Crimetime 1111 – Titelfoto © RBB, Hans Joachim Pfeiffer
Sie geht nicht allein
Das Mädchen, das allein nach Haus’ geht ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort, der erstmals am 22. Mai 2022 im SRF, im ORF und im Ersten ausgestrahlt wurde. Es ist die 1201. Folge der Reihe und der 15. und letzte Fall des Berliner Ermittlerteams Rubin und Karow.
Sie ist es nicht, die gemein ist. Nina Rubin, die Berliner Kommissarin mit der Berliner Schnauze. Wir erwähnen das auch, weil wir in der Vorschau die Frage aufgeworfen hatten. Wer ist also gemeint? Eine junge Frau, die offenbar nach familiärer Anbindung gesucht und die Hölle in Form eines Clans gefunden hat. Darum dreht sich der 1201. Tatort und es kommt zu einem dramatischen Finale. Mehr dazu in der –> Rezension.
Handlung
Aus der Spree wird eine männliche Leiche ohne Kopf geborgen, deren Identität schwer zu ermitteln ist. Wenig später wird Nina Rubin von einer jungen Frau verfolgt. Julie Bolschakow erzählt der Kommissarin, dass sie Zeugin eines Mordes geworden ist und bittet Rubin um polizeilichen Schutz. Sie kannte den Toten aus der Spree, er hatte ihr offenbart, dass ihr Mann Yasha ein führendes Mitglied der russischen Mafia in Berlin ist.
Rubin beschließt, der jungen Frau zu helfen und weiht die Kriminaldirektorin ein. Die will Julie in ein Zeugenschutzprogramm aufnehmen, wenn diese im Gegenzug belastendes Material über ihren Ehemann vorlegen kann. Der Kontakt zu Julie bringt Rubin jedoch in ein Dilemma, weil sie fortan Karow aus den Ermittlungen raushalten muss, um die junge Frau nicht zu gefährden. Karow ermittelt die Identität des Toten, spürt aber mehr und mehr, dass seine Kollegin ihm Dinge verheimlicht.
Vertrauen war von Anfang an ein heikles Thema zwischen den beiden und Rubins Verhalten verletzt Karow – zumal sie sich auch privat nähergekommen sind. Umso mehr bricht das alte Problem nun w“ieder auf. Wird es Nina Rubin in ihrem letzten Fall gelingen, Julie aus den Fängen ihrer kriminellen Familie zu befreien?
Rezension
Fangen wir mit den weniger positiven Aspekten des Films an. Das Finale findet tatsächlich am BER statt. Und wer hat bei diesem Flughafen nicht mindestens eine ungute Erinnerung? An das Baudrama, das noch viel epischer war als das Ende dieses Films. Immerhin kam es zu einem maßvoll guten Ende. Dass der Flughafen nach allem, was passiert ist, keinen Gewinn macht, versteht sich beinahe von selbst, wir sind in Berlin. Vermutlich hat man auch das dünnste Aluminium auf dem Markt genommen, um die Lüftungsschächte zu bauen, so einfach wie die Kugeln da durchgehen. Okay, das war ein wenig fies, damit hat eine Schusswaffe allgemein kein Problem. Und dann verlassen sie sich auch noch darauf, dass ein Flugzeug tatsächlich fliegt, wenn es an der Zeit ist. Und sei es nur eine kleine Privatmaschine. Gut, dass sich nicht gerade jemand auf der Rollbahn festgeklebt hat, sonst wäre die junge Frau, die dem Russenclan entfliehen will, chancenlos gewesen.
Manches an dem Film ist konventionell, daran führt nichts vorbei. Dieses Schießen durch Lüftungsschächte, der Abflug in letzter Sekunde, alles schon gesehen. Aber was kann überhaupt noch neu sein, an Actionelementen in einem Film, dere unter der Budget-Einfrierung der Tatorte leidet, wie alle anderen Werke der Reihe? Wer über den Staatsfunk lästert, Tatort schaut und nörgelt, es sei alle nicht hochwertig und stylisch genug, was man dort sieht, der soll sich mal Gedanken über seinen Geisteszustand machen. Immerhin gibt es die Russenvilla, und die sieht etwa aus, wie man sich eine Russenvilla in der Wannseegegend vorstellt. Mit eigenem Bootssteg und schön abgeschottet von der Außenwelt. Da fahren wir nicht dran vorbei, nicht einmal mit dem Fahrrad. Die Frage nach den Klischees kam auf. Zum Beispiel nach den Clan-Klischees. Nun ist der Film schon 2021 gedreht worden, aber als er Premiere hatte, im Mai 2022, da gingen Russen als Feindbild gerade besonders gut. Ein propohetisches Werk und eines muss man immerhin festhalten: Die Macher des Films schweben nicht direkt in Lebensgefahr, wenn sie eine russische Abteilung der OK zeigen, bei anderen Ethnien käme es sofort zu Protest durch deren Interessenverbände.
Tut uns ja leid, aber die Wahrheit ist kein Klischee. Auch wenn die konkrete Ausformung der Charaktere etwas übertrieben sein mag, bezüglich des Einflusses der OK auf verschiedene Stellen in Berlin, auch die Polizei, ist der Film wohl kaum reine Spekulation. Oder wieso werden Razzien gegen Elemente der OK immer wieder so durchgestochen, dass sie mehr oder weniger wirkungslos bleiben? Im Film kaufen sich die Russen ihre Polizisten, in der Realität haben Clans längst eigene Leute in die Polizei eingeschleust, man munkelt sogar von ersten Ankerwürfen in der Justiz. Ganz sicher aber in der Anwaltschaft. In dem Bemühen, die ethnische Vielfalt der Stadt auch im Öffentlichen Dienst abzubilden, rutscht manch faules Ei in den Korb. Wir sind, Sie werden es bemerkt haben, gar nicht mehr bei den negativen Eigenschaften des Films, sondern bei welchen, die man so oder so sehen kann. Es ergibt sehr wohl einen Unterschied, ob man generelle Vorurteile gegen Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen hat oder ob sich Klischees mit einem gewissen Wahrheitsgehalt herausbilden, die eine Kategorisierung erlauben. Die OK hat in Berlin ein durchaus nationales Gepräge, mit Spezifika, die hier oder dort besonders ausgeprägt sind. Wichtig ist dabei, dass auf Familienstrukturen gesetzt wird und auf ganz viele Menschen, die irgendwie zu einer Familie gehören. So kam es, dass die klassischen Banden mittlerweile kaum noch eine Rolle spielen. Eine Mischung aus mehr Brutalität und extremen Loyalitätszwängen ist für die Unterwelt beinahe unschlagbar. Verschiebungen gibt es dann im Wesentlichen, wenn neue Gruppen hinzukommen, die bisher in der Stadt nicht vertreten waren und noch rücksichtsloser vorgehen als die schon etablierten, um auch etwas vom Kuchen abzukriegen.
Was uns dabei mittlerweile wundert, ist die schier unerschöpflich scheinende Größe dieses Kuchens, denn es ist deutlich zu beobachten, dass die Clans sich weiter ausbreiten und die Geschäfte, mit denen sie Geld waschen, werden immer zahlreicher, ebenso wie die aufgebrezelten AMG-Mercedesse, die mindestens dazugehören. Ein neuer Clanladen in zwei Ecken von unserem Wohnort entfernt ist oder wird von einem Maserrati besessen. Da dieses Business an sich aber kaum Gewinn erwirtschaftet, obwohl einige jugendliche Idioten die Überpreise für die Getärnke zahlen, die dort angeboten werden, muss fingierter Umsatz und Gewinn aus dem Ertrag anderer Geschäfte eingeschleust werden.
Klar, man diversifiziert sich, aber die Basis bildet immer noch der Drogenhandel, und dessen Umfang deutet darauf hin, dass sämtliche Kartoffeln, also die Abnehmer, den ganzen Tag zugedröhnt durch Berlin wanken würden. Man kann so viel Schlechtes über diese Stadt sagen, aber die vielen Verkehrsprobleme, die allfällig zu beobachten sind, haben eher etwas mit rücksichtsloser Mentalität als mit Vernebelung der Sinne der Verkehrsteilnehmer zu tun.
Whatever, in unserer Gegend sind die Russen nicht so dominant, dass die Vielfalt der UK in Gefahr wäre, da haben wir eher Sorge in andere Richtungen.
Spoiler voraus
Was der Film zeigt, ist auch insofern realistisch, als die Ermittler nicht in eine Kampfsituation mit der OK geraten, weil sie gezielt gegen diese vorgehen, sondern sozusagen durch einen Leichenfund hineingezogen werden in eine Sache, die leider, wir lassen die Katze nun aus dem Sack, für eine der Ermittlerpersonen tödlich endet. Es ist ist Nina Rubin, die auf dem Flugfeld verstirbt, weil ihre Darstellerin Meret Becker nach 15 Filmen genug von der Reihe oder ihrer Rolle oder beidem hat. Ist es sehr schade? Jedenfalls hat der Film berührende Momente, und dazu zählt auch dieses Killing in Action, was darauf zurückführen ist, dass sie der jungen Frau, die gegen die Mafia aussagt, ihre schusssichere Weste überlassen hat. Westen für alle waren eben nicht vorhanden, typisch Berliner Polizei. Nun ja, es ergab sich aus der Situation, alles ging so hopplahopp. Ist nach kurzer Zeit schon mächtig Sand im Getriebe, weil Nina Rubi Karow nicht ins Vertrauen zieht, als sie anfängt, mit der Frau zusammenzuarbeiten, die ins Zeugenschutzprogramm soll, wird dieser im letzten Drittel abgeschüttelt und es entwickelt sich ein richtig spannender Film. Und einer, der auch emotional funktioniert, zumindest war das bei mir so.
Sicher hat es damit zu tun, dass die Szene auf dem Flugfeld durch die vorherige Action gut vorbereitet worden ist, aber vielleicht auch an etwas, wofür man um die Ecke denken muss: Nina Rubin wurde von Meret Becker immer so porträtiert, dass sie sich nicht anbiedert, nicht unsere Identifikation mit aller Gewalt erzwingen will, sondern ihr eigenes Ding macht, auch wenn es Handlungen beinhaltet, die viele Zuschauer:innen nicht billigen dürften, diese Großstadtgöre. Es wird im Verlauf ihrer relativ kurzen Karriere einiges gezeigt, was sich bisher keine Ermittlerin erlaubte. Ein Echo darauf findet sich auch hier wieder, als sie mit der Kronzeugin tanzt, deren Darstellerin Bella Dayne für ihre Leistung zu Recht von der Kritik gelobt wurde.
Gerade ihr Tod rief in mir das Gefühl hervor, da ist etwas noch nicht erledigt noch nicht ausgesprochen, es kommt so plötzlich und mitten aus dem Leben heraus. Sicher, man war darauf vorbereitet und solche Szenen kann man kaum gestalten, ohne dass Zuschauer, wenn man sie auf dem alschen Fuß erwischt, das Ganze auch ein wenig läherlich finden, weil es doch auch banal wirkt. Und überzogen zugleich, weil man Ermittler:innerinnen immer selten einen normalen Abgang gönnt, es muss mindestens der Tod ins Spiel kommen. Sogar bei der klamaukhaften Weimar-Schiene musste es dieser Weg, musste es dieser Abgang sein. Angefangen hat es mit dem Kölner Tatort „Franziska“, der bei den Fans hoch im Kurs steht, man testete zunächst mit der Nr. 3 auf der Besetzungsliste. Alles Geschriebene bezogen auf die aktuellen Teams, vor langer Zeit gab es wohl in Frankfurt eine Art Ermittler-Eintagsfliege, die ebenfalls im Dienst umgebracht wurde.
Finale
Handlungsseitig ist der Film gar nicht so ein Brüller und dieses Hin und Her mit den beiden Russenclans, nun ja. Aber die Schauwerte sind durchaus ansehnlich und wer bisher nicht warm wurde mit dem sperrigen Team Karow / Rubin, der findet hier vielleicht etwas wie Erlösung. Endlich kann man um jemanden weinen, der bisher so gar kein Mitleid hervorzurufen im Stande war. Rubin, mehr noch als Karow, entspricht zwar dem heutigen Prinzip, dass Ermittler nicht mehr obenauf sind und sich stur durch das Verbrechen ackern, bis die Ordnung, die ihre Berechtigung nicht erklären muss, wiederhergestellt ist, sondern immer mittemang zu sein scheinen. Dichter an eine Person heranzukommen ist deshalb noch lange nicht selbstverständlich. Karow ist wohl noch nicht auserzählt, denn wir wissen aus den ersten Filmen des neuen Teams, dass in seiner Vergangenheit ganz viele Fäller herumstehen, deren Öffnung für wunderbare Verstrickungen in der Gegenwart sorgen kann.
Inhaltlich bleibt, das kann nun abschließend festhalten, „Meta“ der beste Tatort des nunmehr auseindergerissenen Berliner Tatort-Teams. Von einem würdigen Finale für Rubin zu sprechen, angesichts ihres Todes, ist ebenfalls eine Ausdrucksweise, die mir nicht sonderlich gefällt. Trotzdem hat dieser Film Eindruck hinterlassen, das findet Ausdruck in der Bewertung:
8,5/10
(c) 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Vorschau: Geht sie allein nach Hause?
Das wissen wir noch nicht. Jedenfalls hört Meret Becker als Nina Rubin nach 15 Filmen in 7 Jahren an der Seite von Mark Waschke auf. Der weibliche Teil des Duos ist weg, Waschke wird aber weitermachen. Ob er sie auf ihrem letzten Gang begleitet oder ob sie einfach alleine ins Off geht? Sie ist nicht gemeint, sondern eine Episodenfigur, mit dem Mädchen, das allein nach Hause geht. Trotzdem Zeit für einen Rückblick. Nachdem zuerst Till Ritter (Dominic Raacke) und dann Felix Stark (Boris Aljinovic) den Tatort verlassen haben, der RBB wollte es Mitte der 2010er so, übernahmen Rubin und Karow und sollten dem Tatort noch einmal ein moderneres, hauptstädtisches Gepräge geben. Besser als einige der letzten Filme von Ritter und Stark wie „Gegen den Kopf“ wurde es nicht, aber besser als der Durchschnitt aller Filme des vorherigen Teams, das würden wir schon unterschreiben. Der vielleicht beste und intelligenteste der Fälle aus der nun zu Ende gehenden Ära war „Meta“, einer der besonderen, von manchen sicher als „experimentell“ eingestuften Tatorte der letzten Jahre.
Der ganz große Wurf, nämlich einen Film unter die ersten 10 oder 20 der ewigen Tatort-Fundus-Rangliste zu bringen, blieb den Berlinern verwehrt. „Meta“ auf Platz 90 (Stand 22.05.2022) liegt an der Spitze. Schauen wir aber noch etwas weiter zurück, kann man nur sagen: Es wurde sehr daran gearbeitet, dass die Berliner Tatorte nicht mehr ganz so schräg oder / und dilettantisch wirken wie in den ersten Jahrzehnten (ausgenommen die Markowitz-Reihe mit ihrem für Berliner Verhältnisse zwar gemächlichen, aber gute Charaktere und viel Atmosphäre zeigenden Gepräge). Was nicht richtig funktionierte, war bei Karow die Implementierung einer horizontalen Erzählung zu seiner Person: Zu kompliziert und kryptisch, sodass erstmals, seit es Tatorte gibt, eine Einführungszusammenfassung des Bisherigen durch einen Narrator stattfinden musste, um die Zuschauer einigermaßen im Bilde zu halten. Was geht nun im letzten Rubin-Karow-Tatort?
„Nach dem Mord an einem verdeckten Ermittler wendet sich eine Angehörige des mutmaßlich dafür verantwortlichen russischen Mafiaclans an Rubin und bittet sie, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden – als Gegenleistung für wertvolle Informationen. Es wird strenge Vertraulichkeit vereinbart, Karow erfährt von nichts – eine Belastung für das Vertrauensverhältnis der beiden Kollegen, die sich zuletzt auch privat nähergekommen sind.“ – Redaktion Tatort-Fans
So, nähergekommen. Da merkt man wieder, dass wir im Rückstand sind, deshalb kommentieren wir das hier nicht. Umso besser passt aber unser Titel. Aber es ist ein Clan-Krimi. Während der Zeit von Ritter und Stark, als wir selbst neu in Berlin waren, schrieben wir: Warum wird nicht das Kiezleben mehr eingebunden, um nicht immer diese Hohlglanzfassade so in den Vordergrund zu stellen? Inzwischen: Nach gefühlt 100 Jahren Gentrifizierung verschwindet das „Kiezleben“ sowieso immer mehr und zur Gentrifizierung tragen auch die Clans bei. Insofern passt es dann wieder. Es wird nur nicht politisch an die große Glocke gehängt, weil vorgeblich nicht woke. Ist es nach unserer Ansicht aber gerade, und zwar generell, ohne ethnische Zuordnungen. Mehr Wachheit gegenüber gesellschaftszersetzenden Strukturen tut not. Jetzt wissen wir auch, was die „Bratwa“ ist, man lernt auch durch Tatorte stets hinzu.
Großflächiges, in die Gesellschaft immer mehr einsickerndes Verbrechen zerstört solidarisches Miteinander und ist eine Gefahr für die Demokratie. Uns ist es egal, wo jemand geboren ist, welchen Gott er anbetet und von welcher Marke seine Turnschuhe sind, wer sich als Berufsverbrecher betätigt, findet gewiss nicht unseren Zuspruch. Ethnische Konnotationen gibt es durch spezielle Strukturen, Vorgehensweisen und Weltanschauungen, die nun einmal an diese gebunden sind, deshalb kann man nicht einfach die Herkunft von Clans weglassen, wenn man über sie berichtet, ohne das Bild zu verfälschen. Bei den Russen … nun ja, vermutlich hat man schon geahnt, dass Russen-Bashing derzeit etwas besser geht als die Benennung anderer Nationalitäten. Wusste der RBB mehr als wir, die zukünftige Entwicklung in der Ukraine betreffend? Fragen darf man doch. Vielleicht wird aber auch alles so dargestellt, dass das individuelle Drama im Vordergrund steht und das herauskommt, was für uns ohnehin selbstverständlich ist: Die Mehrzahl der Angehörigen jedweder Nationalität oder Ethnie ist gut oder wenigstens mittelmäßig-harmlos. Und nun zu den Meinungen:
„(…) Der letzte Fall des Duos Rubin/Karow wird als temporeicher Hauptstadtkrimi auf der Höhe der Zeit inszeniert, der den Zuschauern einiges zumutet – im positiven Sinne. Die rasante Dynamik der Handlung zwingt zum Mitdenken und verhindert jeden Anflug von Langeweile – und das, obwohl die Katze relativ früh aus dem Sack gelassen wird, was die Verantwortlichkeit für den Mord betrifft. Im Mittelpunkt steht aber ohnehin der kompromisslose Freiheitskampf einer jungen Frau, der dank der bravourösen Episoden-Hauptdarstellerin Bella Dayne authentisch und hoch spannend zugleich vermittelt wird. (…) [Meret Becker] verabschiedet sich vom Tatort, wie es sich für eine „Berliner Göre“ gehört: ohne großes Pathos, ohne Sentimentalität, dafür mit einem abenteuerlichen Roadtrip, wie er so wohl nur in der Hauptstadt zu erleben ist. Unbedingte Einschaltempfehlung!“ – Redaktion Tatort-Fans, s. o.
So handelt also eine typische Berliner Göre. Hauptsache, das Klischee stimmt auch, aber die meisten Berliner:innen sind ja eh nicht von hier, so wie wir. Aber das klingt doch schon vielversprechend, es sei denn, man kommt schon bei langsamen Krimis kaum mit.
„Dieser Tatort lebt durch mitreißende Bilder. Vieles ist düster, dunkel, mal in Zeitlupe, dann ganz schnell, teilweise unscharf, dann wieder der Zoom nur aufs Gesicht. Als Zuschauer sind wir dadurch unglaublich nah dran, leiden, zittern und hoffen bis zum letzten Moment mit. Der berühmt-berüchtigte BER Flughafen sorgt für ein packendes Finale. Ein Labyrinth aus unterirdischen, Gängen, Rohren, Schächten und das ungute Gefühl, dass man niemand nirgends trauen kann. Dieser Tatort ist ein Mix aus Action-Thriller und Romantik-Drama. Ich finde: Absolut sehenswert!“ – Carola Knape, SWR3-Check
Sehenswertes Finale, schreibt die Rezensentin und vergibt fünf von fünf Elchen. Holla, haut das Team Berlin den größten Kracher zum Schluss raus? Ich würde es Nina Rubin gönnen und natürlich auch Robert Karow, auf dessen weitere Einsätze ich gespannt bin. Nachdem ich jetzt schon mindestens drei Schreibweisen für den Titel dieses Tatorts entdeckt habe:
„Der letzte Tanz. Zwischen Absturzbar und Lesbenball: Als Nina Rubin verkörperte Meret Becker die Kreuzberger Späti-Variante unter den »Tatort«-Kommissarinnen. Nun absolviert sie eine aufwühlende Abschiedstour.“ – Christian Buß, Der Spiegel
Ansonsten findet Buß den Film etwas zu stylisch, kulissenhaft bezüglich des Milieus und am Ende melodramatisch-kaskadenhaft überhöht. Das passt schon besser zu unserer Wahrnehmung, naja, sagen wir mal, eines gewissen Teils von Berlin als das unsentimental Görenhafte. Mit den verdienten Abschiedstränen für Nina Rubin wachsen die Punkte dann doch knapp über den Durchschnitt hinaus: 6/10.
Ansonsten findet Buß den Film etwas zu stylisch, kulissenhaft bezüglich des Milieus und am Ende melodramatisch-kaskadenhaft überhöht. Das passt schon besser zu unserer Wahrnehmung, naja, sagen wir mal, eines gewissen Teils von Berlin als das unsentimental Görenhafte. Ebenso wie der BER, unser verrückter Flughafen, der mehr negative Schlagzeilen gemacht hat als alle anderen Flughäfen der Welt zusammen, und das, noch bevor er in Betrieb ging. Von wegen kein Pathos und so. Die Fertigstellung war das Finale der größten je geschriebenen Oper über öffentliche Bauaufträge, mit einem Schlag ins Operettenhafte natürlich. Mit den verdienten Abschiedstränen für Nina Rubin wachsen die Punkte dann doch knapp über den Durchschnitt hinaus: 6/10.
„“Für den letzten „Tatort“ mit Meret Becker als Kommissarin Nina Rubin hat sich der Autor Günter Schütter viel vorgenommen. „Das Mädchen, das allein nach Haus‘ geht“ (RBB / Provobis) dringt noch einmal tief in die Psyche dieser außergewöhnlichen Reihenfigur ein, erzählt eine auf vier Hauptfiguren reduzierte Krimihandlung, gibt dem Ganzen in der zweiten Hälfte eine Drei-gegen-alle-Thriller-Struktur, macht Ausflüge ins Beziehungsdrama, ja setzt sogar auf melodramatische Momente und sucht nach einem psycho- und genrelogisch überzeugenden Ausstand für die Kommissarin. Mit diesem ausgeklügelten Genre-Mix, mit seinem psychologischen Tiefgang und mit der existentiellen, empathiesatten Hochspannung ist dieser „Tatort“ nicht nur ein außergewöhnlicher, sondern auch ein überragender Sonntags-Krimi. Das hat viel mit Regisseur Ngo The Chau zu tun: Der preisgekrönte Kameramann, der hier erst seinen vierten Film vorgelegt hat (sein erster Krimi!), veredelt das sehr gute Drehbuch nicht nur, sondern er verleiht diesen zum Teil atemberaubenden 90 Filmminuten einen unverkennbaren visuellen Stil. Für jede Situation, für jede Stimmung, für jeden Genre-Ausflug findet der Vietnamese betörend schöne Bilder. „Das Mädchen, das allein nach Haus‘ geht“ steckt wie das „reine Herz“ Nina Rubin voller Gefühle. Ein würdiger Abgang!“ – Rainer Titelbach, Tittelbach-TV
Und jetzt kommt’s. 6 von 6 Sternen vergibt der Chef persönlich. Ich kann mich nicht an einen Tatort erinnern, der die volle Punktzahl bekommen hat. Mehrere mit 5,5, aber keiner mit 6. Vermutlich darf die auch nur Tittelbach selbst vergeben, deswegen hat er den letzten Rubin-Tatort auch selbst gewürdigt. Das ist natürlich Spaß, ich kenne die Hintergründe der Publikation und ihrer Verfahren nicht, aber ich bin doch einigermaßen beeindruckt von dem Erlebnis einer vollen Punktzahl bei TTV. Vielleicht ist Christian Buß aber auch der einzige, der diesen vermutlichen Mindfuck nicht nur in distanzierten Worten beschrieben hat (lesen Sie dazu bitte die komplette Rezension), sondern es geschafft hat, tatsächlich etwas Distanz zu wahren.
Der Regisseur entstammt übrigens, falls er ein „Berliner Vietnamese“ ist (das dürfte der Fall sein, ich habe gerade in seiner Wikipedia-Biografie nachgesehen) einer Community, die ihn inspiriert haben könnte, auch bezüglich seines offenbar ausgeprägten visuellen Stils. Auch in dieser Community gibt es „Strukturen“, aber aufgrund des dezenten Auftritts der Südostasiaten sind sie weniger bekannt und wirken nicht so grell ins Innenstadtleben hinein. Viele Menschen aus Vietnam kamen einst als Vertragsarbeiter:innen in die DDR und blieben nach der Wende teilweise hier. Besonders ihr Geschäftssinn, unterstützt durch gute Verbindungen nach China, von wo sie die meisten ihrer Waren günstig beziehen, zeichnet sie aus und wir beobachten immer wieder mit Faszination diese ganz eigene Welt, wenn wir z. B. hin und wieder einen Abstecher ins „Dong Xuan Center“ machen – natürlich mit einer kundigen Begleitung, die uns ein bisschen mehr über die Hintergründe erzählen und uns gute Tipps geben kann. Berlin hat also auch eine Art Chinatown oder Asia-City. Man hat sie bisher aber nie als Setting für einen Tatort verwendet, soweit ich weiß.
Angehörige von 192 Nationen leben hier, soweit ich es richtig im Kopf habe. Sie alle sind es wert, entdeckt und filmisch hervorgehoben zu werden. Dafür wiederum gibt es sehr unterschiedliche, trotz eines gewissen Realismus bezüglich der Tatsache, dass nichts von nichts kommt, auch nicht das viele illegal oder mit wenig schönen Methoden in dieser Stadt erwirtschaftete Geld, wertschätzende Ansätze einzelnen Menschen gegenüber unter Vermeidung klischeehafter Zuschreibungen.
Gespannt bin ich nach diesen überwiegend herausragenden Bewertungen selbstverständlich auf das Tatort-Ereignis des heutigen Abends, das sozusagen vor der Haustür stattfindet. Und Sie? Kommen Sie nach Berlin oder schauen Sie wenigstens zu, was hier passiert, denn es ist immer was los! Krass übrigens, dass die ARD die oben von Tatort-Fans angesprochene Episodenhauptdarstellerin gar nicht erwähnt, wir ergänzen deshalb:
Julie Bolschakow – Bella Dayne
Nina Rubin | Meret Becker |
Robert Karow | Mark Waschke |
Yasha Bolschakow | Oleg Tikhomirov |
Kriminaldirektorin | Nadeshda Brennicke |
Malik Aslan | Tan Caglar |
Koshka Bolschkakow | Jeanette Spassova |
Polizeipsychologe | Tristan Seith |
Staatsanwalt Kemmrich | Gode Benedix |
Funktionsbereich | Name des Stabmitglieds |
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Regie: | Ngo The Chau |
Kamera: | Ngo The Chau |
Buch: | Günter Schütter |