Filmfest 819 Cinema – Die große Rezension
Von morgens bis mitternachts ist ein expressionistischer deutscher Stummfilm von Karlheinz Martin aus dem Jahre 1920. Er entstand nach dem Schauspiel Von morgens bis mitternachts von Georg Kaiser.
Handlung[1]
Eine Dame kommt in eine Bank, um Geld für den Kauf eines Gemäldes von einem Trödler abzuheben. Die Auszahlung wird ihr vom Bankdirektor jedoch verweigert. Angereizt von der Vorstellung eines mondänen Lebens, ähnlich dem der von ihm angehimmelten Dame, stiehlt sich der Kassierer der Bank mit einer großen Menge Geld davon, um der Dame zu helfen. Diese lehnt sein Geldangebot aber lachend ab – sie kann sich das Gemälde (eine im Stil des Expressionismus gemalte nackte Venus) auch so leisten. Inzwischen wird sein Diebstahl in der Bank entdeckt. Der Kassierer geht heim, wo er auf seine triste Familie trifft. Sich der Gefahr der Entdeckung bewusst, flieht er auf „die Straße“ in den nächtlichen Schneesturm; sodann taucht auch der Bankdirektor mit der Polizei vergeblich im Haus des Kassierers auf. Ein animiert gestalteter Zwischentitel eines Telegrafenmastes verkündet: „Kassierer flüchtig“.
Beim Schaufensterbummel entdeckt er in einem Geschäft elegante Kleidung und kauft sie sich. Danach besucht er ein Sechstagerennen (Radrennen) und spielt den Lebemann. Wieder unterwegs landet er in einer Bar und Tanzlokal und bald auch mit einer Frau und Champagner im Séparée. Von einem Seemann wird er in eine Kneipe geschleppt, wo er beim Kartenspiel gewinnt. Mittlerweile wurde er bei der Polizei zur Fahndung ausgeschrieben.
Eine Kapelle der Heilsarmee zieht vorüber und er schließt sich ihnen an. Erinnerungen an seine Familie werden in ihm wach, und die Angst vor Gefängnis lässt ihn schließlich einem Heilsarmeemädchen seine Geschichte erzählen. Er verteilt das Geld unter den Armen, die sich gierig drauf- und davonstürzen. Kurz vor Mitternacht meldet ihn das Mädchen von der Heilsarmee einem vorbeikommenden Polizisten. Vor seiner Festnahme erschießt sich der Kassierer.
Informationen1
Der Theaterregisseur Karlheinz Martin verfilmte das Bühnenstück Von morgens bis mitternachts von Georg Kaiser aus dem Jahre 1912, nachdem er es bereits auf der Bühne inszeniert hatte. Die Filmausstattung stammt von Robert Neppach. Stilistisch bedienten sie sich dabei der Ausdrucksformen des Expressionismus. Besonders die bühnenartigen, gemalten Dekorationen und Kostüme und das ausdrucksbetonte Spiel der Darsteller bilden eine künstlerische Einheit und sind dieser Stilrichtung eigen. Im Jahr der Uraufführung von Das Cabinet des Dr. Caligari entstanden, sind die handelnden Figuren zwar – wie für den Expressionismus typisch – auch namenlos (nur typisiert), doch neben diesen formalen Charakteristika ist die Handlung von Irrationalität und Obskuritäten befreit.
Von morgens bis mitternachts ist daneben einer der ersten deutschen Filme, die die Verlockungen „der großen Welt“ und „der Straße“ thematisieren. Damit gilt er als Vorläufer der so genannten Straßenfilme, etwa Karl Grunes Die Straße (1923) und Georg Wilhelm Pabsts Die freudlose Gasse (1925).
Die Uraufführung des Films ist nicht nachweisbar.[1] Er galt lange Zeit als verschollen, bis 1962 in Japan eine Kopie auftauchte, die vom Staatlichen Filmarchiv der DDR erworben wurde. 1963 erlebte der Film in Ost-Berlin seine Berliner Erstaufführung.
Rezension
Aufgrund des tragischen Endes für den Bankkassierer kann man den Film unmöglich als Komödie bezeichnen – dabei hat er durchaus satirisch anmutende Züge. Meine Lieblingsszene: Eine Hure steht im Bild, der Kassierer überlegt, was zu tun sei, sie weicht etwas zur Seite, die Zahl 6 wird sichtbar. Jedoch, es handelt sich um ein Hinweisplakat auf ein Sechstagerennen. Bei anderer Wendung wäre daraus ein expressionistischer Vorläufer von Sozialsatiren à la Billy Wilders „Das Appartement“ geworden. Da „Von morgens bis mitternachts“ als einer der ersten „vollexpressionistischenFilme“ anzusehen ist, empfiehlt sich an dieser Stelle ein Exkurs:
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die deutschsprachige Filmindustrie einen starken Aufschwung, ohne aber über Budgets zu verfügen, die mit denen Hollywoods vergleichbar gewesen wären. So war der deutschsprachige Film schon aus ökonomischen Gründen gezwungen, den Mangel an Technik und Ausstattung mit anderen Mitteln zu kompensieren. Da in Deutschland und Österreich zeitgleich in allen Kunststilen ein großer Experimentierwille herrschte, führte dies auch im Film zu radikalen Neuschöpfungen, die stark von expressionistischen Kunstformen beeinflusst waren.[2]
Dieser Absatz zum Filmexpressionismus, der in der Wikipedia zu finden ist, passt sehr gut zu dem, was ich wahrgenommen habe und ohnehin schreiben wollte: Es war alles so neu! Und es war radikal, keine Frage. Großproduktionen gab es sehr wohl, etwa die Filme von Ernst Lubitsch, die sich mit Hollywoodproduktionen durchaus messen konnten – doch dann ging dieser selbst nach Hollywood, wo er wiederum nicht die Nummer eins für Großproduktionen wurde. Einer deutschen Filmindustrie, die hohe Budgets verantworten konnte, stand im Grunde nichts entgegen, denn während der Stummfilmzeit konnte man Filme ohne größere Mehrkosten weltweit vermarkten, wenn man sie international kompatibel machte – wie eben Hollywood-Studios oder Lubitsch es taten. Oder Fritz Lang, als er die Ufa mit „Metropolis“ dann doch beinahe ruinierte und sie in die Arme der beiden größten Hollywoodstudios trieb, worauf die „Parufamet“ entstand. Aus der Abkürzung erlesen Kenner sofort die Paramount und MGM.
Diese Entwicklung ist auch deshalb wichtig, weil sich der expressionistische Film nicht durchsetzen konnte und es im Anschluss darum ging, wer tatsächlich die besseren etwas konventionelleren Produktionen macht, da war der Weimarer Film durchaus konkurrenzfähig. Ob der Stil, den „Von morgens bis mitternachts“ pflegt, hingegen exportabel gewesen wäre, darf man bezweifeln, weil er auf eine Weise exzentrisch daherkommt, an die sich gewiss auch das hiesige Publikum erst einmal gewöhnen musste – und der Film war auch zu jener Zeit, war und ist bis heute darauf angewiesen, nicht zu weit vom Mainstream abzuweichen, wenn er kommerziell erfolgreich sein will. Die Klassiker von heute sind nicht immer die beliebtesten Filme von gestern. Sehr schön kann man das an der Wikipedia-Liste der wichtigsten deutschen Filme sehen, die sich stark von den üblichen Bestenlisten dadurch unterscheidet, dass man auch die Produktionen mit den meisten Zuschauer:innen darin aufgenommen hat, unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität.[3] Sind sie also bedeutend, weil sie erfolgreich waren? Und was ist mit Filmen aus der NS-Zeit, die sehr erfolgreich waren, aber hochproblematisch? Sind sie trotzdem bedeutend? Ich tendiere eher dazu, dies zu bejahen, weil sie auf ihre Weise so viel Einfluss hatten und Beispiele für zuweilen sehr geschickt gemachte Propaganda sind.
Um das Thema wieder einzufangen: Davon ist ein Film wie „Von morgens bis mitternachts“ weit entfernt. Vielmehr findet sich sein kritischer Duktus in den Großstadtfilmen wieder, die nicht mehr expressionistisch gefilmt sind, aber etwas thematisieren, was unbedingt mit Siegfried Kracauers Sicht auf den Weimarer Film einhergeht: Die Entwurzelung der Menschen nach dem Ersten Weltkrieg, die sich geradewegs im Film ausdrückte und von dort geradewegs zur Nazi-Diktatur führte. Der Bankkassierer als Sinnbild des Kleinbürgers erschießt sich hier, aber die meisten dieser Kleinbürger waren in der Realität verängstigt und verunsichert, mithin sichere Opfer für die Nazi-Propaganda. Ein Film wie „Von morgens bis mitternachts“ dürfte der Mehrheit von ihnen ein Greul gewesen sein, falls sie ihn denn anschauten, denn er karikiert sie auf eine Weise, wie ein im realistischen Stil gedrehtes Werk es nur mit Mühe kann, weil die Überspitzung dann näher an der Lächerlichmachung liegt. Wenn die Figuren Namen haben und aussehen beinahe wie wir selbst, wird es für viele Menschen schwieriger mit der Distanzierung und dem vorurteilsfreien Abnicken dessen, was an gesellschaftlichen Verwerfungen gezeigt wird. Wenn aus diesem Grund Kompromisse gemacht werden, mangelt es wiederum an der Konsequenz, die in Filmen wie „Von morgens bis mitternachts“ eindrucksvoll zelebriert wird. Und diese ist nicht nur herzlos, sondern auch gefährlich. Die Stereotypen hingegen, die wir in „Von morgens bis mitternachts“ antreffen, evozieren nicht so viel Identifikation, dass man sich ertappt und mitdiskriminiert fühlt.
Ob Frauen das auch so sehen wie ich? Es ist schon erschreckend, dass jede der Frauen, die in diesem Film auftritt, zwischenzeitlich mit einem Totenschädel als Gesichtsersatz Vorlieb nehmen muss. Außer der Ehefrau des Kassierers, die dafür aber in einem Topf herumfuhrwerkt, dass es so wirkt, als rührte sie einen kleinen Eimer mit Farbe an und der Großmutter. Doch, es ist die Sünde, jetzt habe ich es am Ende der Darstellung bei Bandmann / Hembus zu „Klassiker des deutschen Stummfilms“ gefunden.[4]. Die Frau und die Großmutter sind dafür nicht mehr sexy genug, aber alle anderen, auch die Heilsarmistin, die letztlich diesen schnöden Verrat begeht und den Bankangestellten, der gestohlen und sich ihr anvertraut hat, der Polizei ausliefert.
Es wird wohl die Farbe gewesen sein, mit der man die Kostüme, die Gesichtszüge, die Dekors eindrucksvoll verfremdet hat. Die Farbe des schrillen Weltwankens und der beinahe zweidimensionalen Anmutung der Dinge und Menschen, hinter der sich kratertiefe Abgründe verbergen. So wie in „Das Cabinet des Dr. Caligari“, der als einziger, den ich bisher gesehen habe, ähnlich konsequent expressionistisch ausgeformt ist. Seinen Höhepunkt erreichte der deutsche expressionistische Film sicher mit „Der letzte Mann“ von F. W. Murnau (1924), der auch den Schlusspunkt bildete, während die Neue Sachlichkeit schon den hiesigen Film zu dominieren begann.
Trotzdem ist mir nicht ganz klar, warum in „Von morgens bis mitternachts“ das weibliche Prinzip mit dem Tod in Verbindung gebracht wird, wofür der einzige Trickeffekt in diesem Streifen eingesetzt wird, dies aber recht gekonnt und durchaus erschreckend in der Wirkung. Nicht einmal bei den Stimmen, die in „Klassiker des deutschen Stummfilms“ zitiert werden, habe ich zu diesem besonderen Phänomen etwas gefunden – wiewohl sie genauso expressiv geschrieben sind wie der Film bebildert wurde und ich sie deshalb unbedingt einer Wiedergabe für wert erachte. Ich fange dabei etwas weiter hinten an und mein bisheriger Eindruck vom Filmschaffen jener Zeit findet sich in dem Satz bestätigt, „Von morgens bis mitternachts“ sei einer der wenigen wirklich (durch und durch!) expressionistischen deutschen Filme. Es ist wie beim Film noir, dem einen von beiden Genres, die vom Expressionismus deutlich beeinflusst wurden: Es kommt darauf an, wo man die Grenzen zieht. So ist zum Beispiel der jüngst angeschaute „Scherben“ von Lupu Pick (1921) für mich weitaus weniger ein expressionistischer Film, obwohl er in der Wikipedia einleitend dazu erkoren wird. Es gibt expressionistische optische Elemente, ja, auch das Spiel ist sehr dezidiert, aber der Raum, die überwiegenden Dekors, der Duktus der Erzählung sind eher Kleinbürgertragödie. Trotzdem führen die Spuren beider Filme zu den Sozialstudien, die sich im Kammerspiel bzw. im Straßenfilm manifestierten.
Es gibt des Weiteren einiges zu klären. Warum zum Beispiel erscheint über nach dem Selbstmord noch ein lichtumkränzter Ausdruck: „Ecce homo!“?
Mit dem Hinweis Ecce homo (klassische Aussprache [ˈɛkːɛ ˈhɔmoː], deutsche Aussprache [ˈɛkt͡sə ˈhοːmo][1]) stellt nach der Darstellung des Johannesevangeliums der römische Statthalter Pontius Pilatus dem Volk den gefolterten, in purpurnes Gewand gekleideten und mit einer Dornenkrone gekrönten Gefangenen Jesus von Nazaret vor, weil er keinen Grund für dessen Verurteilung sieht. Die jüdische Führung fordert daraufhin Jesu Kreuzigung (Joh 19,4–6 EU).
Der Ausruf lautet im ursprünglich griechischen Text des Johannesevangeliums ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος (idoù ho ánthropos) und bedeutet „Siehe, der Mensch“. Der lateinische Ausdruck stammt aus der Vulgata (Joh 19,5 VUL) und ist von dort in die christliche Tradition und die Kunstgeschichte eingegangen.
Die wörtliche Übersetzung aus dem griechischen Urtext lautet: „Siehe, der Mensch“ (so auch wiedergegeben in der Elberfelder Bibel). In anderen deutschen Bibelübersetzungen wird der Text verschieden dargestellt:
„Sehet, welch ein Mensch.“ (Lutherbibel)
„Seht, da ist der Mensch!“ (Einheitsübersetzung 1980)
„Seht, der Mensch!“ (Einheitsübersetzung 2016)
„Hier ist er, der Mensch!“ (Neues Leben)
„Seht ihn euch an, diesen Menschen!“ (Hoffnung für alle)
„Da, seht ihn euch an, den Menschen!“ (Gute Nachricht Bibel)
Allein die unterschiedlichen Übersetzungen mit den durchaus nicht identischen primären Bedeutungsassoziationen, die sie hervorrufen, lässt weiten Raum für das Aufflammen dieser zwei Worte am Ende von „Von morgens bis mitternachts“, wiewohl einige davon erst nach diesem Film eingeführt worden scheinen. Wie auch die überdeutliche Verbindung der jüngeren Frauen mit der Sünde wirkt diese Apostrophierung etwas übertrieben, aber sie belastet nicht die formale Geschlossenheit des Films, im Gegenteil. Kontrastierend und kohärent zugleich mit und bezüglich der Graphisierung der Dinge und Figuren wird das alles geradezu plastisch und man fühlt die Not der Zeit und ihrer hin- und hergeworfenen Existenzen auf eine eindringliche Art, ohne dass man Mitleid empfinden würde. Kein Wunder, dass zum Beispiel linke Kritiker durchaus etwas am expressionistischen Film auszusetzen hat, der das Leid nicht primär als besonders furchtbare materielle Not darstellt, sondern als inneren Zustand zwischen Angst und Gier, dumpfer Genügsamkeit und ekstatischer Lebenssucht? Es gibt genug zu essen, im Haushalt des Bankkassierers, das Töchterchen träg ein weißes Kleidchen, ein weißes Schleifchen im Haar und spielt hingebungsvoll, hingebungsvoll auf dem Klavierchen – so what?
Mit den Augen des Expressionisten betrachtet, erschließt sich freilich, dass das, was das kleinbürgerliche Idyll der Vorkriegszeit war, das kleine, Glück mit der kleinen Familie, deren Spross sogar Musik machen darf, nach dem Donner der Kanonen und dem Tod in den Schützengräben zu nervenzerfetzendem, banalem Geklimper verkommt und der gute, nahrhafte Brei, nach dem sich im Krieg manche:r so gesehnt hatte, zu einer bösen Klebe im Farbtopf gerinnt, die den fahlen kleinen Diener des Geldes,, welcher eine elegante Frau gesehen, einen Kapitalisten hat schwadronieren hören, an die kleine Welt bindet, die sich in der Weimarer Zeit nicht mehr gegen die Verführungen der großen Stadt behaupten kann – wo sie doch nicht nur der Verlockung entbehrt, die Vergessen ermöglicht, sondern auch moralisch durch den Niedergang des Bürgertums im Krieg korrumpiert ist. Ob der Bankkassierer einen Sohn hatte, der auf dem Schlachtfeld blieb? Ausschließen mag man es nicht, dass zu allem auch noch ein leerer Platz kommt, allerdings findet man keinen direkten Anhalt. Allenfalls kann man in den affektierten Sohn der Dame von Welt etwas hineininterpretieren wie das Überleben des Eklektischen, nachdem der Krieg eine hoffnungsvolle Generation von Guten dahingerafft hatte. Apropos Dame von Welt. Ein Highlight von „Von morgens bis mitternachts“ ist sicher, dass Regisseur Karlheinz Martin (nicht zu verwechseln mit dem Ufa-Musikfilmregisseur Paul Martin, der u. a. „Ein blonder Traum“ inszenierte) es sich nicht verkneifen konnte, doch einen weiteren Trickmoment einzubauen. Man sieht sie nackt, weil der entfesselte Kleinbanker sie sich so vorstellt, dahingegossen auf einer Chaiselongue oder einem ähnlichen Möbelstück. Es hätte mich schon interessiert, ob es tatsächlich der Körper von Darstellerin Erna Morena ist, den man hier für eine Sekunde zur Schau gestellt bekommt, zumal mir diese für die Verhältnisse der Zeit schlank und hoch gewachsene, attraktive Person schon in Filmen von Richard Oswald aufgefallen war.
Kein Wunder, dass dieser Film in Deutschland keinen Verleih fand. Er hat nur durch einen grandiosen Zufall überlebt. In Japan war man ihm mehr zugetan und so existierte eine Kopie, die wiederum als Basis für eine Restaurierung diente. Diese habe ich mir anschauen können und fand auch die Musik, die man nun dazu komponiert hat, äußert gelungen. Zu manchen Stummfilmen passt nicht ganz, was man ihnen an Tönen zukommen lässt. So etwa gibt es für mich Grenzen dafür, wie man Filme der neuen Sachlichkeit musikalisch experimentell untermalen sollte, aber hier passt es und ist stellenweise sogar lustig, wenn Geräusche direkt intoniert werden, die man den Handlungsmomenten auf der Leinwand zuordnen kann. Der Spieltrieb im Film der frühen 1920er wird dadurch ebenso schön abgebildet wie die Verfremdung, die dem Expressionismus eigen ist. Natürlich ist auch die nackte Venus im Caligari-Anti-Bauhaus-Stil ein Gag, den man nicht unterschätzen sollte. Denn „Von morgens bis mitternachts“ wurde offenbar gedreht, als der Caligari schon die Kinosäle in Stätten verwandelt hatte, an denen die Leinwand besonders dämonisch wurde (übertroffen nur von „Nosferatu“, zwei Jahre später) und hat ihn vermutlich auch stellenweise zitiert und, etwas reduzierter und bühnenhafter, noch weniger mit Tonungen, in der heutigen Restaurierung nicht viragiert, also oft ganz und gar schwarz und weiß, adaptiert und modelliert. Nun aber doch ein Stück Text aus jenen Jahren, mit dem man jede Rezension beglänzen kann, die unweigerlich durch die „Mehr-als-100-Jahre-Distanz-Brille“ hindurch geschrieben ist, so sehr man sich auch bemüht, in jene fiebrige Nachkriegszeit einzutauchen:
Verhungert, unrasiert, mit gierigen Augen sitzt der Kassierer hinter dem Schalter: ein dürftiger Fleischfetzen gegenüber dem runden, gemästeten Wanst, der im kassenraum Kapital abhebt, vergeudetes Leben in die Welt lacht, aus allen Poren genießend schwitzt. Und dahinter steht des Kassierers Leben: die gute Stube mit der schmachtenden Tochter, armselig und sentimental, der verhärmten, verarbeiteten Mutter, der kaum taubes Fleisch noch darstellenden Großmutter. Und all die furchtbare Einförmigkeit von Plüsch und Strohblumen und weißen Deckchen. Und all der fade Geruch von Dagewesenem, Unveränderbarem, Ewig-Ggleichem. – Eine Flamme stößt in des Kassierers Hirn. Einmal Welt, einmal Leben, einmal Durchrasen, Wollust, einmal mit beiden Fäusten zupacken, überall, irgendwo. Er defraudiert, er ist verschwunden, Geld mit ihm. Schlaganfälle in der Familie, heiseres Staunen in der Bank. Und Polizei greift mit spinnenhaften Fangarmen. Der Kassierer aber pilgert den Weg zum großen Leben. Irgendwo blitzt Erkenntnis: Leben ist nicht außen, Leben muss von innen kommen. Gespräch mit einem fantastischen Geripp in der Winternacht auf gestrüppigem Baum, der wiederum Leben wird, Äste rekelt, wie von einer Krake träge umklammert. Das Leben im Vollen, das Leben in Pracht. Laster, Huren, Lichterglanz: der Kassierer im Frack, nobel, überlegen, Crème. Mmit vollen Händen die Geste des üppigen Verschwenders, der Geld um sich wirft-aber die Geste bleibt leer, das Geld in der Fracktasche. Frauen beugen sich über ihn, Rücken neigen sich tief, weiche Hände gleiten über seine Wangen – ein heiseres Lachen. ist das Leben? Tanz um den Geldschrank. Blühendes wird angefressen, Weib wird zum Totenkopf. Und so, vom eigenen Schatten am Rande des Abgrunds entlang gepeitscht, rast er zu auf die unerschütterliche Maschine der Barmherzigkeit: Heilsarmee. Da steht sie, ein uniformiertes Leben, ein schmales, lebensfernes Geschöpf, armselig, nur raue Buße, nur verschluchzte Gebete auf der Sünderbank. Ist das Leben? bekennen? Buße tun, Knien mit gerungenen Händen? Er folgt ihr gierig: die einzige Barmherzige – die in immer genarrt hat, in allen Figuren der Kahlkopfschädel. Und schon hat sie seinen Namen der Polizei geflüstert, schon stürzt in Posaunenstoß und Ringelreihn-Gebet die Polizei hinein – ein Stutzen, der Totenkopf, alles nur tot, mühsam geschminkte Maske des Lebens. Das Leben? Licht spiegelt in Stahl, ein Druck, ein Blitz, der Browning hat die Rechnung abgeschlossen. Was ist Leben? Ein Jagen, von morgen bis Mitternacht, nach der Seele, der wirklichen unsterblichen Seele. Eine Spanne voll Traum, zwischen Gier und Ende.[5]
Finale
Aus diesem Text werden noch mehr Stellen zitiert, in diesem Grundlagenwerk, das nun auch schon wieder 40 Jahre auf dem Buckel hat. Zu Recht wird daraus zitiert, denn so kann man die Handlung erzählen in der Absicht, sich ihr kongenial zu nähern und in sie einzutauchen, ihren Rhythmus aufzunehmen. Ich bin mir ziemlich sicher, die Macher von „Babylon Berlin“ haben sich nicht nur die drei oder vier Megaklassiker der 1920er angeschaut, sondern auch Filme wie „Von morgens bis mitternachts“. Obwohl die Serie im Jahr 1929 spielt, fast wieder eine andere Zeit, atmet sie einiges von der Extravaganz und dem Fieberglanz, der schon in den früheren 1920ern, wenn auch so flächig gestaltet wie in diesem Film, sichtbar wird. Die Avantgarde, und zu ihr zählten auch die Filmexpressionisten, hatte das Ohr nicht nur am Puls der Zeit, sie war Teil jener Maschine, die den Puls der Zeit antrieb, ihn schneller und schneller werden ließ, was bei Traditionalisten, Verzweifelten und Verstörten für hinreichend Schlaganfälle sorgte. Nur in wenigen Filmen aus jenen Jahren, die ich bisher gesehen habe, wird das so verdichtet wie in „Von morgens bis mitternachts“ und daher halte ich ihn für wichtig genug, ihm das Format „DGR“ („Die große Rezension“) zu widmen.
Er ist auf seine Weise ein prachtvoll miniaturisiertes Einzelstück, das sich von den Werken der ganz Großen nicht zu seinem Nachteil abhebt. Die Filme von Fritz Lang sind viel kalkulierter, die von F. W. Murnau schielen mehr mit Sehnsuchtsblick zurück, zumindest in den frühen 1920ern, Ernst Lubitsch kommt „Von morgens bis mitternachts“ in „Die Bergkatze“ noch am nächsten, spielt aber weit mehr mit weiten Räumen, 3D-Dekors und Humor, wiewohl auch dieser Film schon zu expressiv war, um ein Erfolg sein zu können. Ein wenig erinnert „Von morgens bis mitternachts“ auch an „Nerven“ von Richard Oswald, der im Jahr zuvor entstand, ebenfalls viele Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs zeigt und auch Erna Morena – wiewohl, die Gestaltung ist anders und führt doch mehr um den Expressionismus herum zum Melodram.
79/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
[1] Von morgens bis mitternachts (Film) – Wikipedia
[2] Expressionismus (Film) – Wikipedia
[3] Liste bedeutender deutscher Filme – Wikipedia
[4] Christa Bandmann, Joe Hembus, Klassiker des deutschen Stummfilms (1910-1930), S. 229
[5] Rudolf Kurtz, Expressionismus und Film, zitiert nach Bandmann / Hembus, a. a. O.
Regie | Karlheinz Martin |
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Drehbuch | Karlheinz Martin, Herbert Juttke |
Produktion | Herbert Juttke Georg Isenthal |
Kamera | Carl Hoffmann |
Besetzung | |
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