Filmfest 800 Cinema
Nicht nur Flugzeuge kann man entführen
Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 123 (Originaltitel: The Taking of Pelham One Two Three) ist ein Kriminalfilm-Thriller aus dem Jahr 1974. Er basiert auf dem Roman Abfahrt Pelham 1 Uhr 23 (gleicher Originaltitel) von John Godey. Walter Matthau stellt sich in seiner Rolle als Sicherheitschef der New Yorker U-Bahn einer Gruppe von vier Geiselnehmern entgegen.
Die vier Verbrecher tragen hier als Decknamen vier verschiedene Farben, wie in Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ – sicher kein Zufall.
In „Reservoir Dogs“ sind es ein paar Farben mehr, aber wenn ich die hier verwendeten interpretieren soll, dann etwa so: Mr. Blue ist der Blue Chip unter den Gangstern, der eisblaue Kopf der Bande, strategisch versiert und kühl, ein ehemaliger Söldner, der das Töten ebenso beherrscht wie das Taktieren. Mr. Green ist derjenige, der die Greenbucks bekommt, Mr. Grey ist eigentlich ein schwarzer Charakter, der einzige wirklich bösartige unter den Zugentführern, da habe ich mich gefragt, warum die drei anderen unbedingt diesen Typ für unverzichtbar halten. Mr. Brown verschwindet als Unauffälligster der drei relativ schnell im schwarzbraunen Untergrund. Weitere Fragen und Antworten zu „Die Todesfahrt der U-Bahn 123“ lesen Sie in der –> Rezension.
Handlung (1)
Eines frühen Nachmittags wird ein Zug der New Yorker U-Bahn von vier Gangstern entführt. Da die Abfahrtszeit von der Endstation Pelham Bay Park (im Stadtteil Bronx gelegen) nachmittags um 1.23 Uhr stattfand, wird der Zug als „Pelham 123“ bezeichnet, ein damals in der New Yorker U-Bahn übliches Verfahren. Die vier sind gleich gekleidet und maskiert und haben sich Decknamen nach Farben gegeben. Anführer und Organisator der Entführung ist der ehemalige Söldner Ryder, Deckname Mr. Blue. Die Forderung beträgt eine Million Dollar. Sollte der Geldbetrag nicht in einer Stunde bei den Gangstern sein, so würde für jede Minute, die überschritten wird, eine Geisel erschossen werden.
Verhandlungspartner ist Lieutenant Zachary Garber von der New Yorker U-Bahn-Polizei. Bevor es allerdings zu einer Lösegeldübergabe zwischen den Entführern und der U-Bahn-Polizei kommt, wird der Fahrdienstleiter der Grand Central, Caz Dolowicz, der den entführten Zug betreten will, von dem Entführer Mr. Grey erschossen. Der Streifenpolizist James, der den Vorfall beobachtet, kommt mit der Zeit in eine heikle Situation, da sich vor ihm der Zug mit den Entführern befindet und hinter ihm Scharfschützen in Stellung gehen.
Währenddessen versucht Warren Lasalle, Pressesprecher des Bürgermeisters von New York, diesen zur Zahlung des Lösegelds zu überreden. Der Bürgermeister liegt jedoch mit einer Erkältung im Bett und interessiert sich mehr für das Fernsehprogramm als für die Zahlung der Million Dollar aus der ohnehin klammen Stadtkasse. Erst als seine Frau darauf hinweist, dass er mit der Zahlung des Lösegelds weitere 18 Stimmen (die der Geiseln im Zug) bei der anstehenden Bürgermeisterwahl dazu gewinnt, gibt er das Geld frei. (…)
Rezension
Wie wirkt ein Actionthriller aus den 1970ern heute?
Immer noch ansehnlich. Nicht so sehr wegen der Action, die ist relativ bescheiden, sondern wegen der Charaktere und des Humors. Ich habe selten einen Thriller mit so viel Dialogwitz gesehen. Offensichtlich ist der Film damit auch ein Porträt des New Yorkers, des Großstädters, die Krimi-Version von Woody Allens Stadtneurotikern, die etwa zur selben Zeit aufkamen. Er ist aber auch ein Polizeifilm der knackigen Art mit reportagehaftem, relativ distanziert wirkendem Einschlag, wie er von New Hollywood Mitte der 1970er voll entwickelt worden war. Vieles erinnert an „French Connection“, „Shaft“, „Dirty Harry“, „Serpico“, „Der Dialog“. Die Atmosphäre, die das New York jener Jahre ausstrahlt, ist unvergleichlich, eine schon wieder großartige Form von Niedergang und Chaos. Der Terrorismus ist noch weit voraus, aber die Art, wie die U-Bahn gekapert wird, lässt schon erahnen, dass dereinst das Unmögliche möglich werden könnte, die Ausführung von Verbrechen betreffend. Und natürlich war es die Zeit der Katastrophenfilme, in denen technische Einrichtungen wie Hochhäuser oder Luftschiffe in Flammen aufgingen. Gut, dieser Bezug ist sicher der am wenigsten relevante, dafür hat man sich aber bei „Speed“, der 20 Jahre später erschien, wiederum einiges von „The Taking of Pelham One Two Three“, wie der Film im Original heißt, abgeschaut.
Allerdings entstand schon 1973 „Massenmord in San Francisco“, in dem sogar alle Passagiere eines Busses getötet werden, hier ist Matthau als Polizist mit der Aufklärung des Falls beschäftigt und da gibt es keine Kompromisse – auch den Bodycount nicht, der für damalige Verhältnisse in einem Krimi ungewöhnlich hoch war.
„Speed“ gilt ja als sehr spannend, trifft das auch auf „Pelham 123“ zu?
Mehr. Und er beweist, dass Spannung eben nicht in einer Anhäufung von materialmordenden Einzelszenen liegen muss – sondern in einer geschickten Dramaturgie, unberechenbaren Charakteren und einem Plot, der nicht mit einem Mangel an Realismus und Durchdachtheit auffällt. Klar gibt es auch im U-Bahn-Entführungsfilm ein paar schräge Momente wie den Unfall des Polizeiwagens oder den U-Bahn-Polizisten, der mit im Tunnel zugange ist und durch eine unbedachte kleine Handbewegung eine Schießerei auslöst. Doch das Gesamtszenario ist sehr stimmig und es gibt eine weitere Verbindungslinie: Die progressive Tendenz der Filme in den frühen 1970ern ist auch hier zu bemerken. Die Verbrecher werden differenziert gezeichnet, der Politiker hingegen ist genau das, was man sich unter einem Politiker vorstellt, entscheidungsschwach, nur auf die Umfragewerte schielend, letztlich auf die Dynamik und moralische Urteilskraft seiner Mitarbeiter angewiesen. Weil das so ist, macht es den Film erst richtig spannend.
Zu jener Zeit war es bereits möglich, dass Film-Räuber mit der Beute davonkommen, ich glaube, „The Thomas Crown Affair“ (1966) hat direkt nach dem Ende des Hays Code viel dafür getan. Selbstverständlich ging das nur, wenn man das Deliktische so dargestellt hat, dass es Sympathie erzeugt. In „Pelham 123“ ist das vor allem durch Mr. Green gegeben, einen einfachen U-Bahn-Fahrer, den man zu Unrecht wegen Korruption und der Verwicklung in Drogengeschäfte, die per U-Bahn-Transport ausgeführt werden, entlassen hat. Er lebt in ärmlichen Verhältnissen und man göönnt ihm die Beute, zumal er während des Unternehmens keinerlei Gewalt angewendet hat. Aber der Film nimmt nicht diesen Weg, sondern der schlaue Lt. Garber, hinreißend von Walter Matthau verkörpert, kriegt ihn auf eine ganz einfache Weise dran. Fazit: Man soll nie erkältet in ein solches Unternehmen wie diesen minutiös geplanten – sic! – Beutezug gehen. Und damit ist der Film zu Ende. Das Schöne daran: Man hat inzwischen gleichermaßen Sympathie für Garber entwickelt und nimmt den Ausgang der Sache mit einem lachenden und einem weinenden Auge hin. Besser geht’s kaum. Außerdem kann Matthau hier an seine Rolle aus dem Vorjahr in „Charley Varrick“ anknüpfen, in welcher er auf der anderen Seite stand und in der Tat mit dem erbeuteten Geld abhauen konnte.
Hat der Film deutliche Mängel?
Durch seine füllige, aber strukturell einfache Plotführung keine, die mir direkt ersichtlich geworden wären. Ob die Art und Weise, wie die U-Bahn-Entführer den abgekoppelten Wagen allein zum Fahren bringen, realistisch ist und dem Stand der Technik der New Yorker U-Bahn von 1974 entspricht, kann ich nicht ermitteln, aber es wirkt alles zumindest schlüssig. Ebenso wie die Figurenpsychologie unter Einbeziehung des „typischen New Yorkers“, der irgendwie dem Berliner ähnelt: Viel Schnauze, manchmal nicht sehr effizient, aber dann doch mit Herz und Teil der Lösung, nicht des Problems. Es gibt für solche Filme typische Fehler, die man in der IMDb unter „Goofs“ nachlesen kann, und davon eine ganze Menge, aber diese fallen tatsächlich alle so aus, dass ich sie nicht bemerkt habe. Das liegt natürlich zum Einen an meiner Unkenntnis des New Yorker U-Bahn-Systems und der Stadtgeografie. Es hat auch damit zu tun, dass die Spannung und das Interesse an den Figuren zu hoch sind, um auf solche meist ins Detail gehenden Präzisionsmängel zu achten. Details der Ausführung dieses Verbrechens werden in der Tat lebhaft diskutiert, aber es kam nicht zu einer realen Folgetat, welche die Behörden ursprünglich befürchteten und deshalb zögerten, das Filmen im realen New Yorker U-Bahn-Netz zu erlauben.
Finale
Der renommierte Fernsehregisseur Joseph Sargent hat hier bewiesen, dass die Ökonomie dies kleineren Mediums sich auf der großen Leinwand gut für verdichtete Darstellungen verwenden lässt. Der Score von David Shire ist sehr gut und in seiner Pop-Jazz-Ausfassung typisch für die damalige Zeit, trägt also zur Atmosphäre einiges bei – wie auch die Kamera von Owen Roizman, der ebenfalls bei „French Connection“ für die Bilder verantwortlich war. Ein wirklich gelungener, nicht dummer, aber auch nicht hypertropher Thriller mit wohltuender Konzentration auf die Interaktion der Figuren. Man kann höchstens kritisieren, dass die 17 Passagiere des abgehängten U-Bahn-Waggons, die einen Querschnitt durch die New Yorker Stadtgesellschaft bilden und recht modern wirken, zwar angerissen werden – aber nicht ausgeführt. Im Unterschied zu vielen Katastrophenfilmen mit ähnlichen Ensembles werden ihre Charaktere nicht wichtig für den Fortgang der Dinge. Hätte man den Film so angelegt, wäre er aber deutlich länger geworden oder man hätte nicht so schön das Duell zwischen Garber und Mr. Blue in den Vordergrund stellen können.
84/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
Regie | Joseph Sargent |
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Drehbuch | Peter Stone |
Produktion | Gabriel Katzka Edgar J. Scherick/United Artists |
Musik | David Shire |
Kamera | Enrique Bravo Owen Roizman |
Schnitt | Gerald B. Greenberg Robert Q. Lovett |
Besetzung | |
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