sondern anti-antiimperialistisch, sprich, redet imperialistischem Denken das Wort und es ist wirklich zynisch.
Nicht umschreiben, klarstellen!
Wenn jemand sagt, es muss dringend verhandelt werden, es muss dringend einen Kompromissfrieden geben, aber in einem Atemzug sagt, man darf der Ukraine keinesfalls Waffen liefern, weil das die Gräuel des Krieges verlängert, was ist das? Ist es Dummheit, ist es Prägung, ist es sogar eine ganz ungute, sackige Haltung? Ich habe mich zugunsten der betreffenden Politikerin dazu entschieden, die mittlere Variante als die entscheidende anzusehen. Da ich die Person nicht für dumm halte, müsste ich sonst nämlich sagen: Sie verlangt sehenden Auges die vollständige Kapitulation der Ukraine, damit auf dieser Basis eben kein Kompromissfrieden notwendig wird. Um es noch deutlicher zu machen: Man räumt Putin den Weg frei und er wird diese Chance nicht etwa nutzen, um einfach nur ein bisschen im Osten die rohstoffreichen Gebiete an sich nehmen und ansonsten sagen: Tschüss, aber passt auf, wir kommen wieder. Da würde ich an seiner Stelle lieber gleich dortbleiben und zumindest durchsetzen, dass die Ukraine ein russlandfreundliches Regime bekommt. Gerne ein nicht frei gewähltes. Marionettenstaaten können genauso imperialistisch ausgebeutet werden wie eigenes Territorium.
Das heißt also, was pazifistisch klingt, ist in Wirklichkeit, Putin problemlos siegen lassen?
Ich habe mir mal ein Video angeschaut, das ist am Beginn von Wagenknechts Karriere gemacht worden, ein Interview. Hinter ihr im Bücherregal sichtbar: Stalins gesammelte Werke. Sie ist mittlerweile nicht mehr Mitglied der KPF in der Linken, der Kommunistischen Plattform, aber mir erzählt niemand, dass solche politischen Prägungen nicht weiterwirken. Genau so, wie bei mir immer noch bürgerliche Grundstrukturen eine Rolle spielen. Für mich ist es eine intellektuelle Herausforderung gewesen, trotzdem überzeugter Antikapitalist und Antiimperialist zu werden.
Der Vorteil: Man begeht keine hanebüchenen Denkfehler, wenn man nicht von klein auf indoktriniert wurde, sondern sich eine Haltung unter Inkaufnahme von Trial and Error selbst erarbeiten musste. Man überprüft sich auch immer wieder selbst. Das kann man von Wagenknecht nicht sagen. Leider. Über Putins Fähigkeit zum Angriffskrieg haben wir uns fast alle geirrt, aber ich hatte ihn, seit ich mich mehr mit Außenpolitik befasse, für einen Imperialisten gehalten und darauf kann ich doch aufbauen. Hingegen sind Menschen, die immer noch nicht begreifen, dass glaubwürdiger Antiimerpialiismus Äquidistanz erfordert, zu Recht in die Defensive geraten, spätestens, seit Putins Truppen in der Ukraine wüten. Eigentlich wäre das schon früher der Fall gewesen, siehe Grosny oder Aleppo, aber der Ukraine-Krieg hat auch in der Linken ein Spaltungspotenzial, das ohnehin vorhandene Risse weiter vertiefen wird.
Putin darf diesen Krieg also nicht so leicht gewinnen?
Putin darf diesen Krieg gar nicht gewinnen. Ob er es doch schafft, hängt davon ab, ob die Ukrainer:innen weiter kämpfen wollen und ob der Westen sie hinreichend bewaffnet. Im Moment sieht es aus, als ob sie kämpfen möchten.
Kürzlich hat Gregor Gysi, der, man glaubt es gar nicht, aus derselben Partei heraus Politik macht wie Wagenknecht, gesagt: Das haben wir nicht zu entscheiden. Ob sie kämpfen wollen. Fast wortgleich das, was ich zuvor hier schon aufgeschrieben habe. Es ist in der Tat eine unglaubliche Anmaßung, die Ukrainer:innen Putin ausliefern zu wollen, und ein Pazifismus. Pazifismus für Dritte, der auch die Billigung eines Angriffskrieges beinhaltet, ist komplett scheinheilig. Das eben finde ich erschreckend. Für mich heißt Pazifismus nicht, dass ein Volk, das nun einmal gerade angegriffen wird, sich nicht verteidigen darf, damit wir unsere Ruhe haben und damit Figuren wie Putin leichte Beute machen können. Was wir jetzt sehen, ist ein Fall von Notwehr der Ukraine, das muss man klar festhalten. Notwehr ist anerkanntermaßen ein Rechtfertigungsgrund dafür, dass man auch Gewalt anwenden darf.
Und hinter dieser Scheinheiligkeit steckt die stalinistische Prägung?
Günstigenfalls. Für seine Prägung kann ja niemand etwas, die Prägenden sind immer andere. Das kann aber nicht bedeuten, diese Person kann nicht anders, sie kann sich davon nicht lösen, dass Russland grundsätzlich super ist, egal, wer es unter welchen Vorzeichen regiert und was diese Regierenden tun. Putin ist weder Kommunist, noch ist er jemand, der das Land auf einen friedlichen, imperialismusfreien Pfad führen will. Es gibt keinen Grund, ihn persönlich zu unterstützen, schon gar nicht aus marxistischer Sicht.
Das klingt ja, als könne man sich von einer Prägung doch befreien.
Man muss es ja auch wollen. Man muss einen Weg gehen wollen. Ganz sicher bin ich mir bezüglich der Dominanz der Prägung aus der Jugend bei SW auch nicht, wiewohl sie zweifelsohne eine Rolle spielt. Das Ausmaß kann ich nicht einschätzen. Ich habe auch immer ihren aktuellen Influencer Oskar Lafontaine im Blick, und den habe ich lange genug aus relativer Nähe beobachten dürfen, um ihn für zu narzisstisch zu halten, als dass ich seinen Aussagen und Motiven in ethischer Hinsicht trauen würde.
Das heißt nicht, dass er nicht schon Richtiges gesagt hat. Auf dem Feld der Sozialpolitik beispielsweise. Aber auch da geht er ja nicht einmal den halben Weg, marxistisch betrachtet, also können wir diese Betrachtung kurz halten. Lafontaine ist ein verkrachter SPD-Sozi, heute ein Ausdruck einer gruselig zersplitterten Linken, und ich bin wirklich froh, dass Olaf Scholz die SPD und das Land führt und nicht der Mann, der 1990 zu einem allerdings ungünstigen Zeitpunkt Kanzlerkandidat war. Vielleicht hätten die aktuellen Zwänge bei ihm aber auch kathartische Wirkung gehabt. Alles außer die eigene Person nur doof finden geht nicht mehr, wenn man selbst managen muss. Das heißt, es geht schon, aber man muss mit anderen trotzdem zusammenarbeiten und erkennt mit etwas Fähigkeit zur Reflexion die Grenzen seiner Möglichkeiten.
Das heißt also, man muss die Dinge sehen, wie zum Beispiel der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, sie sieht?
Das heißt es eben nicht. Siehe Sanktionen. Was soll es außerdem der Ukraine bringen, wenn die hiesige Wirtshaft ins Trudeln gerät? Den Vorteil sehe ich nicht. Klar, Putins Krieg wird auch mit deutschen Gaskäufen finanziert. Langfristige Fehler der deutschen Energiepolitik, die ich gedanklich übrigens zum Teil mitgetragen hatte, für die ich Verständnis hatte, zumindest Nord Stream 2, nicht die verpatzte Energiewende betreffend, bis Putin die Ukraine angriff, sind leider passiert und die friedenershaltende Funktion, die ich Nord Stream 2 zugerechnet hatte, ist eine Fehlkalkulation gewesen. Sie geht einher mit der Fehlkalkulation, dass ich Putin diesen Krieg nicht zugetraut hatte. Ich fand ihn immer zu rational und seine Handlungen bei aller Ruchlosigkeit nachvollziehbar. Deswegen finde ich auch den Begriff „Putinversteher“ blödsinnig, wenn nicht sogar bösartig diskriminierend. Eine Handlungsweise verstehen zu wollen, heißt ja nicht, Verständnis im Sinne von moralischer Zustimmung aufzubringen. Dieser Unterschied wird aber von den rachsüchtigen Kapitalismusjunkies, die nun die „Putinversteher“ bashen, absichtlich verdeckt. Jemanden verstehen, bewahrt vor Fehleinschätzungen. Meistens jedenfalls, wir wir jetzt wissen. Wir haben zumindest fast alle nicht verstanden, dass Putin die für den Erhalt des Friedens wichtige Contenance verlorengegangen ist und dass er deshalb solch ein Risiko eingehen könnte, wie es jetzt der Fall ist.
Also doch mehr Verständnis als Verstehen?
Ich halte nichts davon, die aktuelle Lage komplett aus dem historischen Kontext zu lösen. Sicher, die Hetzer und Hasser haben gerade Oberhand. Ich gönne ihnen das nicht unbedingt, aber ich kann es nicht ändern. Putin hat auch mich enttäuscht. Nicht, weil ich ihn für einen guten Menschen hielt, sondern, weil seine Methoden sich so verschärft haben. Weil er Vabanque spielt. Ich glaube schon, dass eine Ausgangsstrategie hinter dem steckt, was wir sehen, aber vom Ende her gedacht kann das, was gerade läuft, gar nicht sein. Denn Putin kann nicht den Westen angreifen, egal, wie sehr dieser die Ukraine aufrüstet. Das bedeutet auch, wir werden nicht dadurch Kriegspartei, dass Deutschland Waffen liefert. Und einige frühere Bestandteile der SU und besonders deren Vasallenstaaten sind nun einmal in der NATO und / oder in der EU integriert. In der NATO werden sie übrigens auch dann noch sein, wenn sie aus nationalistischen Gründen der EU den Rücken gekehrt haben sollten.
Warum sind Linke so realitätsblind?
Das sind sie ja nicht alle. Wirklich nicht. Aber ein Teil der Linken hat ein Problem, das auf falschen Narrativen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beruht. Ich halte es zum Beispiel für falsch, die Russen oder, aus westlicher Sicht, die Amerikaner immer so als Befreier zu labeln. Befreier von was bitte? Ich kann es mittlerweile nicht mehr hören, wenn es heißt, wir dürfen uns doch nicht gegen die Russer, unsere Befreier von den Nazis stellen. Wir dürfen sich nicht verurteilen, egal, was sie tun. Dast wirklich eine sehr bequeme Art, sich die Welt schönzureden.
Aber sie haben Deutschland doch befreit?
Nein. Eindeutig nein. Sie haben einen Krieg geführt, der ihnen aufgezwungen worden ist und sie haben sich selbst von der Wehrmacht befreit, wie auch die westlichen Alliierten. Noch in den 1930ern hatte US-Präsident Roosevelt angesichts des Faschismus in Europa gesagt, jedes Volk hat das Recht, sich seine eigene Regierungsform zu wählen. Und die Deutschen hatten Hitler gewählt, jedenfalls so viele von ihnen, dass er das Land in den Totalitarismus führen konnte. Weder die Amerikaner noch die Russen haben diesen großen Krieg geführt, weil sie die Deutschen von den Folgen ihre dämlichen Entscheidung für die Nazis befreien wollten, sondern, um sich selbst und ihre Freunde zu schützen. Mal ehrlich, ein Diktator wie Josef Stalin hatte zunächst an der Verteidigung orientierte, dann auch geopolitische Ziele, aber doch nicht das Ziel, eine echte Demokratie in Deutschland anstelle des NS-Regimes zu errichten. Noch 1939 hatte er mit den Nazis Halbe-Halbe gemacht, was Polen angeht.
Die Demokratie war hingegen ein westalliiertes Projekt, aber erst in der Folge der Ereignisse, keine Mission zuvor isolationistischer oder von noch vom Ersten Weltkrieg kriegsmüder Länder. Die Befreiung der Deutschen von ihren eigenen Fehlentscheidungen war niemals eine Motivation der Alliierten. Die Chance auf einen Neuanfang hat man im Westen genutzt, wenigstens einigermaßen, im Osten ist einer Dikatur die nächste gefolgt. Ich vergleiche die DDR nicht mit Nazideutschland hinsichtlich der Auswirkungen und Brutalität, aber eine Befreiung muss ja auch eine nachfolgende freie Entscheidung über das eigene Schicksal beinhalten und nicht das Eingliedern in eine neu erschaffene Einflusszone, ohne dass die Menschen darüber wirklich zu bestimmen haben. Das gilt auch für den Westen, aber der Spielraum war doch größer als für Bürger:innen der DDR und die politischen Auseinandersetzungen in der BRD waren heftig. Unter Stalin wäre das nie möglich gewesen.
Deswegen halte ich diese riesigen sowjetischen Ehrenmale für wichtige Monumente, die uns an die Schrecken gemahnen, welche Deutschland im Zweiten Weltkrieg über andere Nationen gebracht hat, aber die Narrative, die man im linken Spektrum mit ihnen verbindet, müssen endlich hinterfragt werden. Ich erwähne das wegen der Schändung eines dieser sowjetischen Ehrenmale im Treptower Park, die gerade stattfand.
Ich finde es mehr als schwierig, dass sich mit diesem Befreiungsnarrativ viele Deutsche sozusagen abspalten von der gemeinsamen Verantwortung und sich quasi als Opfer der Nazis darstellen. So viele Antifaschisten gab es nicht, als der Faschismus in Deutschland herrschte. Das ist in einem totalitären Staat auch schwierig, aber die Deutschen haben gerne mitgemacht, solange es Erfolge zu feiern gab. Und die wenigsten haben direkt nach dem Krieg zu den Russen gebetet und danke, danke, danke! ausgerufen. Erst die Staatsdoktrin der DDR hat zu dieser seltsamen Art von Freundschaft geführt, falls es je eine war, die auch darauf beruht, dass die Sowjetunion Europa von den Nazis befreit hat. Hat sie, aber nicht, weil sie genau das primär wollte, sondern weil es die Voraussetzung für den eigenen Sieg in einem Verteidigungskrieg war.
Zurück ins Hier und Jetzt: Hat Putin für Optionen, realistisch, und kann man die wirklich durch Waffenlieferungen sozusagen beseitigen?
Es gibt etwas, das mich erheblich umtreibt. Der Oberbefehl über die russischen Invasionsstreitkräfte hat gerade gewechselt. Nicht, dass die bisherigen Befehlshaber Lämmer gewesen wären, das sieht man ja an Massakern wie dem in Butscha und am Vorgehen in Mariupol etc. Aber der „Neue“ ist kein Neuer, sondern gilt als brutaler Kriegsherr, als Verfechter einer wirklich üblen Taktik: Wenn der Widerstand eines Landes nicht mit dem reinen Kampf gegen die Armee dieses Landes zu brechen ist, wird bombardiert, was das Zeug hält. Und wenn das nicht reicht, um die Bevölkerung zu demoralisieren, werden Chemiewaffen eingesetzt. Alexander Dwornikow heißt der Mann, den Namen sollte man sich merken. Wenn er in der Ukraine so vorgeht wie im syrischen Aleppo, für dessen Zerstörung er verantwortlich zeichnet, dann wird es wirklich grausig. Ich habe keine Idee, wie der Westen darauf angemessen auf diesen erneuten Völkermord reagieren könnte, ohne einen Atomkrieg zu riskieren. Dann wären auch alle Waffenlieferungen umsonst gewesen. Im Gegenteil, Putin könnte gerade dann den hohen Blutzoll, den auch die russischen Truppen bis zur Eroberung der Ukraine oder von deren Osten erbringen mussten, zu Hause nur noch dann gut verkaufen, wenn er den totalen Sieg verkünden kann.
Aber soll man deshalb die Ukraine schon jetzt im Stich lassen? Es ändert sich ja nichts an den Parametern der Betrachtung, im Gegenteil: Je brutaler Russland vorgeht, desto weniger ist es eine Option, zu sagen, wir lassen die Unterstützung für die Ukraine lieber gleich, damit genau das nicht passiert, ist nichts anderes als das, was ich oben als Wagenknechts Haltung dargestellt hatte: Man lässt Putin gewähren, damit er nicht noch mehr Kriegsverbrechen begeht. Ich kann mich nur wiederholen, es gibt keine einfachen Lösungen, aber kein Widerstand gegen diese Brutalität ist keine Lösung. Ich habe selbstverständlich den großen Vorteil, für den ich nichts kann, dass ich nicht in der russischen Einflusszone Deutschlands aufgewachsen bin und daher distanzierter mit der Vergangenheit insgesamt umgehen kann, an der viele sich mit all ihren Fehlstellung zu sehr festklammern, deren Lebenserzählung mit der Erzählung vom allezeit guten Freund Russland steht und fällt.
Wenn Russland seine Ziele erreichen sollte, wird das also doch hingenommen werden, so wie es derzeit ausschaut und Russland den miliätrischen Sieg zumindest im Osten der Ukraine davonträgt? Und den Rest heilt die Zeit?
Ich wüsste nicht, wie man Russland die Krim oder die Donbassregion wieder entreißen sollte, wenn es sich dort richtig festgesetzt hat. Eine Rückkehr zur Abhängigkeit Europas, besonders Deutschlands, von russischen Rohstoffen wird es jedoch niemals wieder geben. Und auch nicht von solchen aus anderen Ländern, in denen die Rohstoffzahlungen riesige Waffenarsenale und korrupte und / oder antidemokratische Regime finanzieren. Aber politisch hat der Sieger immer gute Karten, das ist eben Realpolitik und die ist in der Tat nicht selten zynisch. Dass die Sieger auch moralisch gesiegt haben, wie die Alliierten gegen die Nazis, ist eher die Ausnahme. Meist siegt, wer erfolgreich angreift, und schreibt die Geschichte weiter. Auch das russische Imperium der Zarenzeit war Folge solcher durch Angriffskriege erfolgter Ausdehnungen und Putin tut alles, um sich kleine Stücke davon zurückzuholen. Ich denke schon seit etwas längerer Zeit, dass Putin und nicht nur er Russland eine Sonderrolle als Imperium zurechnen, einfach, weil man eben Russland ist und nicht irgendein popeliges kleines Territorium. Pathos, überbordender Patriotismus, der Anspruch auf Ausdehnung des geopolitischen Einflusses, das hat immer schon zur Staatsräson großer und gut gerüsteter Staaten gehört. Nicht nur dort war und ist das so, aber die Größe des Landes verführt eben auch zu Großmachtdenken.
Putin sieht aber doch, dass Russland wirtschatlich nur eine Mittelmacht darstellt?
Er sieht es, deswegen sind auch die Rüstungsausgaben niedriger als die der NATO. Dieses Dilemma wird er nie auflösen können. Er kann auch nicht, wie China, die Welt mit „Soft Power“ überrollen, davon hat Russland einfach nicht genug. Hätte es sie, hätte Putin jetzt die Ukraine nicht angreifen müssen, sondern hätte den Westen ohne Krieg zu Zugeständnissen zwingen können. _So aber ist es Russland, das genauso in der Rohstoffexportschleife festhängt wie Europa in der Importschleife. Der Angriff auf die Ukraine ist für mich deshalb kein Zeichen von Stärke, sondern eines von Schwäche. Je brutaler die Kriegsführung wird, desto mehr offenbart sich auch diese Schwäche.
Hat der Westen diese Schwäche nicht gefördert?
Russland hätte sich ja anders entwickeln können. Demokratischer werden, wirtschaftlich aufschließen, imperialistische Ansprüche aufgeben. Im Prinzip gibt Putin mit seinem Verhalten nachträglich der westlichen Sichtweise nach 1990 Recht, dass man mit Russland nicht auf Augenhöhe verhandeln muss. Das ist tragisch, denn man hätte es ja auch aus Respekt vor dem mutigen Schritt tun können, die Blöcke aufzulösen und nicht, weil Russland wirklich ein gleich starker Partner gewesen wäre. Aber eine freundliche Politik nur aus Gründen der Achtung und des Respekts, zumal gegenüber jemandem, der den Systemvergleich verloren zu haben scheint, ist zwischen Mächten, die Weltmachtpolitik betreiben wollen, leider sehr, sehr ungewöhnlich. Es wäre umgekehrt absolut genauso gelaufen, hätte der Ostblock gegen den Westen den Kampf der Systeme gewonnen. Zweifelt daran jemand ernsthaft, angesichts der Niederschlagung mehrerer Aufstände im sowjetischen Einflussgebiet ab den 1950ern? Der Europa-Kitt hält ja auch nur, weil den Mitgliedern der EU klar ist, dass sie alleine heutzutage kaum noch etwas zu melden hätten. Die Uneinigkeit hingegen sorgt dafür, dass die EU tatsächlich nicht viel zu melden hat.
Also sollte sie jetzt Waffen liefern, mehr als bisher, damit sie wieder mehr zu melden haben, die Europäer?
Wenn das ein Side-Effect ist, dass Einigkeit über gemeinsame Bewaffnung der Ukraine erfolgt, dann muss man ihn zähneknirschend hinnehmen. Zähneknirschend deswegen, weil er auf ganz unangenehme Weise eine werteorientierte und an guter Umwelt- und Sozialpolitik ausgerichtete Einigkeit substituiert, die viel zukunftsorienterter wäre. Waffenlieferungen als Klebstoff, das ist geradezu eine deprimierende Tatsache. Gemeinsame Waffenlieferungen als Ersatz für die Gestaltung einer gemeinsamen Friedenspolitik, das ist alles andere als befriedigend.
Die Ukraine ist auch das Opfer von Versäumnissen der Vergangenheit, die in Europa begangen wurden. Diese Anerkenntnis historischer Verfehlungen tritt leider jetzt zurück, weil man diese Verfehlungen nicht fortsetzen darf, indem man sie mit jenen bereits begangenen Fehlern begründet. Sprich, man darf die Ukraine, wenn sie kämpfen will, nicht im Stich lassen, weil man sagt, wir haben früher schon den Fehler gemacht, Russland und Putin nicht zuzuhören und uns etwas unabhängiger von den Amerikanern zu stellen. Ja, es profitieren viele Falsche von dem, was gerade geschieht, aber es geschieht, niemand kann es nicht rückgängig machen. Wenn Europa es weiter geschehen lässt, macht es sich jedoch weiter schuldig. Was jetzt notwendig ist, der Ukraine so viel Hilfe zukommen zu lassen, wie sie möchte und wie es logistisch machbar ist, beruht auf desaströser Politik der Vergangenheit – und richtig bleibt es trotzdem. Die hiesige Linke hingegen muss sich endlich der Zukunft zuwenden. Sich an Putin zu klammern, der nicht ansatzweise ein linkes Gepräge hat, ist der endgültige Tod für linke Politik in diesem Land.
TH