Sugarland Express (The Sugarland Express, USA 1974) #Filmfest 809

Filmfest 809 Cinema

Ein modern-archetypisches Roadmovie

Sugarland Express ist ein US-amerikanischer Kriminalfilm von Steven Spielberg aus dem Jahr 1974.

„Sugarland Express“ ist nicht Steven Spielbergs erster Film, die Ehre gebührt „Duel“ (1971), er gilt aber als sein erster Kinofilm, weil „Duel“ zunächst nur fürs Fernsehen gedreht wurde. Schon in diesem TV-Movie aber bewies Spielberg ein großes Herz für Road-Action und eins kann man „Duell“ (deutscher Titel bis auf Schreibweise des Wortes im Deutschen identisch) attestieren: So konzentriert und spannend hat es kaum jemand je wieder hinbekommen, amerikanische Landstraßen zu Orten des Schreckens zu machen – nicht aus ihrer ureigenen Funktion, aus dem reinen Fahrgeschehen heraus jedenfalls. Wie sieht es drei Jahre nach diesem epochalen Startfilm aus? Dies und mehr klären wir in der –> Rezension.

Handlung (1)

Die arbeitslose Kosmetikerin Lou Jean Poplin verhilft ihrem Mann Clovis Michael Poplin zur Flucht aus dem Gefängnis. Sie will ihren kleinen Sohn Langston zurückbekommen, den man ihr weggenommen hat und der nun bei Pflegeeltern in Sugarland, Texas, lebt. Auf der Flucht nehmen die beiden jungen Kleinkriminellen den Polizisten Maxwell Slide als Geisel. Nun gelten sie als gewalttätige Kidnapper und werden von der Polizei unter der Führung des besonnenen Captain Tanner gejagt. Sie werden durch ganz Texas von einer Karawane aus Polizei und Reportern verfolgt. Maxwell entwickelt zunehmend Verständnis und Freundschaft für die beiden. Es gelingt ihm aber nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Durch die mediale Begleitung der Flucht kommen immer mehr Schaulustige an die Strecke, die den Gejagten Mut zusprechen.

Als sie endlich ihr Ziel – das Haus der Pflegeeltern – erreichen, warten dort Scharfschützen auf das Paar, während die Wohngegend geräumt ist. Maxwell warnt, dass es eine Falle sei und die beiden sterben könnten. Lou Jean schreit allerdings hysterisch, dass sie ihren Sohn sehen will. Schließlich geht Clovis zum Haus und wird schwer angeschossen. Die drei flüchten mit dem Auto Richtung Mexiko. Als sie am Grenzfluss steckenbleiben, werden sie von der Polizei umstellt. Clovis stirbt.  

Rezension 

Selbstverständlich ist auch „Sugarland Express“ ein Roadmovie, ein besonders roadiges sogar, in dem die Reise durch Texas beinahe von Beginn an im Mittelpunkt steht. Dass die amerikanische Wikipedia es auch als einen Neo-noir bezeichnet, hat uns verblüfft, obwohl mit dem Begriff, wie auch mit dem des klassischen Films noir, ziemlich freizügig umgegangen wird. Der Film findet sich aber nicht auf weit gefassten Liste der Neo-noirs, welche die englischsprachige Wikipedia bereithält und ist auch in keinem unserer Bücher über den Film noir (inklusive neo-noir) verzeichnet. Was Steven Spielberg wohl zu dieser Einordnung sagen würde?

In der Tat hat „Sugarland Express“ aber einige Elemente, die auch für den Film noir kennzeichnend sind: Da gibt es ein junges Paar, das sind Antihelden, ziemlich planlose Leute, die sich auf einen gefährlichen Weg begeben, der nach allen, besonders aber nach amerikanischen Maßstäben von Recht und Gesetz niemals gut gehen kann. Das böse Ende ist schon zu Beginn klar. Oder doch nicht?

In den 1970ern kamen mehr und mehr Filme auf, in denen Verbrecher auch davonkommen durften, schon 1967 war das mit „The Thomas Crown Affair“ geradezu prototypisch in die Kinos gebracht worden, wenn auch in einem anderen Milieu als dem, in dem „Sugarland Express“ spielt und damit ein wenig mehr jenseits der für die Normalbevölkerung geltenden Gesetze. Voraussetzung ist und bleibt aber vorerst: Der Gesetzesbrecher tötet niemanden und ist irgendwie ein cooler oder sympathischer Typ. Die beiden jungen Leute, die wir in „Sugarland Express“ sehen, fahren auf letzterer Schiene. Sie freunden sich mit dem Highway-Polizisten an, den sie entführen, sie wirken wie Benachteiligte, die ein kleines Stück vom Glück suchen, mit aller Macht und Energie, die sie zweifelsohne besitzen – besonders die ziemlich einfach gestrickte Lou Jean, die schließlich ihren Mann  in Gefahr bringt und dessen Tod verursacht.

Spielberg beherrscht hier schon alles, was ihm bald zu seinen Mega-Erfolgen verhelfen soll: Auf äußerst versierte Weise erreicht er die Identifikation der Kinozuschauer: Underdogs, keine Verbrecher, gegen eine riesige Armee von tatsächlich oder angemaßt zur Verfolgung Berechtigten. Muttergefühle für die Frauen, Kumpelgefühle für die Männer. Zusätzlich, sehr raffiniert: Eher traditionelle Männer, die sich schwertun damit, Gesetzesbrecher toll zu finden, werden über einen Umweg eingefangen: Da Lou Jean immer mal wieder durchdreht und ihr Mann der Besonnene ist und sie ihn, weil sie nicht wahrhaben will, dass sie in eine Falle gegangen sind, ins Verderben schickt, können sich noch ein Bierchen aufmachen und zum benachbarten Couch-Potato sagen: Typisch Frau!

Steven Spielberg ist einer der spekulativsten Filmemacher überhaupt und die Mechanismen, die er in seine Werke einbaut, um maximale Identifikation zu erreichen, wirken in jedem Genre ähnlich – wenngleich er sich in der Folge und trotz eines beachtlichen Einspielergebnisses für „Sugarland Express“ nicht mehr an einem solchen Roadmovie mit Herz für Kleinkriminelle versucht hat. Es lag wohl daran, dass er Größeres im Sinn hatte, im Jahr darauf mit „Der weiße Hai“ seinen ersten Mega-Blockbuster landete und den Haien ein verdammt schwieriges Image bescherte.

Bei aller erkennbaren Manipulation, die bei Spielberg gerne etwas über das hinausgeht, was man für Erwachsene abfilmen sollte, ist der Film und sind seine Figuren sympathisch. Auch Polizeichef Thanner, der versucht, die Sache so unblutig blutig wie möglich abzuwickeln, wird bis zu einem gewissen Punkt Teil des Komplotts, das Spielberg zwischen den Zuschauern und den Akteuren schmiedet. Hingegen werden, ganz im Stil der frühen 1970er, Privaträcher, Texas-Waffenfans, als mies und dumm gleichermaßen gezeigt. Wir erinnern daran, dass von 1967 bis 1976 die Todesstrafe in den USA per Moratorium ausgesetzt war. Man mag’s heute kaum glauben, wo allein in Texas, in dem diese echt texanische Geschichte spielt, 276 Menschen in Gefängnissen auf ihre Hinrichtung warten (Stand 1. Januar 2015). Nur im 1974 noch wabernden Geist von Love and Peace ist auch zu verstehen, dass Chief Thanner so bedachtsam vorgeht und sogar seine Scharfschützen erst einmal zurückzieht, weil sie nur eine 90%ige Erfolgsschance versprechen können, dass sie das Ehepaar Poplin erschießen können, ohne den Polizisten Maxwell zu treffen. Am Ende aber verrät Thanner die Absprache mit den Flüchtigen und postiert die Scharfschützen im Haus der Pflegeeltern, das Kind und dieses Ehepaar sind derweil längst woanders untergebracht.

Lou Jean überlebt und darf sogar ihr Kind behalten. Ob das in dem der Handlung zugrunde liegenden realen Fall aus 1969 auch so war, wissen wir nicht. Noch ein Spielberg-Trick gefällig? Das Pflege-Ehepaar wird so alt dargestellt, dass es jeden gruselt, der sich vorstellt, dass Baby Langston garantiert seine Volljährigkeit nicht mehr mit seinem Ziehvater feiern kann. In der Realität würden solchermaßen betagte Leute niemals ein Pflegekind bekommen, das gerade dem Säuglingsalter entwachsen ist und das nach seiner echten Mutter weint. Deren Vater dürfen wir auch kurz erleben, als einen finsteren und bigotten Typ, der seine Tochter mehr oder weniger zur Hölle wünscht. Noch ein Punkt für die Identifikation. Der Moment, was sagt er den jungen Leuten denn nun in den Polizeifunk?, ist aber einer der wenigen richtig spannenden in diesem Film. Weil es so selten vorkommt, erwähnen wir auch, dass er optisch gut gecastet wurde, er könnte der Physiognomie nach wirklich Goldie Hawns Vater sein. Nein, eher ihr Großvater, auch den Mann hat man absichtlich viel zu alt gewählt, um den Kontrast zu den jungen Freiheitssuchern und Lebenshungrigen zu verstärken.

Finale

Sicherlich ist „Sugarland Express“ nicht Steven Spielbergs Meisterwerk. Wie man schon in jungen Jahren ein untrügliches Gespür für die Mechanismen Hollywoods und der US-amerikanischen Gesellschaft hat, inklusive der Klaviatur gängiger Klischees, die man variieren oder durchbrechen kann, beweist er hier aber schon eindrucksvoll. Nicht ohne einige Momente zu zeigen, die man ironisch verstehen kann, wenn man will, aber nicht muss: Etwa, wie der Zug der Polizeiwagen hinter dem Fluchtauto immer mehr zum Happening ausartet und die Poplins wie Popstars gefeiert werden. Roger Ebert schrieb dazu in seiner Kritik: „So funktioniert prominent sein in Amerika, egal, was jemand getan hat, um prominent zu werden“.

Alles in allem ist es ein sympathischer Film, der trotz des blutigen Endes von Mr. Poplin eine eigenartige Wärme und Anziehung ausstrahlt – und natürlich etwas für Fans des großen Blechschadens ist. Selbst die Faszination für Autos konnte Spielberg integrieren. Dass diese zu sehr im Mittelpunkt stünden, wurde in zeitgenössischen Kritiken zuweilen moniert (u. a. vom oben zitierten Roger Ebert). Wenn man den Film aber von heute aus betrachtet und sich anguckt, wohin sich das US-Mainstream-Kino entwickelt hat, und „Sugarland-Express“ zielt ja durchaus in Richtung des späteren Action-Kinos, kann man das so sehen: Wir sind richtig froh, dass den Charakteren ein großer Teil der Aufmerksamkeit geschenkt wird.

75/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Regie Steven Spielberg
Drehbuch Steven Spielberg,
Hal Barwood,
Matthew Robbins
Produktion David Brown,
Richard D. Zanuck
für Universal Pictures
Musik John Williams
Kamera Vilmos Zsigmond
Schnitt Edward M. Abroms
Besetzung

 

 

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