Filmfest 818 Cinema
Die Wendeltreppe (The Spiral Staircase) ist ein US-amerikanischer Thriller von Robert Siodmak aus dem Jahr 1946 mit Dorothy McGuire in der Hauptrolle. Er basiert auf dem Roman Helen oder Die Wendeltreppe (Some Must Watch, auch: The Spiral Staircase) von Ethel Lina White, in dem die Heldin allerdings nicht stumm ist und auch sonst keine Behinderung hat.
Düster ist es auf der Treppe, die in den Keller führt. Erst recht im Keller selbst. Die Gasbeleuchtung so weit abwärts zu installieren, darauf kam im Jahr 1916 niemand. Der Keller ist ein Symbol für die kellergroßen Abgründe der menschlichen Seele. Der Film ist vom deutschen Expressionismus beeinflusst, denn der Regisseur Robert Siodmak gehörte zu den zahlreichen Emigranten, die den Hollywood-Stil der 1940er in erheblichem Maße prägten. Mehr zu „Die Wendeltreppe“ finden Sie in der –> Rezension.
Handlung1
Neuengland im Jahr 1916: In einem kleinen Ort geht ein Serienmörder um, dessen Opfer stets behinderte junge Frauen sind. Auf einem alten Landsitz arbeitet die stumme Helen für die bettlägerige Witwe Mrs. Warren. Im Haushalt leben außerdem: Professor Albert Warren, der Stiefsohn von Mrs. Warren, und sein leichtlebiger Halbbruder Steve, der leibliche Sohn von Mrs. Warren; die Sekretärin Blanche, die Krankenschwester von Mrs. Warren, und das Haushälterehepaar Oates. Mrs. Warren ist sehr besorgt um Helen aufgrund des Mörders und drängt sie, das Haus zu verlassen.
Der freundliche junge Hausarzt Dr. Parry, der den Grund für Helens Stimmverlust kennt – als Kind wurde sie Zeugin, wie ihre Eltern verbrannten –, rät Helen ebenfalls zum Weggang und hofft, dass bei einem Arzt in Boston ihre dissoziative Dysphonie geheilt werden kann. Zwischen Dr. Parry und Helen entsteht eine zaghafte Romanze, doch sie ist von der Angst geplagt, dass sie ihrer Stummheit wegen seiner nicht würdig ist.
Nach und nach leert sich aufgrund verschiedener Umstände das Haus, in dem nur Mrs. Warren und ihre Söhne, Helen und Blanche sowie die Haushälterin zurückbleiben; Letztere betrinkt sich und schläft ein. Während ein Gewitter tobt, wird Blanche im Keller, am Ende der titelgebenden Wendeltreppe, ermordet. Helen sperrt Steve ein, den sie für den Mörder hält, da der mit der Sekretärin eine Affäre hatte.
Plötzlich steht Helen allein Professor Warren gegenüber, der sich als der wahre Täter offenbart. Er möchte die Welt von allem Schwachen befreien, um sich und seinem verstorbenen Vater – der ihn stets für einen Schwächling gehalten hatte – seine eigene Stärke zu beweisen. Blanche wurde von ihm ermordet, da Albert eifersüchtig auf ihre Beziehung mit Steve war. Es kommt zum Kampf, bis Mrs. Warren oben an der Treppe mit einem Revolver erscheint und mit letzter Kraft Albert erschießt. Sie hatte schon lange vermutet, dass einer ihrer Söhne hinter den Morden steckt. Anschließend erleidet Mrs. Warren einen Schwächeanfall. Helen geht zum Telefon, gewinnt ihre Stimme wieder und ruft bei Dr. Parry um Hilfe an.
Rezension
Trotz seiner Licht- und Schattengestaltung und seiner teilweise ausgezeichnet gewählten Kameraperspektiven, unter anderem ein Topshot auf die Wendeltreppe, wenn Helen langsam hinuntergeht, und der wunderbar düsteren Atmosphäre wird „Die Wendeltreppe“ wenigstens in der Wiki-Einleitung nicht dem Genre Film noir zugeordnet. Andere tun das, aber ihnen muss widersprochen werden.2 Nicht alles, was im Stil eines Film noir gedreht wurde, ist ein Film noir. „Die Wendeltreppe“ beinhaltet nicht: Die schicksalhafte Verstrickung, den Antihelden (oder, seltener, die Antiheldin), die Femme fatale, das Bad Ending. Es handelt sich, wie eingangs richtig erwähnt, um einen Thriller, und zwar um einen, der beachtliche Spannung aufbaut.
„Meisterhafter Psychothriller, auch schauspielerisch sehr intensiv.“ – Lexikon des internationalen Films[3]
Äußerst effektvoller Gruselkrimi, hart an der Grenze des Erträglichen. (Für Erwachsene, mit Vorbehalten.)“ – 6000 Filme[6]
„Der schon zum Klassiker gewordene Thriller […] um den versuchten Mord an einem stummen Mädchen in einem herrschaftlichen Landhaus. Empfehlenswert nicht nur für erwachsene Freunde des gekonnten Kriminalfilms – in ihm steckt mehr.“ – Evangelischer Filmbeobachter[7]
Wenn die kirchliche Filmkritik positiv wertet, schaue ich immer etwas genauer hin. Das hat im Jahr 1948 auch der Spiegel getan:
„Die Stumme – Dorothy McGuire stellt sie hinreißend dar – lernt vor Angst und Pein wieder sprechen und führt sogar ein Telephongespräch. Damit reiht sich der Film in die lange Kette der psychotherapeutischen Gewaltkuren, die seit dem ‚Letzten Schleier‘ in letzter Zeit zu sehen waren. […] Aber auf den Schluß zu häufen sich die Schrecken allzusehr. Wer auszog, das Gruseln zu lernen, kommt womöglich lachend nach Hause.“ – Der Spiegel[5]
So sehr hat sich bei mir die Stimmung nicht gedreht. Aber in gewisser Weise muss ich dem Spiegel zustimmen: Die letzten fünf bis zehn Minuten sind zu hastig gefilmt. Wenn die Spannung schon so grandios aufgebaut wird, könnte man sie noch etwas auf der Höhe halten, um dann umso zielsicherer die Auflösung zu inszenieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Robert Siodmak gehalten war, nur 80 anstatt möglicher 85 Minuten zu drehen, deshalb kann man von einer gewissen Disproportionalität sprechen. Die Küchenpsychologie, die in Hollywoodfilmen jener Jahre fröhliche Urständ feierte, selbst und gerade bei Alfred Hitchcock („Ich kämpfe um dich“, dort allerdings ganz explizit und ausgewalzt), wird hier zu etwas verdichtet, was man mit „in ihm steckt mehr“ gut beschrieben hat. Aber was ist es?
Ich interpretiere es so. Der Film wurde just zum Ende des 2. Weltkriegs gedreht. Auch wenn er auf einen Roman zurückgreift, der zuvor entstand, kommentiert er die allerjüngste Geschichte, denn die begann ja nicht 1945, sondern nahm einen Anlauf im ersten Weltkrieg, während dessen Zeit (kurz vor dem Kriegseintritt der USA) der Film spielt. Die beiden Warrens hätten sich zumindest nicht freiwillig zur Armee gemeldet, das erscheint wohl klar. Nicht der düstere Professor, nicht der zynische Stiefbruder / Halbbruder. Wohl aber der nette Doktor, dessen Mundpartie und Ausdruck mich ein wenig an einen französischen Schauspieler erinnerte, der ziemlich hintergründige Rollen spielen konnte, leider fällt mir der Name gerade nicht ein, weshalb ich für einen Moment dachte, vielleicht ist er der Mörder? Das wäre nach Hollywood-Konventionen aber doch zu schräg gewesen. Hitchcock und andere deuteten zumindest an, dass die bösen Onkels und falschen Beschützer böse sind.
Die Interpretation ist auch unabhängig von der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich, das möchte ich an dieser Stelle betonen. Ein sehr strenger Vater will, dass seine Söhne werden wie er und ist enttäuscht darüber, dass sie dieses Ziel verfehlen und zu „Weicheiern“ werden. Der Zyniker ist ein typischer Sohn von solchen Haustyrannen, in der Literatur unzählige Male installiert. Aber der Mörder, der denkt, er sei nun stärker, weil er das Schwache eigenhändig umbringt? Denken wir an Serienmörder, die unter empathielosen Umständen aufwuchsen und von Kindheit an charakterlich deformiert wurden. Denken wir aber auch an die Leichtigkeit, mit der sich die grausame, auf äußerste Härte und die Ausschaltung jeden „lebensunwerten Lebens“ ausgerichtete Nazi-Ideologie in Deutschland durchsetzen konnte. Denken wir an „Das weiße Band“, der schön erläutert, wie eine familiäre, schulische, erzieherische Welt funktionierte, die es ermöglichte, jedwede zivilisatorische Regung zu unterdrücken und den Zweiten Weltkrieg auszulösen und die Shoah durchzuführen. Insofern ist an Darstellungen durchaus etwas dran, die dieses spezifische Verbrechen auf einer spezifischen, nationalen Geisteshaltung basiert wissen wollen.
Aber im Kleinen, im Familiären und auch darüber hinaus gibt es das immer wieder und man ist immer wieder darüber entsetzt, wie Menschen zerstört werden und dann andere zerstören. Mein Begriff „Küchenpsychologie“ bezieht sich deswegen nicht so sehr auf diese Black Box einer Familie, die sich immer dann öffnet, wenn der Professor die schwarzen Gummihandschuhe überstreift und auf Würgetour geht, sondern eher drauf, dass Schocktherapie so linear funktioniert wie hier bei Helen. Da möchte ich immer einwenden: das ist ein wenig sehr simpel dargestellt, Konfrontationstherapie wäre demnach auch sehr gefährlich, weil man ein ähnlich starkes und ähnlich ausgerichtetes Ereignis für die Heilung verwenden oder erst schaffen müsste wie dasjenige, das den Schock auslöste; in diesem Fall den Schock, der Helen die Sprache verschlug.
Wollte Siodmak die verdeckte Parallele und Kommentierung? Wenn ich es mir nicht vorstellen könnte, wäre ich darauf angewiesen zu sagen: das hat er, Psychologie, Psychologie, unbewusst mitgefilmt. Ich glaube jedoch eher an die Absicht, zu zeigen, was eine rigide Erziehung alles an Verwerfungen auslösen kann.
Der Film lebt aber nicht von dem Bösewicht und natürlich auch nicht von den beiden Ärzten, die sich bekriegen, ohne dass dies einen erheblichen dramaturgischen Gewinn erbrächte, sondern von der zauberhafte Dorothy McGuire, welche die Stumme Helen auf eine sehr berührende Art spielt. Ganz zurückhaltend, zerbrechlich, traumatisiert – und doch stark im entscheidenden Moment, wehrhaft und gerettet von einer anderen Frau, die allerdings auch das Familiendrama mit ausgelöst hat, weil sie besser schießen als eine sanfte Mutter oder Ersatzmutter sein konnte. Nicht ihr leiblicher Sohn, sondern derjenige aus erster Ehe ist es aber, anders als sie vermutet, der die Menschen umbringt. Nur eine bettlägerige Figur ist in diesem Sinne glaubwürdig und Ethel Barrymore erhebt sich nur einmal: um den Stiefsohn umzubringen. Da steht in Schwarz an der Brüstung im Treppenhaus und schießt noch einmal, während man sie zuvor nur hinfällig im Nachthemd daliegen sah. Dass sie sogar die Kleidung gewechselt hat, wirkt zwar nicht sehr realistisch, ist aber effektvoll im Sinne einer Wiederauferstehung der Person, die eine viel wichtigere Rolle bei der Familienaufstellung spielt, als man sie einer an die Liegestatt gefesselten Person zutrauen möchte. Es geht um das, was war und das verursacht hat, was ist.
Dafür hat Barrymore eine Oscarnominierung für die beste Nebenrolle bekommen und macht mit dem Mienenspiel, auf das sie angewiesen ist, eine Menge. Leider nicht im Fach beste Hauptdarstellerin nominiert: Dorothy McGuire. Vielleicht, weil ihre Rolle überwiegend die einer passiven Person ist, während die 1940er viele starke, auch im negativen Sinne sehr dezidierte Frauenrollen hervorbrachten – in ebenjenem Film noir, dem wir „Die Wendeltreppe“ nicht zurechnen. Mit der Darstellung der Helen schafft McGuire es aber, den Zuschauer sofort auf ihre Seite zu ziehen, zumal ihr Handicap nicht angeboren ist, sondern durch ein schreckliches Erlebnis ausgelöst wurde. Anders als bei der „Hinkenden“ vermutlich. Das spielt durchaus eine Rolle und hinter der augenfälligen Verbindung zu den Gründen für die Brutalität von Menschen, die sich auch noch politische Systeme schaffen, die das Ausleben dieser Brutalität erlauben, wird sichtbar, dass auch die amerikanische Gesellschaft Behinderte gerne pathologisiert und diskriminiert. Heute wirkt alles inklusiver, aber ist es in der Tiefe auch angekommen?
Und wie ist die aktuelle Entwicklung, in der alles ökonomisiert und finanzialisiert wird, was nicht rechtzeitig auf die Bäume kommt und Menschen, die nicht mehr ausgebeutet werden können, auf eine ganz und gar abgefeimte Weise ins Abseits gedrängt werden, in Bezug auf den Film zu bewerten? Immerhin, Helen macht sich als Hausmädchen nützlich, da ihr der Lehrerinnenberuf verwehrt ist, die „Hinkende“ arbeitet als Bedienung in einer Schänke, was die übrigen Ermordeten beruflich machten, wissen wir nicht. Den Schritt, dass eine solche Person als wertvoll angesehen werden könnte, die dem System nicht mehr dienlich sein kann, geht der Film nicht. Oder doch? Ausgerechnet die einstige Großwildjägerin ist nach dem Tod des Ehemannes das absterbende Zentrum des Familiensystems, das Stillstand, Lähmung, Verfall symbolisiert. Dass sie noch einmal aufsteht, die Hausherrin, ist zu einem guten Teil dem Überraschungseffekt geschuldet, den man am Ende brauchte, um es zum erwähnten etwas zu schnellen Ende zu bringen. Doch irgendwie siegt dadurch doch wieder das Starke über das Schwache und eine Person, die herrisch und launig ist, muss das Produkt auch ihrer Mentalität zerstören, um das unschuldige, süße Mädchen retten und damit eine Art finale Korrektur oder wenigstens die Beendigung des Grauens durchführen zu können. Außerdem wäre sie die nächste gewesen, denn sie ist doch auch nicht mehr nützlich, sondern wirkt körperlich schwach. Es würde ihr auch ihre immer noch starke Persönlichkeit nicht helfen, wenn der eigene Sohn mit den schwarzen Handschuhen ankäme, um sein Würgewerk zu tun.
Finale
Nicht ins Bild passt der Mord an Blanche, weil diese kein Handicap aufweist, ist insofern auch eine Methode, das Publikum in Unsicherheit zu wiegen und, wie die schlussendliche Lösung des Falls mit dem Revolver durch die alte Dame, für Wendungen zu sorgen, die nicht allzu vorhersehbar sind. Nicht allzu vorhersehbar meint im Falle des Mordes an Blanche: Als sie sich in den Keller aufmacht, um den Koffer zu holen, ist sie geliefert, das ahnt man sehr deutlich. Sie wollte das Haus verlassen und damit den Einflussbereich des Professors, das wird ihr zum Verhängnis. Ebenso tippte ich schon bei dessen erstem Auftritt auf ihn als Mörder. Es liegt einfach an der Erfahrung mit Krimis, würde ich sagen. Außerdem, wer befasst sich schon mit der Unterwasserpflanzenwelt als Lebensaufgabe und zehrt vermutlich das Vermögen des unausgesprochen verhassten Vaters dabei auf? Das ist beinahe so unnütz wie ganz unkommerziell Filmrezensionen zu schreiben. Was nicht bedeuten soll, dass diejenigen, die unkommerziell Filmrezensionen schreiben, in der Kindheit vom Ökonomismus wegtraumatisiert wurden und nachts durch die Straßen ziehen, um nach bestimmten Kriterien zu morden. Kriterien, von denen sie allerdings Abstand nehmen, wenn es um die persönliche Macht über eine Person geht, die nicht in diesem Cluster unterzubringen ist.
Solche Schlüsse zu ziehen, wäre wiederum Küchenpsychologie. „Die Wendeltreppe“ hat durchaus Schwächen, aber als effektvoller Thriller ist er noch etwas besser, als die IMDb-Nutzer:innen ihn gegenwärtig einschätzen (7,3/10).
78/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
1, kursiv, tabellarisch: Die Wendeltreppe – Wikipedia
2 Paul Duncan, Robert Müller (Hrsg.), Film noir, 100 All-Time Favorites, Taschen-Verlag 2014 – eine Szene, in der Helen die Treppe hinabsteigt, ziert sogar das Cover des Buches.
Regie | Robert Siodmak |
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Drehbuch | Mel Dinelli |
Produktion | Dore Schary |
Musik | Roy Webb |
Kamera | Nicholas Musuraca |
Schnitt | Harry W. Gerstad, Harry Marker |
Besetzung | |
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