Crimetime Präsentation – Titelbild © BR/Hager Moss Film GmbH/Hagen Kellee
Liebe Leser:innen,
nach dem Polizeiruf „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ ist am kommenden Sonntag wieder die Vorstellung eines Tatorts angesagt. Unaufhaltsam nähern wir uns dabei der Marke 1.200, die belegt, welch eine außergewöhnliche Rezeption dieses Format im 52. Jahr seines Bestehens erfahren, wie es sich immer wieder erneuert hat und wohl das letzte Lagerfeuer der Fernseh-Nation ist.
Nach wie vor schalten durchschnittlich 8 bis 10 Millionen Menschen sonntagabends um 20:15 ein, wenn ein neuer Tatort ausgestrahlt wird. Privatfernsehen, Streamingdienste und auch die eigene ARD-Mediathek, die zeitversetztes Anschauen erlaubt, haben nicht dazu geführt, dass diese Ausnahmestellung des Tatorts als Meeting für Millionen angetastet wurde. Die Anforderung bleibt jedoch, diese Reihe immer weiterzuentwickeln und neue Trends zu erspüren, gleichermaßen jedoch traditionelle Krimigucker:dinnen nicht zu vergrätzen, die nicht jedes Experiment goutieren.
Man schafft das vor allem durch eine beachtliche Vielfalt an Teams und Tonarten, visuellen und inhaltlichen Varianten. Eines der neueren dieser Teams hat der bayerische Rundfunk mit dem Franken-Team Paula Ringelhahn und Felix Voss entwickelt und damit neben dem bekannten München-Tatort eine zweite Schiene etabliert.
Zuletzt war die Familie stark im Fokus sowohl des oben genannten Polizeirufs als auch der vorausgehenden Tatorte. Einer jener neuen Trends? Der Rückzug ins Private? Keine Corona-Tatorte, auffälligerweise, obwohl es dabei eine reizvolle Variante gäbe: Dass Masken tragende Menschen auch von den modernsten Überwachungskameras nicht identifiziert bzw. die Kamera-Videos nicht ermittlungsdienlich werden können. Das ist aber nur ein Gedankenspiel, denn es ist offensichtlich, dass man die Pandemie aus dem wichtigsten deutschen Krimi-Format heraushalten will. Die ganze Realität ist eben doch irgendwie zu krass und außerdem ruft sie ständig Zwistigkeiten hervor. Wir werden sehen, ob sich der neue Krieg in Europa irgendwann auch in Tatorten wiederfinden wird.
Die Ehren-Nummer 1.200 bleibt Lena Odenthal aus Ludwigshafen vorbehalten, der dienstältesten Tatort-Kommissarin und wird in zehn Tagen Premiere feiern (Titel: „Marlon“), sie durfte auch die runde 900 für sich beanspruchen („Zirkuskind“).
Pressetext – Vorschau mit Kritiken anschließend
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Ein junger Mann wird ohne erkennbaren Grund grausam ermordet. War er ein Zufallsopfer, zur falschen Zeit am falschen Ort? Die Frage nach dem Warum beschäftigt nicht nur Paula Ringelhahn und Felix Voss, sondern auch die Eltern des Opfers, die beginnen selbst nach dem Mörder zu suchen …
Am Sonntag, 1. Mai 2022 zeigt Das Erste um 20:15 Uhr den Tatort Franken „Warum“.
Der vielfach ausgezeichnete Regisseur Max Färberböck („Aimée und Jaguar“, Tatorte „Der Himmel ist ein Platz auf Erden“, „Die Nacht gehört dir“) hat den neuen Tatort aus Franken inszeniert, das Drehbuch schrieb er zusammen mit Catharina Schuchmann. Neben Dagmar Manzel, Fabian Hinrichs, Eli Wasserscheid, Andreas Leopold Schadt und Matthias Egersdörfer spielen u.a. Valentina Sauca, Karl Markovics, Julie Engelbrecht, Götz Otto und Ralf Bauer. Produziert wurde „Warum“ von Hager Moss Film (Produzentin: Kirsten Hager) im Auftrag des Bayerischen Rundfunks, die Redaktion im BR liegt bei Stephanie Heckner.
Handlung
Der junge IT-Spezialist Lukas Keller (Caspar Schuchmann) wird in der Nähe seines Sportclubs ohne erkennbares Motiv brutal ermordet. An seinem Arbeitsplatz, einem Nürnberger Speditionsunternehmen, war Lukas sehr geschätzt. Sein Chef Weinhardt (Götz Otto) hatte große Pläne mit ihm. Für Lukas‘ Eltern zerbricht eine Welt. Sie ermitteln auf eigene Faust, während Lukas‘ neue Freundin, Mia Bannert (Julie Engelbrecht), alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter (Lilo Scharf), ein Geheimnis zu wahren scheint. Sie hat Todesangst. Doch warum? Die Spuren der Tat erinnern Voss (Fabian Hinrichs) und Ringelhahn (Dagmar Manzel) an ein ungelöstes Verbrechen. Doch was hat der Mord an Lukas Keller mit dem sechs Monate zurückliegenden Fall zu tun, bei dem durch die neuen Ermittlungen jetzt ein Obdachloser (Ralf Bauer) unter Verdacht gerät? Ringelhahn und Voss kreisen um zwei Fälle gleichzeitig und müssen dabei die verzweifelten Eltern (Valentina Sauca, Karl Markovics) von Lukas im Blick behalten.
Redakteurin Stephanie Heckner: „Der Tatort: ‚Warum‘ erzählt, wie ein Leben von einer Sekunde zur anderen den Boden verliert und wir feststellen müssen, dass nichts, aber auch gar nichts sicher ist. Er erzählt auch, dass Menschen selbst in der Bodenlosigkeit einer solchen Situation einander noch Halt geben können. Darin liegt die Menschlichkeit dieser Geschichte.“
(Ende Pressetext)
Kritikenschau
Und was sagen die üblichen Verdächtigen, deren Meinung wir immer für Sie einholen und zusammenfassen, zu diesem Film?
Die Redaktion von Tatort-Fans meint: Ermittlungsarbeit nach Schema F – die gibt es nicht im Tatort Franken, und das ist auch gut so. Jeder Fall ist eine persönliche Angelegenheit für das Team Ringelhahn und Voss. So auch in ihrem 8. Einsatz, der insbesondere für Felix Voss eine emotionale Achterbahnfahrt darstellt und ihm alles abverlangt. Fabian Hinrichs verkörpert seinen Filmkommissar mit einer Eindringlichkeit und Intensität, wie sie selten im deutschen Fernsehen zu erleben ist. Zugleich ist „Warum“ ein Krimi der leisen Töne: Es ist wohltuend, wie hier einmal die Hinterbliebenen des Opfers und ihr Leiden an dem unermesslichen Verlust in den Mittelpunkt gerückt werden. Der stetige Wechsel zwischen der Opferperspektive und der intensiven, mit humorvollen Einsprengseln versehenen Ermittlungsarbeit der Polizei verhindert dabei, dass der Film allzu sehr ins Sentimentale abdriftet. Und am Ende wird’s nochmal richtig spannend. Unbedingt sehenswert, verdiente fünf Sterne.
Franken-Tatort: Mut zum außergewöhnlichen Krimi? Man muss einfach anerkennen, dass es viele herausragende, eigenwillige oder moderne Tatort-Produktionen gibt, die die Latte extrem hoch setzen. Ich finde daher, jeder ambitionslose Tatort kann der ganzen Reihe schaden. Und ich würde mir viel mehr Mut zum außergewöhnlichen, zum modernen und intelligenten Krimi wünschen, viel mehr Mut. – SWR3-Check, Stefan Scheurer
Dafür gibt es nur einen von fünf Elchen! Über das Warum für diese schlechte Bewertung müssen Sie den Link zum SWR3-Check anklicken. Ohlala, das ging ja schon ganz schön weit auseinander. Ohne den Film gesehen zu haben, in einer Sache möchten wir Herrn Scheurer grundsätzlich widersprechen, es ergibt sich auch aus dem obigen Text zur Präsentation vor zwei Tagen: Nicht jeder Krimi kann „außergewöhnlich“ sein, denn wo läge dann die Messlatte für „außergewöhnlich“? Auch das Konventionelle ist ja nicht mehr gefilmt wie vor 50 Jahren und es braucht seinen Platz, um die Reihe „Tatort“ zu zentrieren und zu variieren. Die Gefahr, dass im Bemühen um Außergewöhnlichkeit der Bogen überspannt und das Außergewöhnliche zu bemüht wird, gibt es in allen Genres, aber wir wissen aus unseren Beobachtungen, dass gerade die Experimentaltatorte der ARD-Sender oft sehr zwiespältige Reaktionen hervorrufen. Manche werden von der Mehrheit des Publikums überhaupt nicht geschätzt. Ich gehe schon eher mit, mir ist aber auch klar, dass ich nach fast 1.100 Krimi-Rezensionen in einer Zwischenposition zwischen Zuschauern und Profi-Kritikern angesiedelt bin und eine ziemlich große Bandbreite habe, was die Akzeptanz von Filmversuchen angeht. Schauen wir weiter!
So viel Liebe, dass es wehtut. Telefonat mit einem Toten, Händchenhalten bei Godard: Der Franken-»Tatort« über den Mord an einem netten jungen Mann plätschert erst so vor sich hin – und entwickelt dann seine emotionale Wucht. – Christian Buß, Der Spiegel
Wenn Buß einen Tatort nicht zu konventionell findet, bin ich geneigt, festzuhalten, dann ist er’s nicht. Der Spiegel-Rezensent kommt auf 8/10. Das heißt nicht, dass ein Film, der Buß gefällt, auch mir gefallen muss, aber in Sachen zielsicherer Einordnung und Überblick innerhalb des Genres ist Buß sicher einer der besten Krimi-Kritiker in diesem Land. Und er kreiert die besten Titel für seine Beiträge. Dieses Mal ist er eher zurückhaltend. Dass Liebe wehtun kann, ist eher banal und zutreffend.
Im Franken-„Tatort“ wird ein allseits beliebter junger Mann auf brutale Weise getötet. Im Mittelpunkt der Episode „Warum“ (BR – Hager Moss) stehen die nervenzehrende Suche nach den Gründen für die rätselhafte Tat und die existenziellen Folgen für die Hinterbliebenen. (…) Weniger ein von äußeren Handlungen getriebener Thrill, sondern die innere Anspannung der Protagonisten prägt die Dynamik und hochemotionale Atmosphäre des Films – und entlädt sich in einem enorm spannenden Finale. Ein starker Fall des Teams um Dagmar Manzel und Fabian Hinrichs, die nicht nur in einer bemerkenswerten Schlüsselszene groß aufspielen. Auch Valentina Sauca und Karl Markovics hinterlassen als Eltern des Opfers einen nachhaltigen Eindruck. (…) Einmal mehr ein „Tatort“ von Färberböck & Co-Autorin Schuchmann, der in Erinnerung bleiben wird. – Thomas Gehringer, Tittelbach-TV
Dafür hängen die Tittelbacher 5,5/6 Sternen an den Himmel. Das ist das Maximum dessen, was ich von ihnen bei Tatorten bisher beobachtet habe. Wir haben also drei sehr positive Kritiken und einen krassen Ausreißer gesehen. Wir wollen es aber noch einmal genau wissen und besetzen heute zur Abwechslung wieder den fünften Kritiken-Platz, den wir nur noch sporadisch vergeben, nachdem „Filmstarts.de“ seine ausführlichen und kenntnisreichen, oft auch wirklich kritischen Kritiken für das Format eingestellt hat.
Die Konzentration auf die Folgen einer solchen Tat für die Hinterbliebenen macht „Warum“ zum perfekten Fall für Fabian Hinrichs und seinen Felix Voss, diesen Kommissar mit dem stets verträumten Lächeln in einem Gesicht, das immer so aussieht, als fände er die Welt und ihre Menschen einfach bezaubernd. Als sei er notgedrungen Kommissar geworden, nur um mithelfen zu können, dass das auch so bleibt. (…) Die Wut wird Opfer fordern. In einer der stärksten Szenen von „Warum“ sehen wir Felix Voss voller Selbstzweifel. Denn der Kommissar, der eigentlich ein bisschen dem Strahlemann Lukas Keller ähnelt, erinnert plötzlich an dessen Mörder. Weil Voss einen Verdächtigen so behandelt hat, wie Lukas ermordet wurde: „Er war ganz unten, und da hab ich ihn mir geholt.“ – Web.de
Da ich ohnehin einen Club-Account bei Web.de habe, bin ich zum Schluss sozusagen im erweiterten Zuhause eingekehrt. Auch diese Kritik, die nicht mit einer Wertung endet, klingt positiv und hebt außerdem das Spiel von Fabian Hinrichs hervor, der sich auf seine Art, leise eben, immer mehr nach vorne spielt, in der deutschen Fernseh-Landschaft.
TH