Schlaflos in Seattle (Sleepless in Seattle, USA 1993) #Filmfest 808

Filmfest 808 Cinema

Liebe auf den ersten Ton

Schlaflos in Seattle ist eine romantische Komödie der Regisseurin Nora Ephron aus dem Jahr 1993. Der Film mit Tom Hanks und Meg Ryan in den Hauptrollen erzählt die Geschichte einer Liebe auf Distanz und von der Hoffnung, die wahre Liebe zu finden. Der Film spielte weltweit über 220 Millionen US-Dollar ein.[1]

Tearjerker oder Tränendrüsendrück-Filme fangen normalerweise irgendwo im Verlauf an, sentimental zu werden, aber hier geht es gleich mit der Szene los, in der Sam mit seinem kleinen Sohn auf dem Friedhof steht, auf dem Sams Frau gerade beigesetzt wurde. Der große Verlust und die große Trauer stehen direkt am Beginn, ein ganz übler Trick, um den Zuschauer sofort weichzuklopfen. Während des gesamten Film ändert sich die Stimmung dann nicht mehr wesentlich, obwohl es nur so sein kann, dass am Ende die neue, die zweite große Liebe steht, dass also, und das ist für die Art Romantiker, für die der Film gemacht ist, sehr wichtig, das Schicksal unweigerlich zwei Menschen zusammenführt und dabei eine zweite Chance gewährt. Natürlich gibt es zu dem Film noch mehr zu schreiben, es steht in der –> Rezension.

Handlung (1)

Der Witwer Sam zieht mit seinem Sohn Jonah von Chicago nach Seattle, wo es meistens regnet. Vielleicht das passende Wetter für jemanden, der zwar aus der Umgebung weg möchte, in welcher er mit seiner verstorbenen Frau glücklich war, aber dessen Stimmung doch weit weg ist von den Stränden Kaliforniens. Sein Sohn arrangiert, dass Sam in einer Radiosendung spricht, in der einsame Herzen sich zu nächtlicher Zeit äußern und bekommt von der Moderatorin den Nick „Schlaflos in Seattle“. Diese Sendung hört Annie in New York und obwohl sie gerade heiraten will, interessiert sie sich dermaßen für Sam und seinen Sohn, dass sie heimlich nach Seattle fliegt und bei der ersten, noch wortlosen Begegnung mit Sam beinahe von einem Lastwagen überfahren wird. Dann kommt es zu einer Verabredung auf dem Empire State Building, die Jonah alleine wahrnimmt, während sein Vater dem ausgebüchsten Jungen hinterherfliegt. Aber wird auch Annie kommen, die gerade mit ihrem zukünftigen Ehemann in einem Restaurant in Sichtweite des Empire State Buildings speist?

Rezension

Wie ist die Besetzung? Tom Hanks und sein Filmsohn Ross Malinger sorgen dafür, dass das Ganze nicht noch kitischiger wird, als der Plot es eh macht, die beiden sind wirklich ein zauberhaftes Gespann. Über Meg Ryan muss man nicht viel schreiben, sie passt in einen solchen Film wie kiloweise süße Schokolade zum Angucken eines solchen Films. In „Harry und Sally“ war sie witziger, versteht sich, aber fünf Jahre später hat sie auch optisch eine beinahe engelhafte Erscheinung angenommen. Auf uns wirkt sie als Typ doch einen Tick zu soft, zumindest in diesem Film, aber für den guten Sam ist sie perfekt.

Denn Sam, so sagt die Moderatorin der Radiosendung, hatte schon einmal eine große Liebe und die Chance, sich wieder zu verlieren und eine dauerhafte Beziehung einzugehen, ist sehr groß. Ist sie tatsächlich, denn Menschen, die sozial fähig sind und früh ihre Partner verloren haben, sind Hauptgewinne für alle Singles, die etwas über Empathie hinzulernen möchten. Ob die Kombination klappt, hängt vom Einzelfall ab. Die Kombination zwischen dem Witwer Sam und der jungen Annie klappt jedenfalls. Allerdings hat auch dieser Film, wie fast jeder etwas, worüber man sich ein wenig ärgern darf.

Was ist ärgerlich? Wenn man schon mi Zeitalter der beginnenden PC einen so konservativen und auf der sicheren Seite wandelnden Film macht (abgesehen davon, dass Jonah mehr über Sex weiß, als für einen Jungen seines Alters vielleicht gut ist), dann sollte man Allergiker nicht so diskriminieren. Dass Walter, Annies Beinahe-Ehemann langweilig ist, das kann man ruhig zeigen, aber die Entscheidung gegen ihn unterschwellig auf seine Allergien zu stützen, ist plump. Wer weiß, was da mit Nora Ephrom, der Regisseurin durchgegangen ist, die das Drehbuch für „Harry und Sally“ geschrieben und später den zweiten Hanks-Ryan-Film „E-Mail für dich“ inszeniert hat. Aber abgesehen von dieser Minderheit, die hier für die Hälfte der wenigen witzigen Szenen herhalten muss, ist der Film ganz auf Breite angelegt. Auf ein breitestmögliches Publikum. Dass das heute nicht mehr ganz so funktioniert, hat uns ein bisschen erstaunt.

Wie ist die heutige Rezeption? In der IMDb haben fast 100.000 Nutzer (Stand Mai 2014) bzw. 180.000 Nutzer:innen (Stand Ende 2022) ihr Votum für den Film abgegeben und, man glaubt es kaum, „Schlaflos in Seattle“ ist ein Frauenfilm. Besonders unsere Empathie-Referenzgruppe, Frauen über 45 Jahre, mag ihn. Allerdings nur mit 7,2/10, der Durchschnitt über alle Altersklassen und bei wertenden Nutzern der IMDb beiderlei Geschlechts liegt er nur bei 6,8/10 (keine Veränderung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Rezension im Jahr 2022). Das ist weniger, als wir vermutet hatten. Wir hätten eher mit etwa 7,5/10 für einen der erfolgreichsten Romantik-Filme der romantischen 1990er Jahre gerechnet.

„Schlaflos in Seattle“ hat offenbar etwas von seiner Wirkung verloren. Und wenn man, wie wir die Rezension einen Tag nach dem Anschauen schreibt und nicht direkt im Anschluss, kann man das nachvollziehen. Es ist typisches Hollywood-Märchenkino für Menschen mittleren Alters oder knapp darüber, die nicht so richtig erwachsen werden wollen. Oder die an etwas glauben, für das wir zwanzig, dreißig Jahre später vielleicht zu zynisch geworden sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass jede ironische Brechung fehlt und der Film sich ganz offen auf eine weitere Romanze bezieht, „Die große Liebe meines Lebens“ aus 1957 mit Cary Grant und Deborah Kerr. Wir sind ja nun wirklich Grant-Fans, aber nie zuvor und nie danach wieder hat er in einem solchen Rührstück gespielt. Und das hat er nicht einmal schlecht gemacht. Deborah Kerr war sowieso eher für Melodramen gebucht („Verdammt in alle Ewigkeit“, 1953), ihr Part einer Frau, die beim Weg zum Treffen der beiden auf dem Empire State Building angefahren wird und dann dauerhaft gehandicapt ist, geht noch etwas über das hinaus, was wir in „Schlaflos in Seattle“ sehen. Aber: Der Grant-Kerr-Film von 1957 ist den Nutzern der IMDb heute noch 7,6/10 wert, also das, was wir „Schlaflos in Seattle“ zugerechnet hätten.

Vielleicht liegt es daran, dass die 1950er die Zeit der echten großen Melodramen waren, in denen das Schicksal dermaßen mächtig aus dem Film noir emporstieg und andere Genres okkupierte, dass einen schwindelig werden konnte angesichts so viel Bestimmung und der kompletten Negation des Zufalls. Es gibt auch heute viele Leute, die daran glauben, dass es keine Zufälle gibt. Man kann daran glauben, dass alles einen Sinn hat, vielleicht, weil jede Erfahrung uns weiterbringen kann, aber dass Menschen füreinander bestimmt sind und nur darauf warten, zusammengeführt zu werden, ist eben doch eine Konstruktion für diejenigen unter uns, die eben noch nicht so abgenervt von der ewigen und offenbar schicksalhaften Naivität dieser Spezies sind, der wir angehören.

Kann man dem Film nicht auch etwas abgewinnen, wenn man sonst eher nüchtern veranlagt ist? Man darf nicht komplett dröge sein, das geht einfach nicht. Es gibt Typen, und das sind, wie wir in der IMDb sehen, gar nicht so wenige, die mit dieser Gefühlsduselei nicht viel anfangen können. Bezeichnenderweise werten Männer zwischen 30 und 44, also die Gruppe, der Sam angehört, am schlechstesten (6,5/10). Vielleicht eben, weil das Leben gerade dieser Gruppe zeigt, dass es meist nicht läuft wie bei Sam. Wir sind ja nicht so einheitlich und ohne die Fähigkeit zu Emotionen kann oder sollte man nicht über Filme schreiben, denn das heutige Mainstreamkino nur intellektuell zu erfassen, würde dazu führen, es als komplett lächerlich zu deklarieren.

Gerade, weil wir uns immer wieder mit allem auseinandersetzen, was so in der Welt schief läuft und warum das so ist, wünschen wir uns doch oder gerade deswegen, weil es eines Wunders bedarf, um diese fatalen Muster zu ändern, es könnte ein Wunder geben. Dass wir zueinander finden oder uns endlich in die wichtigen Dinge einfühlen können, dass eine mächtige, reine Liebe möglich ist und man von vornherein weiß, dass sie sogar über den Tod hinaus wirkt, wie bei Sam, dem seine Frau Maggie auch in Seattle noch erscheint. Da ist es das Mindeste, dass es eineinhalb Jahre dauert, bis er Annie kennenlernen darf. Fast ein zu kurzer Zeitraum, bei diesem großen Gefühl. In der Wirklichkeit ist es erstaunlich, wie knapp nach langjährigen Beziehungen sich Leute wieder auf die Suche machen, weil sie nicht allein sein können.

Sam hat mit dem Alleinsein auch Probleme, aber sein Sohn missinterpretiert den Grund – nämlich, dass Sam seine Frau nicht vergessen kann. Jonah denkt, seinem Vater fehlt eine neue Frau, Kinder erholen sich von psychischen Schocks eben schneller, wie wir daran sehen, dass Sam seinem Vater sagt, er vergesse seine Mutter allmählich. Das ist nicht etwa unfair, sondern ein Selbstschutz, den gerade ein gesundes Kind besitzt, um sich nach dem plötzlichen Verlust eines Elternteils weiterentwickeln und nach vorne, in eine noch sehr lange und interessante Zukunft schauen zu können. Wer, wenn nicht Kinder, sollte von Grund auf vorwärts orientiert sein? Deswegen ist Sam auch beinahe schockiert, als Jonah mit Jessica anbandelt, einem Mädchen seines Alters, nachdem er kurz zuvor noch recht traurig ist, auch, weil die Sache mit seinem Vater und der Telefonanbahnung nicht so richtig in Schwung kommt. Da staunt Sam nicht schlecht, wie schnell das Leben weitergehen kann. Sein Sohn macht ihm also vor, wie es laufen sollte. Jemand Neues zu finden, heißt nicht, den Platz komplett freizugeben, den eine geliebte Person innehat, die gegangen ist. Eine anderer Aspekt ist in diesem Film auch wichtig.

Die Anbahnung aus der Ferne? Damals lief es noch per Brief, aber wie Annie Infos über Sam aus dem Computer zieht, das gemahnt an Things to come. Wenn man sich übers Telefon verlieben kann, und diesem Gedanken folgt der Film, dann natürlich auch über E-Mails, wie wir wenige Jahre später von Hanks und Ryan vorgeführt bekommen. Und wenn  man sich geschrieben hat und dann telefoniert, kann es durchaus schon zu Gefühlen kommen, ohne dass man einander je in die Augen geblickt hat. Und da sind wir an einem Punkt, an dem sich manches scheidet: Wenn das so ist, dann hat das nicht unbedingt etwas mit Bestimmung zu tun, aber viel mit Emotionen, die jenseits der Ratio liegen. Im Film wie im Leben ist die Chance nämlich 90 Prozent, dass aus einer solchen Anbahnung doch nicht die tolle Beziehung fürs Leben oder für lange Zeit wird, und das kann schmerzlich sein. Der Film negiert diese Gefahr zwar nicht komplett, lässt sie aber zu einer Quantité néglieable schrumpfen und suggeriert uns: Wie gehört, so gesehen. Schön, wenn das wirklich gleich beim ersten Anlauf funktioniert.

Im Jahr der Veröffentlichung dieser Rezension wird man möglicherweise zwischen Nachrichten und Telefonate und vor das Live-Treffen, gerade, wenn man weit voneinander entfernt wohnt, einen Videochat schalten, wenn man sich einerseits traut und andererseits dem Prinzip Überraschung nicht sehr vertraut.

Finale

Übers Formale muss man nicht viel diskutieren, die Bebilderung entspricht der romantischen Stimmung des Films, alles ist weich gefilmt und manchmal auch nächtlich, vor allem, wenn es um Einsamkeitsmomente geht, die Handlung läuft in einer sicheren Spur, ohne irgendwen zu überfordern. Wenn man dem Film etwas abgewinnen kann, dann ist es bitte nicht, irgendwo da draußen nach der einen großen Liebe zu suchen und alle Gelegenheiten des Lebens dafür sausen zu lassen, ist es nicht, einem Ideal nachzuhängen, das für die meisten von uns unerreichbar sein dürfte, sondern sich an den Computer zu setzen und zu schauen, was die Welt bietet. Das ist zeitgemäß und treffsicherer als sich in einem einsamen Dorf an die einzige Haltestelle zu setzen und darauf zu warten, dass zum Beispiel Meg Ryan aus dem Überlandbus steigt. Großstädte haben außerdem den Vorteil, dass es für jeden jemanden gibt, der ähnliche Interessen und Gewohnheiten hat und mit dem die Chemie stimmt.

Gerade Menschen wie Sam, der sich nicht in der Beziehung auseinandergelebt hat, sondern unsanft herausgerissen wurde, werden in der Realität vermutlich beherzt und mit einem sicheren Gefühl für sich selbst zu Werke gehen, um aus der emotionalen Stärke einer schönen Vergangenheit heraus die Zuversicht für die Zukunft zu gewinnen und einen neuen Partner.

75/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Regie Nora Ephron
Drehbuch Nora Ephron,
David S. Ward,
Jeff Arch
Produktion Gary Foster
Musik Marc Shaiman,
Harry Ruby
Kamera Sven Nykvist
Schnitt Robert M. Reitano
Besetzung

 

 

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