Soll Deutschland „Führungsmacht“ werden? | Frontpage | Geopolitik | Umfrage, Ergebnis?

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Zeitwende. Deutschland als „Führungsmacht“ könnte eine Folge daraus sein, was Olaf Scholz im Bundestag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verkündet hat. Die Forderung ist allerdings nicht neu, sie kommt insbesondere seit der Wende immer wieder auf. Dieses Mal ist es die SPD, die sich exponiert:

Wie bewerten Sie SPD-Chef Lars Klingbeils Forderung, Deutschland müsse den Anspruch einer „Führungsmacht” übernehmen?

Wenn es nach SPD-Chef Lars Klingbeil geht, solle Deutschland „nach 80 Jahren der Zurückhaltung” künftig mehr Verantwortung übernehmen. Das erklärte er diese Woche auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Deutschland stehe im internationalen Koordinatensystem immer mehr im Mittelpunkt und sollte dementsprechend den Anspruch einer „Führungsmacht” entwickeln.

Deutschland müsse zusammen mit der Europäischen Union eine neue geopolitische Bedeutung entfalten, so Klingbeil. Militärische Gewalt sei dabei ein legitimes Mittel der Friedenspolitik. Natürlich müsse auch mit Ländern kooperiert werden, die das deutsche Gesellschaftsmodell nicht teilen. Doch schlussendlich müsse der Anspruch sein, sich nie wieder in solche Abhängigkeiten zu begeben, wie es energiepolitisch bei Russland der Fall war.

Kritik an Klingbeil kam insbesondere aus den eigenen Reihen. Juso-Chefin Jessica Rosenthal halte dies „für ein völlig falsches Verständnis der deutschen Rolle”, sagte sie dem Spiegel. SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast lobte indes die Ausformulierung von Scholz‘ Kurs, warnte aber vor einer zu starken Konzentration auf das Militärische. Sebastian Roloff, Chef des SPD-Forums Demokratische Linke 21, bemängelte, dass der Vorstoß innerhalb der Partei hätte debattiert werden müssen.

Dieses Mal mussten wir etwas nachdenken, denn immerhin gibt es ja auch das Narrativ von der Friedensmacht, von der Frieden stiftenden Wirkung Deutschlands in der Welt, Konsequenz der Ereignisse vor 80 Jahren, die Klingbeil anspricht. Dagegen hätten wir gar nichts, aber trotzdem haben wir mit „eher nein“ gestimmt. Führung ist immer Führung, auch wenn es blöd läuft und man dadurch in einen Krieg verwickelt wird. Am besten fahren eindeutig Länder, die einen solchen Anspruch nicht haben, sofern sie keine Atommächte und nicht mindestens regionale Großmächte sind. Beides trifft auf Deutschland politisch nicht zu, auch wenn es die größte Volkswirtschaft in der EU hat.

Der Führungsanspruch kann auch nicht darin liegen, einerseits eine humanistische Großmacht zu sein und sich andererseits ständig bedrängen zu lassen, weil es mit den Waffenlieferungen in einem Konflikt nicht schnell genug geht, der fast vor der eigenen Haustür liegt. Und gewiss nicht darin, sich mit Sanktionen gegen andere vor allem selbst ins Knie zu schießen. Hoffen wir, dass die Regierung es wenigstens schafft, nicht mit voller Absicht auf den eigenen Kopf zu zielen, denn nicht die gutbezahlten Politiker:innen, sondern wir, die Mehrheit, werden es sein, die entweder hungern oder sich umbringen darf.

Der FDP wäre Letzteres vermutlich lieber und auch bei den Grünen sind wir nicht so sicher, dass der Klassismus nicht alles andere überwiegt. Die SPD hingegen sollte sich an ihre Geschichte erinnern: Sie war, obwohl sie sich als internationalistische Arbeiter:innenpartei begriff, bereits einmal dem Großmachtdenken erlegen, während des Ersten Weltkrieges, als sie letztlich die Kriegspolitik des Kaiserreiches unterstützt hat. Wozu diese beinahe uneingeschränkte politische Unterstützung des Kriegeskurses von 1914-1918 wiederum geführt hat, wissen wir. Zu ebenjenen Zuständen und Ereignissen vor 80 Jahren. Daher erwarten wir von der SPD ein dezentes machtpolitisches Auftreten.

Es reicht schon, dass mit den Grünen und der FDP zwei Parteien in der Regierung sind, die ziemlich bedenkenlos auf Eskalation im aktuellen Konflikt setzen. Außerdem ist das, was Klingbeil gesagt hat, nicht einfach eine „Ausformulierung“ der Zeitenwende-Rhetorik von Kanzler Scholz, sondern kann durchaus als Erweiterung interpretiert werden, denn eine Zeitenwende bedeutet letztlich nur mehr Vorsicht gegenüber den Regierungen anderer Länder und mehr Unabhängigkeit von Diktaturen. Das ist für uns die wichtigste Konsequenz aus dem aktuellen Geschehen. Immerhin wird diese im Erklärungstext von Civey nicht ganz vergessen.

Ein weiterer, wichtiger Aspekt: Führung ist nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch des Könnens. Deutschland ist enger als die europäischen Mittelgroßmächte UK und Frankreich an die USA angebunden und hat daher keine Führungsaufgabe im westlichen System. Führung ist nicht, immer erst in Washington nachfragen zu müssen, wie man sich außenpolitisch positionieren darf. Genau diese „enge Abstimmung“ betont Kanzler Scholz aber derzeit, und zwar zu Recht, denn sie entspricht der Realität. Die USA werden Deutschland, ebenfalls zu Recht, niemals als wirkliche „Partner in Leadership“ akzeptieren. Das war eine schöne Vorstellung direkt nach der Wende, geäußert von Präsident Bush Senior.

Die heutigen Verhältnisse sehen anders aus und besonders unter Präsident Trump hat man auch rhetorisch keinen Zweifel daran gelassen, was die USA vom Rest der Welt halten. Ein Führungsanspruch könnte höchstens für die gesamte EU erwachsen. Wir fordern das zwar immer wieder: Mehr europäische Unabhängigkeit und dadurch mehr geopolitisches Gewicht. Aber welchen Eindruck macht die EU? Sie kann zwar die Ukraine aufnehmen, aber das bedeutet geostrategisch nicht sehr viel und macht die EU nicht stärker. Die 27 Länder bekommen hingegen auf wichtigen Feldern, in existenziellen Fragen, keine abgestimmte Politik hin. Insbesondere keine, die echte Problemlösungen hervorbringt und die EU ethisch, als die viel beschworene Wertegemeinschaft, wie auch wirtschaftlich stabilisiert. Beides jedoch wären wichtige Voraussetzungen für mehr deutsche Führung im Rahmen voranschreitender europäischer Integration. Insofern, unter aktuellen Umständen: eher nein.

TH

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