Newsroom | Verkehrswende | *Fiets = niederländisch für Fahrrad
Liebe Leser:innen,
fahren Sie auch mit dem Fahrrad zur Arbeit. Dann und wann, bei schönem Wetter oder gar immer? Falls Sie das in den hügeligen oder gar bergigen Lagen tun, ist es anstrengend, da muss man richtig fit sein, und falls Sie das in Berlin tun, ist es lebensgefährlich. Im letzten Jahr kamen in Berlin wieder 10 Fahrradfahrer:innen ums Leben. Umgenietet, geschrottet, ermordet durch hirntote Autofahrer:innen, in der Regel. Das sind nicht weniger als 25 Prozent aller Verkehrstoten in Berlin im Jahr 2021 gewesen.
Nichtsdestotrotz: Am Fahrrad als einzigem tatsächlich beinahe klimaneutralen Verkehrsmittel führt nichts vorbei und auch nichts drumherum. 36 Prozent der Niederländer:innen sagen das, also muss es stimmen. In Deutschland sind es immerhin schon 23 Prozent, wobei wir a.) nicht wissen, ob E-Bikes wirklich als Fahrräder gelten (nach unserer Ansicht nicht) und b.) ob die 23 Prozent sich auf alle, die jemals versucht haben, auf zwei mit Muskelkraft betriebenen Rädern den Arbeitsplatz zu erreichen oder ob die gemeint sind, die es regelmäßig tun. Sie können das aber gerne anhand der Quelle weiter vertiefen:

79 Prozent der für den Statista Global Consumer Survey in Deutschland befragten Menschen sind auf ein Transportmittel angewiesen, um Arbeitsplatz, Schule oder Universität zu erreichen. Von diesen Pendler:innen nutzen 23 Prozent das eigene Fahrrad. Damit liegt das Zweirad hinter Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln auf Platz drei. Bei kürzer Strecken steigt der Anteil der Fahrrad-Pendler:innen auf über 30 Prozent. Im europäischen Vergleich steht Deutschland relativ gut da, wie der Blick auf Grafik zeigt. So ist der Drahtesel in Frankreich, Großbritannien oder Spanien deutlich unpopulärer. Es geht aber auch ein ganzes Stück besser: In den Niederlanden nutzen 36 Prozent der Pendler:innen das Fiets (niederländisch für Fahrrad), um zur Arbeit zu kommen. Die Freizeitnutzung eingerechnet steigt dieser Wert sogar auf über 50 Prozent. Das liegt freilich auch an einer Verkehrspolitik, die dem Verkehrsmittel Fahrrad deutlich mehr Platz auf den Straßen einräumt.
Dass in den Alpenländern weniger Menschen aufs Radl steigen, um zur Arbeit zu fahren, können wir nachvollziehen, auch das Land, in dem die Tour de France stattfindet, ist nicht nur flach, auch wenn es, wie Deutschland, ganz unterschiedliche Regionen hat. In Spanien ist es vielleicht zu heiß und trocken, um verschwitzt und verdurstet zugleich im Job zu erscheinen. Aber die Briten. Was ist mit denen? Wir kennen das Land bzw. diese Ansammlung von Ländern als idyllisch, landschaftlich reizvoll und super befahrbar. Die Landstraßen sind vielleicht etwas schmal und unübersichtlich, stellenweise, aber so von Vorort zu Stadt oder in der Stadt?
Die Dänen hat man vergessen, deren Quote würde uns interessieren, wo doch Kopenhagen das Mekka der Radfahrer an sich sein soll. Berlin-Kreuzberg zieht jetzt nach, mit mindestens einem breiten, geschützten Fahrradweg, aber das ist ein Anfang von einem Anfang von etwas, das es in einigen, auch in einigen grün (mit-) regierten Bezirken, während unserer Lebenszeit wohl nicht mehr zur Vollendung kommen wird, auch nicht, wenn sie 100 Jahre währen sollte.
Wir könnten stundenlang über das schreiben, was es in Berlin alles für Radfahrer:innen nicht gibt. Zum Beispiel mehr als ein paar hundert Meter stressfrei fahren. Aber machen wir’s doch anders herum, heben wir das heraus, was diese Stadt radfahrmäßig auszeichnet. Ein Abenteuer auf zwei Rädern, das kann man hier jederzeit haben, und wer auf so was steht, der kommt in dieser ohnehin aufregenden Stadt voll auf seine Kosten. Eigentlich könnte man daraus touristisch Kapital schlagen: Machen Sie eine Sommerchallenge bei den verpeiltesten, ignorantesten, manchmal bösartigsten Autofahrer:innen der Welt und auf Radwegen, bei denen eines sicher ist, falls es welche gibt, wo Sie gerade fahren:
Wenn Ihr Gefährte aus Stahl, Alu oder Karbon und Sie selbst diese unbeschadet überleben, inklusive der Buckel und Löcher, die sich über die Jahrzehnte seit der letzten Instandsetzung hinweg eingestellt haben, inklusive der überall verstreuten Scherben in der rudimentärsten Partystadt auf diesem Planeten, haben Sie ein qualitativ über jedem Zweifel stehendes Teil, das auch in schwerstem Gelände standhalten sollte und Sie sind ein überaus robuster Mensch. Aber immer mit pannensicheren Reifen auf die Piste gehen, am besten aus Vollgummi, das ist eine Grundvoraussetzung, damit Sie nicht alle paar Tage an Ihrem Zweirad werkeln und Schläuche im 10er-Pack kaufen müssen.
Ob es in anderen Gegenden Deutschlands ähnlich zugeht, wissen wir nicht, ganz so schlimm kann es nicht überall sein, das schließen wir aus anderen Tatbeständen, die nichts mit dem Radfahren zu tun haben, aber warum wir uns hier gut überlegen, bevor wir uns jeden Tag in Gefahr begeben, das ist gar nicht unverständlich.
Ach ja: Falls wir wider Erwarten nicht verunglücken, kriegen wir in regelmäßigen Abständen unsere Räder geklaut, das haben wir ganz vergessen. Das kurbelt die Volkswirtschaft an und ist so ein Hype: Endlich Opfer eines Verbrechens geworden! Womit wir nicht sagen wollen, dass man das in Berlin nicht auch auf andere Weise erreichen kann. Zum Beispiel, indem man einfach zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wenn die Kugeln durch die Luft pfeifen. Danach hat man vielleicht sogar einige Sorgen weniger. Was aber auf den Fahrradklau folgt, ist ein Dornenweg, inklusive ermittlungstechnisch vollkommen sinnloser, aber versicherungstechnisch notwendiger Anzeigen bei der Polizei und was man dort dann wieder alles erlebt … Endlich etwas Kreatives! Wir lassen uns die Reiseidee „Radfahren in Berlin als Survival-Training“ schützen und gründen ein fancy Startup mit dem coolsten Webdesign jenseits des Mississippi für eine Touristengruppe, die Berlin bisher vielleicht noch gar nicht im Blick hat:
Menschen, die nicht (nur) bezüglich ihrer Alkoholverträglichkeit (kenn dein absolut oberstes Limit vor der Alkoholvergiftung oder, für Fortgeschrittene, vor dem Exitus wegen Alkoholvergiftung), sondern auch körperlich und bezüglich des zu erwartenden massiven Ärgers ihre Grenzen testen wollen. Grenzerfahrungsurlaub im wörtlichen Sinne. Falls Sie Familie und / oder etwas Geld angesammelt haben: Machen Sie bitte vorher Ihr Testament und schließen Sie eine gute Lebensversicherung ab. Wir von „Berlin-Bikelimit-Tours“ beraten Sie auch diesbezüglich gerne, gegen eine kleine Provision, die wir mit einem versierten Makler / Rechtsanwalt teilen, versteht sich. Ach ja, Ihre Räder bringen Sie bitte selbst mit, sonst kommen wir kaufmännisch mit unserer Geschäftsidee nie auf einen grünen Zweig.
Falls wir im Verlauf unseres Kommentars ein bisschen abgedriftet sind, es liegt einfach daran: Radfahren in Berlin setzt Trigger ohne Ende. Dafür fehlt die Wende. Die Verkehrswende.
TH