Scherben (DE 1921) #Filmfest 813

Filmfest 813 Cinema

Scherben ist ein deutscher Spielfilm von Lupu Pick aus dem Jahre 1921. Der im expressionistischen Stil gespielte Film nach dem Drehbuch Carl Mayers gilt als der erste der deutschen Kammerspielfilme.

An manche Filme, die als wichtig für den deutschen Film angesehen werden, kommt man nicht ohne Weiteres heran, aber von „Scherben“ gab es immerhin eine schlechte Kopie auf Youtube, die ich mir anschauen konnte, garniert mit klassischer Musik, die immer wieder aussetzt. Möglicherweise ein Fehler des Videos, aber auch störend. Gleichwohl bemühe ich mich, mich nicht davon beeinflussen zu lassen, dass von diesem Werk keine hochwertige Restauration seitens der F. W. Murnau-Stiftung vorlag. Mehr zu diesem Film, der offenbar eine Sonderstellung als Erstling einer Gattung oder eines Genres einnimmt, steht in der -> Rezension.

Handlung[1]

Es ist Winter. Die Familie eines Bahnwärters lebt ein eintöniges und ärmliches Leben neben einer Bahnstrecke. Ein Telegramm kündigt das Kommen eines Inspektors an, der auch bei der Familie wohnen will.

Kaum dass dieser eingetroffen ist, erliegt die Tochter des Bahnwärters seinen Verführungen. Die Mutter verschafft sich mit einer Axt Zugang zum verschlossenen Zimmer des Inspektors, nachdem sie durch Geräusche aufmerksam geworden ist, und entdeckt ihre Tochter. Schockiert sucht sie Trost im Glauben und läuft zu einem Kreuz mit Heiligenbild am Waldrand, wo sie betend erfriert. Der Bahnwärter bemerkt ihr Fehlen am nächsten Morgen, findet sie tot und ist gebrochen.

Die Tochter bittet den Inspektor inständig um ein Eheversprechen, doch er weist sie kalt ab. Sie erzählt ihrem Vater daraufhin das Vorgefallene. Höflich klopft er noch am Zimmer des Inspektors an, doch als dieser nicht zum Einlenken bereit ist, erwürgt er ihn.

Stoisch tut der Bahnwärter am nächsten Tag seinen Dienst. Er hält einen Zug an und gesteht dem Lokführer: „Ich bin ein Mörder!“. Die Tochter irrt verwirrt umherschauend durch die verschneite Gegend und sieht den Zug davonfahren.

Rezension

Scherben ist als ‚Drama in fünf Tagen‘ konzipiert. Der Film begründet den ‚deutschen Kammerspielfilm‘, dessen Handlung sich auf nur wenige Personen beschränkt und im alltäglichen Kleinbürgermilieu spielt. Es besteht eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Die Handlung wird, außer dem Geständnis „Ich bin ein Mörder!“, ohne Zwischentitel erzählt.

Von der Länge her ist der Film in der Tat ein Fünfakter – an der Grenze zum Vierakter allerdings, da Filmrollen damals ca. 15 Minuten lang waren und „Scherben“ auf 61 Spielminuten kommt.

Als Einheit von Zeit, Ort und Handlung versteht man in der Literatur, dass die Dauer der Handlung tatsächlich der Spiel- oder Lesedauer entspricht, das ist natürlich hier nicht der Fall. Der Ort aber ist, bis auf wenige Außenaufnahmen und eine Szenenfolge, die in einem vorbeifahrenden Zug spielt, in der Tat auf das Haus der Bahnwärterfamilie begrenzt und die Bezeichnung „Kammerspiel“ trifft auf einen Film, in dem nur vier Personen wesentlich sind, jedenfalls zu. In den 1920ern wurde der Kammerspielfilm in der Tat eine Gattung, die  bei ernsteren Themen im deutschen Film eine wichtige Rolle spielte. Man sieht hier das exakte Gegenteil der Großproduktionen, wie Ernst Lubitsch oder Fritz Lang sie inszenierten und in denen Dutzende von bekannten Schauspielern auftraten. Es gibt noch ein, zwei weitere Sprechrollen in „Scherben“, aber die Dialoge sind kurz und werden, siehe oben, nicht auf Zwischentiteln dargestellt.

Umso verblüffender war es, dass am Ende in einer kindlich anmutenden Schreibschrift, die sich auf einer schwarzen Tafel  herausbildet, „Ich bin ein Mörder“ steht. Dieser Zwischentitel ist inhaltlich genauso überflüssig, wie es vorherige Texttafeln gewesen wären, denn man versteht die Handlung problemlos ohne aufgeschriebene Worte. Und man wundert sich, dass sie über eine Stunde trägt.

Diese Gestaltung ohne Zwischentitel führt nicht nur zu einem dichten, ungestörten Filmerlebnis, sondern lässt auch etwas Raum für Menschen wie mich, die a.) keine Lippenleser sind und b.) ihre Fantasie gerne etwas schweifen lassen. Mir drängte sich der Eindruck auf, dass die Tochter, als sie dem Vater von der letzten Szene mit dem Inspektor berichtete, vorgab, von ihm vergewaltigt worden zu sein. Die Dramatik ihres Vortrags ließ mich darauf schließen. Dass sie im Elternhaus mit ihm Sex hatte, woraufhin die Mutter so erschüttert war, dass sie im Angesicht eines Wegkreuzes verstarb (oder sich umbrachte), wusste der Vater schon zuvor.

Auch, wenn der Film einige expressionistische Elemente zu enthalten scheint, wie etwa den Flur zwischen den Zimmern im Erdgeschoss des kleinen Bahnwärterhauses, der vollkommen disproportional zum Gebäude ist, ist er ein „anti-expressionistisches“ Werk, das außerdem künstlerisch in hohem Maße dem Drehbuchautor Carl Mayer zugerechnet wird.

Der Kammerspielfilm, den Lupu pig mit seinem Film Scherben im Jahr 1921 ins Leben gerufen hat, ist vor allem ein psychologischer Film. Vorzugsweise ist er auf wenige, sich in einem Alltagsmilieu bewegende Personen beschränkt. Er beruht auch meist auf einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung, weil dies vereinfachen soll. Mit solchen Gegebenheiten Gerät gerät Pick völlig bewusst in Widerstreit mit allen expressionistischen Prinzipien. Denn bekanntlich verdammen die Expressionisten immer wieder die erklärende Psychologie, jede individuelle kleinbürgerliche Tragödie, jede intime Seelenanalyse. [2]

Indem er sich mit dem Expressionismus anlegte, entzweite Lupo Pick  sich auch zunehmend mit dem Autor seiner besten Filme, Carl Mayer, der immer expressionistisch schrieb, wenn er schon nicht immer im Sinne der reinen Lehre fühlte und dachte.[3] 

Karl Meyer fand, wie es heißt, danach zurück zu FW Murnau, für den er schon den Gang in die Nacht und „Schloss Vogelöd“ geschrieben hatte. Beide Filme haben wir bereits für den Wahlberliner angeschaut und rezensiert. Weiter heißt es:

Man kann sich vorstellen, was Murnau  aus „Scherben“ gemacht hätte, er war damals auch in der Phase der ländlichen Kammerspiele das soll aber nicht einladen, Picks Version  abzuwerten. Scherben ist ein Kammerspiel im Freien. Der Film führt uns in die einsame Landschaft des winterlichen Riesengebirges. Regelmäßig wandert der Bahnwärter seine Strecke ab. Alles scheint friedlich, bis ein Windstoß während des nächtlichen Abendessens der Familie ein Fenster aufstößt und die Scheibe in Scherben auf dem Boden liegt. Vorbote eines herannahenden Unheils. Die Kamera schwenkt von den Scherben auf das Telegrafengerät, das die Ankunft des Inspektors übermittelt. Die Tochter sammelt die Scherben auf, die Mutter wäscht ab, der Vater begibt sich ins Bett. Stumpf und emotionslos läuft das Leben in geregelten Bahnen. Der Verführer taucht auf.3

Das Unheil nimmt seinen Lauf, wie er oben geschildert wird. Die Welt, die uns gezeigt wird, die kalte Schneeeinsamkeit, die sich in der emotional kargen, wenn auch nicht direkt ärmlichen, so doch einfachen Welt der Bahnwärterfamilie spiegelt, wird an einer Stelle doch in einen Kontrast gestellt, das Panorama wird geweitet, damit der Zuschauer mitbekommt: Der Regisseur weiß, es gibt diese andere, moderne, gesellige Welt, die aber dem Bahnwärter und seiner Familie verborgen bleibt. Sie spielt sich in dem luxuriösen Zug ab, der normalerweise an dieser Bergstation gar nicht hält, sondern vom Wärter erst gestoppt wird, als dieser sich nach seiner Tötungshandlung an dem Bahninspektor stellt. Im Original, heißt es bei Bandmann / Hembus, sei die Signallampe rot eingefärbt gewesen, um den inneren Aufruhr des bescheidenen, unscheinbaren Wärters zu verdeutlichen. Erst, nachdem er den Inspektor erwürgt hat?

Allen trieb Filmen, die [Carl] Meyer nach „Genuine“ schrieb, ist ein gemeinsamer Zug eigen: Sie spielen in der Welt der unteren Mittelschicht, die bedeutungsloses Überbleibsel einer zerfallenen Gesellschaft ist. Die untere Mittelschicht erscheint in Meiers Film als Nährboden der dumpfen und bedrückten Geschöpfe, die ähnlich wie Büchners Figur des Woyzek nicht imstande sind, ihre Triebe zu sublimieren. Und genau in dieser Zwangslage befindet sich die deutsche Kleinbourgeoisie während dieser Jahre. Maja stellt sich seine Figuren aus deren unteren Mittelschichten als triebbesessene Bewohner eines Universums vor, dass schon den Scherben liegt, und er greift sie in der Absicht auf, die Zerstörung und selbst Zerstörung zu enthüllen, die sie unausweichlich nach sich ziehen. Ihr Verhängnis wird dem Wirken des  Schicksals angelastet.[4]

Es wird eine symbolhafte Bildsprache verwendet: Vor dem Eintreffen des Inspektors zerbricht ein Sturm das Glas des Fensters, vor dem Haus steht unheilverkündend eine Vogelscheuche, die blanken Stiefel des Inspektors suggerieren seine Autorität.[1]

Und eine Verbindung zu einer anderen, glänzenderen Welt, auch wenn der Inspektor selbst eher Angehöriger des Kleinbürgertums ist als die Menschen, die im Zug mitfahren und sich über die Unterbrechung der Fahrt wundern. Dort geht es quirlig zu, man unterhält sich miteinander, gezeigt wird ein Speisewagen, in dem man es sich wohlgehen lässt. Selbst die Personen darin werden ganz knapp als Stereotypen gezeigt, wie etwa der blasiert wirkende Herr, der aus besseren, vielleicht militärisch-adeligen Kreisen stammt, derjenige, der ein Mahl verzehrt, der eher wir ein Emporkömmling wirkt, vielleicht Handelsreisender ist, die Frauen, die zum Vergnügen unterwegs sind. Alle ahnen sie nichts von der Tragödie, die sich am Bahngleis abgespielt hat, diese Welten sind komplett voneinander getrennt. Der Bahnwärter wird diese Menschen gewiss auch nicht treffen, sondern irgendwo separat, allenfalls in der dritten Klasse, zum nächsten Gefängnis transportiert werden.

Finale

„Scherben“ ist ein sehr eindringlicher Film, der durch seine starke Symbolik in den Kanon des deutschen Films der 1920er gefunden hat und natürlich wegen seiner Stellung als „erstes Kammerspiel“. Er ist auch ein typisches Beispiel dafür, wie schonungslos und ohne Nebengeräusche Filmemacher sich der inneren Not annahmen, die der äußeren im Krieg und kurz danach folgte. Die Welt, in welche der Inspektor einbricht, geht dadurch in Scherben, das ist nicht schwer zu verstehen. Welche Funktion er genau hat, ist indes nicht ganz so klar definiert: Natürlich ist er der Zerstörer, aber symbolisiert er eine andere Schicht oder eher den Einbruch des Krieges von 1914 in bisher weitgehend abgeschottete Milieus jenseits der großen Städte? Welche Rolle spielt ein unverstandener Glaube, eine Religiosität, die kein Erbarmen, hier vor allem mit sich selbst, kennt? Siegfried Kracauer, den wir zitiert haben, hatte sicher keine Mühe, den inneren Zustand dieser gedrückten Menschen als einen Grund zu identifizieren, warum es zum Ausbruch der Nazi-Seuche in Deutschland kommen konnte. Die Menschen hatten nicht die innere Substanz, um sich gegen diese hochemotionale Propaganda, aber auch nicht gegen die Grausamkeit, die Unmenschlichkeit der Ideologie zu stellen. Sie sind wie Blätter im Wind, wenn der Wind weht und ein Fenster einschlägt und stumm und hilflos wie Vogelscheuchen, wenn das Schicksal auftritt, und sei es nur in Form eines Typs, der die Gelegenheit nutzt, um ein unerfahrenes Einzelkind ins Bett zu kriegen. Auffällig ist in diesem  Zusammenhang, dass der Bahnwärter, den Werner Krauss als bekanntester Darsteller im kleinen Cast darstellt, kaum ein Gesicht zu haben scheint. Die Züge verbergen sich, ganz anders als in „Das Cabinet des Dr. Caligari“, in dem er ein Jahr zuvor den Caligari gespielt hat, hinter einem Bärtchen unterschiedlicher Färbung, nur die kleinen, aber angstvollen Augen stechen heraus. Man erkennt diesen Maniac aus „Caligari“ überhaupt nicht wieder. Ich fand es gespenstisch, wie sich durch diese Wandlungsfähigkeit eines versierten Schauspielers auch die unterschiedlichen Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausdrücken. So unterschiedlich beide Figuren angelegt sein mögen, sie erzielen eine tödliche Wirkung.

Seinen internationalen Durchbruch [im Film, Anm. TH]  schaffte Werner Krauß 1920 mit dem legendären Stummfilm Das Cabinet des Dr. Caligari (Regie: Robert Wiene), wo er an der Seite von Conrad Veidt in Mimik und Körpersprache ganz in der Darstellung des Schaustellers/Irrenarztes Caligari aufging, der Autorität und Subordination in einem verkörperte. Die von Lotte H. Eisner unter dem Begriff „Die dämonische Leinwand“ zusammengefasste Epoche des deutschen Films der 1920er Jahre fand in der Folge in Krauß einen ihrer wichtigsten Schauspieler. Der Stummfilm ermöglichte es ihm, seiner Fähigkeit zur totalen Identifikation mit den Rollen, seiner Lust an der Verwandlung und seiner Begabung, allein durch physische Präsenz zu wirken, Ausdruck zu verleihen.[7]

Persönlich hob Krauß die Arbeit mit Lupu Pick an dem Kammerspiel Scherben (1921) hervor, wo er die dumpfe, depressive Studie eines Bahnwärters ablieferte, der zum Mörder des Verführers seiner Tochter wird. 

Spaß macht „Scherben“ keineswegs, aufgrund seiner konsequent kargen Gestaltung kann man nicht einmal seine Schaulust in Bezug auf Mord und Seelentod befriedigen. „Scherben“ geht selbstverständlich in seiner Bedeutung über die Bahnwärterstation weit hinaus und hat sicher die kommenden Kammerspiele inspiriert. Das Filming und die Art, wie die Schauspieler:innen ihre Rollen interpretieren, ist deutlich näher an Murnau als an Lang, Lubitsch und vielen anderen, bedingt auch durch den Autor Carl Mayer, aber jeder Film Murnaus, den ich bisher gesehen habe, ist um einiges spektakulärer. Dass „Scherben“ in der IMDb nur 6,4/10 erhält, verstehe ich deshalb gut, weil er sich jeder Anbiederung an das Publikum widersetzt. Seine Schlichtheit wirkt sich auch auf meine Bewertung aus, wiewohl ich das Typische oder gar Archetypische in diesem Kinostück als packend ausgeformt empfand.

74/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke 

[1] Scherben (Film) – Wikipedia

[2] Lotte H. Eisner, „Dämonische Leinwand“, zitiert nach Bandmann / Hembus, Klassiker des deutschen Stummfilms, S. 216

[3] Bandmann / Hembus a. a. O.

[4] Siegfried Kracauer, Von Galigari zu Hitler, zitiert nach Bandmann / Hembus, a. a. O.

Regie Lupu Pick
Drehbuch Carl Mayer
Produktion Lupu Pick für Rex-Film GmbH
Musik Giuseppe Becce
Kamera Friedrich Weinmann
Besetzung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s