Crimetime 1109 – Titelfoto © HR, Jaqueline Krause-Burberg
Die Lettin und ihr Lover ist ein Kriminalfilm des HR von Titus Selge aus dem Jahr 2006 und erschien als 280. Folge der Filmreihe Polizeiruf 110. Es ist für den Ermittler Thomas Keller (Jan-Gregor Kremp) der dritte Fall, den er zu lösen hat.
Insgesamt gab es vier Keller-Filme; er war der Nachfolger des Teams Schlosser, Reeding, Dreyer, das für den HR in Offenbach ermittelte; Kellers Dienstzimmer hingegen stand in Bad Homburg im Taunus. Nur vier Filme wurden mit ihm gedreht, noch während der HR die Tatortschiene Frankfurt mit Sänger und Dellwo zu betreuen hatte. Möglicherweise hat das Ende des HR-Polizeirufs etwas damit zu tun, dass man einen zweiten hochwertigen und gerne experimentellen Tatort etablieren wolle, der dann mit dem LKA-Ermittler Felix Murot ab 2010 umgesetzt wurde. Bad Homburg ist anders, zumindest in der Lesart der HR-Polizeirufe, mehr dazu erklären wir in der -> Rezension.
Handlung (1)
Der Weinhändler, der Kommissar Kellers Freundin Sophie regelmäßig beliefert, liegt eines Tages mit gebrochenem Genick in seinem Laden. Er war zuletzt mit der Lettin Laima Saizmanis zusammen gesehen worden, die mittlerweile vergewaltigt und körperlich misshandelt im Krankenhaus eingeliefert wurde.
Bei seinen Ermittlungen muss Kommissar Keller feststellen, dass er selber mit in den Fall verstrickt zu sein scheint. In letzter Zeit musste er sich wegen massiver Rückenbeschwerden von Dr. Juris Gríns behandeln lassen. Dabei hat dieser auch Morphium eingesetzt, was bei Keller zu Bewusstseinsstörungen führte und er nicht ausschließen kann, auch mit der Lettin zusammen gewesen zu sein. Zumindest ist sich eine Zeugin sicher, Keller zusammen mit Laima gesehen zu haben. Damit gerät er unter dringenden Tatverdacht, da eine Frau allein als Täterin nicht in Frage kommt. Keller soll in Gewahrsam genommen werden, doch er entzieht sich der Festnahme und ermittelt heimlich, um seine Unschuld zu beweisen. Als er Laima im Krankenhaus besuchen will, begegnet ihm ein Doppelgänger, was ihm alles erklärt. Auch Sophie Stein sieht diesen Mann und verfolgt ihn zusammen mit Keller, als Laima versucht den Mann nach Lettland zu bringen. So verfolgen sie die Flüchtigen bis über die Landesgrenze und weiter bis aus offene Meer an Bord einer Fähre und von dort bis nach Riga. Keller gelingt es beinahe den Mann zu stellen, als ihm erneut sein Gehirn einen Streich spielt. Kurzfristig denkt er, dass alles nur ein Traum war und er sich überhaupt nicht aus Bad Homburg wegbewegt hatte. Denn als er zu sich kommt ist Dr. Juris Gríns an seiner Seite und will ihm erneut eine Spritze geben. Keller kann sich dagegen wehren und findet so heraus, dass der Doktor ihnen hinterhergereist war. Er ist so in Laima vernarrt, dass er schon aus Eifersucht den Weinhändler erschlagen und sich anschließend vor Wut auch an Leima vergriffen hatte. Laima war aus Angst vor Gríns mit ihrem neuen Freund, der tatsächlich Keller zum Verwechseln ähnlich sieht, zurück in ihre Heimat geflohen.
Rezension
Es ist doch erstaunlich, wie viele auf witzig gemachte Krimis es schon Mitte der 2000er in Deutschland gab. Dadurch, dass ich mich von März 2011 bis Februar 2019 auf die Tatorte konzentriert hatte, um zunächst für den „ersten Wahlberliner“ die TatortAnthologie, später für Rote Sonne 17 und den „zweiten“ oder „neuen Wahlberliner“ die Rubrik Crimetime zu führen, ist mir das zunächst entgangen und ich dachte, in jenen Jahren sei das Münster-Team die einzige Schiene dieser Art gewesen, zumindest bei den Sonntagabend-Premiumkrimis. Aber sowohl der WDR-Polizeiruf aus „Volpe“ von 1995 bis 2003 wie auch der HR-Polizeiruf, verstärkt offenbar ab Kellers Einsatz gegenüber dem, was zuvor in Filmen Schlosser, Reeding, Dreyer bzw. Grosche, Schlosser, Reeding zu sehen war. Also, wer so massiv Rücken hat wie Kommissar Keller, wirkt zwar per se witzig, wenn er sich trotzdem durch den Dienstalltag quält, aber niemals kann er so rennen und vor allem Treppenspringen machen, wie man es in „Die Lettin und ihr Lover“ sieht. Die Keller-Filme haben alle sehr süße Titel mit einer Art halbassoziativ-halbintellektuellem Drive, natürlich spielt der vorliegende auf die in den 2000ern besonders geschätzten Latin Lovers an und auf die Tatsache, dass damals viele Frauen aus Osteuropa ihr Glück im Westen versuchten. Wobei die Russinnen im Bett am besten sind, nicht die Lettinnen, wie wir im Film von einer Lettin erfahren, die, das dürfen wir beim subjektiven Journalismus auch mal schreiben, aber schon sehr reizvoll ist.
Für alle vier Keller-Filme hat Titus Selge, der Bruder des Schauspielers Edgar Selge, das Drehbuch verfasst und sie auch inszeniert. Die drei anderen haben wir noch nicht gesehen, aber sie dürften einen ähnlichen skurrilen Touch und lockeren Ton haben wie „Die Lettin und ihr Lover“, wohingegen die Drehbücher möglicherweise auch satirisch gemeint allein aufgrund ihrer Unsinnigkeit sein könnten. Kaum ein Handlungselement im 280. Polizeiruf ist zwingend, aber dafür ist dies ein toller Schauspielerfilm, in dem Jan-Gregor Kemp, Inga Busch und natürlich Christoph Waltz brillieren können. Waltz könnte man sich heute nicht mehr leisten, aber vor seiner Zeit als Oscarpreisträger hat er in mehreren der Primetime-Krimis mitgespielt und bleibt uns insofern erhalten als jemand, der aus der Position des Episodendarstellers heraus zu Weltruhm geschafft hat.
Das Filming ist schon recht modern, offenbar hat parallel zum 2003 generalüberholten Frankfurt-Tatort auch gleich dem Hessen-Polizeiruf eine neue Optik verpasst, die es so bei Schlosser, Reeding & Co. noch nicht gab. Vor allem die Traumsequenzen mussten entsprechend psychedelisch gefilmt werden und das ist auch gelungen, inklusive der kleinen Spinne in Bernstein, die sich zu einem leibhaftigen Vogelspinnenmonstrum wandelt und durch Kellers Kopf rennt, immer auf der Suche nach ihrer Hauptnahrung, der Substanz, die es Menschen ermöglicht, wirklich Geschehehenes von Erträumtem zu unterscheiden und dies wiederum von einer Halluzination zu unterscheiden. Als Zuscher schwimmen wir in Kellers Erinnerungssuppe mit, werden beglückt mit teils wunderbaren, echten Dialogen und mit Ereignissen, die sich sehr wohl zugetragen haben, nur sind die Zusammenhänge etwas anders, als Keller und seine Kollegen sie sich zunächst zusammenreimen müssen, mangels besserer Informationen.
Ich vergleiche wieder mit dem Tatort Münster. Sicher ist das Team dort noch einmal prägnanter, aber hinsichtlich ausgefallener Ideen für die Plotgestaltung kann der HR-Polizeiruf gut mithalten. Vor allem muss man auf diese lettische Hintergrundgeschichte erst einmal kommen. Dadurch gewinnt der Film allerdings stellenweise etwas, was Münster weitgehend abgeht: Poesie. Es gibt einige berührende Szenen, die so menschlich reizend wirken, wie man sie in Münster nicht herbeireden kann, auch wenn man mit Gerichtsmediziner Boerne eine Figur hat, die in sich und durch sich fast alles erklärt, was man über Menschen wissen muss. In „Die Lettin und ihr Lover“ ist es mehr das im Verlauf immer interessantere Interagieren der Figuren miteinander, das einen besonderen Ton schafft und m. E. einige Arthouse-Filme zitiert, die mit dieser Mischung aus Banalität, einem gewollt lakonischem Blick in Menschen hinein und der Sympathie für diese Charaktere etwas sehr Ansprechendes schafft.
Finale
Dass ein Krimi immer nur ein Krimi sein muss oder wenigstens hauptsächlich, haben wir ad acta gelegt, sonst ließen die Bewertungen für moderne Tatorte und Polizeirufe manchmal sehr zu wünschen übrig, weil man ganz offensichtlich der Ansicht ist, das Publikum hat genug gesehen, was vor allem aus Falllösung besteht, die Zeit für besondere Typen ist gekommen. Die gab es allerdings in frühen Tatorten auch schon, trotzdem waren die Fälle nicht selten brillant konstruiert. Das Zeigen von Menschen mit guten Krimiplots verknüpfen, das konnten Autoren wie Friedrich Werremeier besonders gut, die heutigen Drehbuchverfasser*innen tun sich damit sichtlich schwerer. Vermutlich kommt es wieder einmal vom Herkommen: Wer z. B. früher als Gerichtsreporter gearbeitet hat, hat einen anderen Zugang zum Verbrechen als Autor*innen, die eher aus der Theorie erwachsene Ansätze pflegen.
Man hätte durchaus die Logik des Films verbessern können, ohne ihm andere Vorzüge zu nehmen. Zum Beispiel ist es Quatsch, dass der Doppelgänger von Keller auf den ersten Blick als nicht dieselbe Person kenntlich gemacht wird, indem er einen Oberlippenbart trägt und längere Koteletten, sprich, die wenigen Szenen, in denen die Figur zu sehen ist, wurden zuerst abgefilmt. Woher dieser Typ kommt und warum sich die Lettin so rigoros von Gríns entfernt, das wird ein wenig verschwurbelt, überhaupt hatte ich häufig das Gefühl, es ist eine Figur zu viel im Spiel. Deswegen gibt es auch nur eine gute, keine Ausnahme-Wertung.
8/10
© 2021 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Regie | Titus Selge |
Drehbuch | Titus Selge |
Produktion | Jörg Himstedt |
Musik | KAB Fischer |
Kamera | Frank Blau |
Schnitt | Elke Herbener |
Besetzung | |
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