Frontpage | Demokratie in Gefahr | 7 Länder, 6.000 Jugendliche und junge Erwachsene wurden befragt
Grundsätzlich sind wir vorsichtig, wenn Konzernstiftungen, wie diejenige von Bertelsmann oder der TUI, es sich zur Aufgabe machen, die politische Meinungsbildung zu beeinflussen. Die Agenda dieser Unternehmungen bestimmt zu sehr darüber, wie Fragen gestellt und ausgewertet werden. Doch so positiv sind die aktuellen Ergebnisse, die wir im Folgenden anhand einer Statista-Grafik referieren, nicht, dass sie eine allzu große Beschönigung der Verhältnisse darstellen dürften.
Unser heutiger Info-Artikel befasst sich damit, wie Jugendliche und junge Erwachsene in sieben europäischen Ländern über die Demokratie und damit über die Staatsform denken, in der sie leben und die ihr tägliches Leben bestimmt.
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Nur rund 58 Prozent der europäischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen halten Demokratie für die beste Staatsform. Das geht aus der diesjährigen Ausgabe Jugendstudie der TUI Stiftung hervor. Wie unsere Grafik zeigt, schätzt ein Großteil der Befragten Demokratie dennoch als wichtig für persönliche Freiheit, politische Teilhabe und Unabhängigkeit ein.
56 Prozent der Befragten zwischen 16 und 26 Jahren sahen beispielsweise Meinungs- und Pressefreiheit als größte Stärke der Demokratie, 55 hielten die Teilhabe an politischen Prozessen für einen der wichtigsten Vorteile der Staatsform. Auf der anderen Seite bemängelten die Umfrageteilnehmer:innen korrupte Politiker:innen (45 Prozent) und die zu langsame Reaktionsfähigkeit von Regierungsorganen (42 Prozent) in der Demokratie. Diese Negativpunkte finden sich auch in den größten Sorgen junger Europäer:innen wieder. Die im EU-Parlament verabschiedete teilweise Einstufung von Gas und Atomkraft als „grüne“ Energieträger beispielsweise dürfte die Einschätzung der Umfrageteilnehmer:innen weiter befeuern, dass Umwelt- und Klimaschutz zusammen mit Migration und Asyl von 30 Prozent der Befragten das größte Problem auf EU-Ebene darstellt.
In der TUI Jugendstudie werden jährlich rund 6.000 junge Menschen aus sechs EU-Ländern und dem Vereinigten Königreich zu politischen und gesellschaftlichen Themen rund um den europäischen Diskurs befragt. Die beauftragende TUI Stiftung ist eine Initiative des Reiseveranstalters TUI, ist allerdings laut eigenen Angaben unabhängig und der Stärkung des Europagedankens verpflichtet.
Der Stärkung eines bestimmten Gedankens verpflichtet zu sein, ist nicht „unabhängig“. Insofern bestätigt der Text von Statista das eingangs von uns Gesagte: Es besteht eine Agenda, die u. E. die Gefahr erzeugt, die Ergebnisoffenheit zu beeinträchtigen, die ein selbstverständlicher wissenschaftlicher Standard sein sollte.
Unsere häufigeren Leser wissen, dass wir eine Rubrik namens „Demokratie in Gefahr“ führen, in der genau das zur Sprache kommt, was nach Ansicht der jungen Menschen gemäß der TUI-Studie das größte Problem der westlichen Demokratien ist: Dass der Lobbyismus viel zu sehr über das Handeln von Politikern bestimmt. Dass Entscheidungen gegen das Gemeinwohl getroffen werden, folgt daraus, wird aber nicht von allen als direkte Konsequenz wahrgenommen, die sich über den Lobbyismus beklagen.
Wir finden es alarmierend, dass das Kernstück der Demokratie, die Meinungs- und Pressefreiheit, nur von 11 Prozent mehr der jungen Menschen als deren größte Stärke eingeschätzt wird, als Befragte sich über den Lobbyismus beklagen. Es ist angekommen bei vielen Menschen, dass eine Deomkratie eine fragwürdige Staatsform ist, wenn man zwar seine Meinung sagen darf, sie aber nichts wert ist. Diktaturen machen insofern einen großen Fehler, der die tatsächlichen Skills und Fehler von Regierungsformen vernebelt: Man darf seine Meinung nicht frei äußern, also wird ein erhebliches Maß an Unfreiheit konstatiert, auf das die Demokratien sehr gerne mit dem Finger zeigen. Der Clou ist jedoch, Meinungsfreiheit zuzulassen und trotzdem nur das zu zuzulassen, was mächtigen Interessenclustern dient, deren Vertreter:innen eben nicht demokratisch gewählt sind.
Deswegen wäre es eine riesige Dummheit, den Wettstreit der Meinungen immer weiter einzuschränken und damit allzu sehr das offensichtlich zu machen, was faktisch längst der Fall ist: Nicht die Bürger:innen bestimmen mit ihrem Wahlverhalten den Gang der Dinge, sondern diejenigen, die sich Politiker:innen auf die eine oder andere Weise kaufen, gefügig machen, an sich binden können, weil sie die Mittel dazu haben. Es ist zwar kein Gegensatzpaar, aber sehr sinnbildlich, wenn 55 Prozent die politische Teilhabe als eine Stärke der Demokratie ansehen, aber 45 Prozent den Lobbyismus kritisieren.
Wo dieser die Politik dominiert, kann es gar keine echte Teilhabe der Bevölkerung geben und viele Fehler der Politik folgen daraus, weil es sich um Partikularinteressen handelt, die außerdem nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Die Entwicklung in diese Richtung hat unter der abgelösten CDU/SPD-Regierung mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze beängstigende Ausmaße angenommen. Jeder Schritt hin zu mehr Transparenz und politischer Compliance muss von NGOen hart erkämpft werden und wird sogleich vielfach unterlaufen, wenn einmal ein kleiner Schritt erreicht ist. Diese Initiativen sind ebenfalls keine gewählten Institutionen sind, sondern Initiativen, die sich als Gegengewicht zu den dominierenden Wirtschaftsinteressen sehen, die die Politik beherrschen.
Immerhin kommen sie aus der Zivilgesellschaft und machen auf das aufmerksam, was mehr über unser Leben bestimmt, als viele wohl immer noch denken: Was mächtige Lobbyist:innen sagen, das wird gemacht, und zwar während der Merkel-Kanzlerschaft auf eine Weise, die uns jetzt auf den Kopf fällt, wie die Energiemisere belegt, die es unmöglich macht, in einem Krieg mitten in Europa Flagge zu zeigen, ohne dem eigenen Land bzw. seiner Bevölkerung mehr zu schaden als dem Aggressor in diesem Krieg.
Das ist aber längst nicht alles. Auch die Probleme der Finanzkrise von 2008 sind nie aufgearbeitet worden und schränken derzeit die Handlungsspielräume der Staaten in der Inflationskrise ein. Seit mehreren Jahren weisen wir darauf hin, aber die EZB hat bis jetzt mit einer von uns nicht für möglich gehaltenen, beispiellos expansiven Geldpolitik, die gleichzeitig die Menschen verarmen lässt, verhindert, dass es zulasten unzähliger Zombie-Unternehmen und auch mancher Staaten kracht.
Dafür wird es umso heftiger knallen, wenn es so weit ist. Auf diesem Feld hat man, anstatt reinen Tisch zu machen, dafür gesorgt, dass die Finanzwirtschaft mehr oder weniger weitermachen kann wie bisher, besser sogar: Noch mehr gepampert mit billigem Kapital, das sich gegen die Interessen der Mehrheit richtet und Superreiche noch reicher macht.
Vielleicht ist es ein Glück, dass die Jugend heutzutage mehrheitlich nicht politisiert ist. Ein Glück für die Demokratie und die Politiker. Nicht für uns, die sich viel mehr Einsicht und Durchdringung politischer Themen von jungen Menschen wünschen, damit der Protest noch lauter wird. Vermutlich wird das erst kommen, wenn neben den Angehörigen von FFF weitere Gruppen merken, dass etwas faul ist in Staaten, in denen es einfach nicht vorangeht mit der Politik für eine gute Zukunft. Zum Beispiel, wenn der Wohlstand aufgebraucht ist, den die Eltern und Großeltern in Zeiten aufgebaut hatten, als Teilhabe nicht so verbal hochgehängt wurde, aber mehr gewährleistet war als heute. Politische Angebote waren unterscheidbarer als das, was wir mittlerweile fast deckungsgleich von allen im Bundestag vertretenen Parteien vorgesetzt bekommen. Laut dem britischen Political Compass, der alle Ideologien abbildet, befinden sich alle deutschen Parteien in einem einzigen Viertel des gesamten Spektrums, und das ist das rechte und autoritäre Viertel. Das sagt einiges darüber aus, woran es fehlt. Auch daran, dass Menschen überhaupt noch wissen, wie echte Alternativen aussehen könnten. Das ist das Ergebnis einer vollkommen einseitig ausgerichteten „politischen Bildung“ oder schlicht von Desinteresse, dessen Gründe man nicht lange suchen muss. Wäre das politische Angebot ein Kaufhaus, wären die Konsumenten längst wegen mangelnder Auswahl auf die Barrikaden gegangen und hätten es als Ausdruck einer Mangelwirtschaft identifiziert.
Eine Demokratie, die von einem Mangel an echten Alternativen gekennzeichnet ist, weil sowieso die Wirtschaft sagt, wo es langgeht, wird von manchen als Fassadendemokratie bezeichnet. Insofern ist das Welt-Demokratieranking auch fragwürdig, das nach unserer Ansicht noch viel zu viele Staaten als sogenannte vollkommene Demokratien ausweist. Das wird den Diktaturen nicht gerecht, die insofern ehrlicher sind, als ihre Machthaber gar nicht erst suggerieren, die Bevölkerung dürfe mitreden. Möglicherweise ist die Bevölkerung aber zufriedener mit den raschen und strategisch zumindest auf den ersten Blick weiseren Entscheidungen ihrer Politik ohne diese Suggestion von Teilhabe. Demokratie ist Kampf, Konfrontation, Konsens und basiert auf Respekt und der Motivation, etwas verbessern zu wollen. Wählen gehen reicht nicht. Wir hoffen, dass immer mehr Menschen das erkennen und die Werte mit Leben füllen, die eine Demokratie spannend und reizvoll machen. Auch sich an einer Umfrage zu beteiligen, reicht nicht. Darüber schreiben ist das Mindeste und manchmal besser, als „in die Politik zu gehen“ und dort von Jahr zu Jahr mehr und mehr nur die eigene Karriere im Blick zu haben.
TH