Aschenputtel (DE 1922) #Filmfest 826

Filmfest 826 Cinema

„Aschenputtel“ ist ein Scherenschnitt-Silhouettenfilm von Lotte Reiniger aus dem Jahr 1922. Eine englische, verlängerte Fassung namens „Cinderella“ entstand 1954. Die Spielzeit des Films aus dem Jahr 1922 beträgt 13 Minuten, die des späteren Werks 19 Minuten.

Im Jahr 2019 hat die ARD im Wege der großangelegten Kampagne zur Serie „Babylon Berlin“ einige der deutschen Filmklassiker aus der Weimarer Republik wieder gezeigt und in die Mediathek gestellt, von wo aus wir sie für die Sichtung im Rahmen der „zweiten deutschen Welle“ des Filmfest kopiert haben. Einige davon werden wir dauerhaft archivieren. Der einzige der damals gezeigten Filme, die ich nicht kannte, war „Aschenputtel“, obwohl ich mich bereits ein wenig mit Lotte Reiniger befasst hatte, die ihn erstellt hat. Ihren berühmtesten Film, „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1923-26) habe ich bereits rezensiert und wir werden die Kritik auf dem Filmfest veröffentlichen. Neben Großfilmen wie Fritz Langs „Metropolis“ wirkt „Aschenputtel“ geradezu winzig. Es handelt sich ja auch  um einen Kurzfilm, 13 Minuten lang. Zu diesem Film steht mehr in der -> Rezension.

Informationen und Handlung[1]

 Die Geschichte vom Aschenputtel ist eines der beliebtesten Mär­chen, von dem verschiedene Fassungen überliefert sind, am bekann­testen wohl die der Brüder Grimm; außerdem gibt es die höfische Fassung von Perrault und von der tschechischen Schriftstellerin Bo­zena Nemcova stammt eine charmante Variante mit emanzipato­rischen Anklängen (siehe Vaclav Vorliceks Verfilmung „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, die längst ein Klassiker ist).

Lotte Reiniger hat das Märchen vom Aschenputtel zweimal gestaltet: 1922 als Stummfilm ganz im Stil des Expressionismus (die engli­schen Zwischentitel wurden auf Veranlassung von Eric Walter White, einem Freund von Lotte Reiniger und Carl Koch, von ihr selbst in London gestaltet und dem Film nachträglich eingefügt). 1954 ent­stand „Aschenputtel“ im Rahmen einer Auftragsserie für das US-Fernsehen noch einmal unter dem Titel „Cinderella“ als eine mär­chenhaft schöne – höfische – Version. (…) 

Aschenputtel (1922)

Regie und Animation: Lotte Reiniger – Kamera: Carl Koch – Produktion: Institut für Kulturforschung, Berlin – 13 Min., s/w

Zum Auftakt eine Überraschung: Aus schwarzem Papier wird eine Aschenputtelsilhouette ausgeschnitten – danach öffnen sich immer neue Guckkastenbühnen: Aschenputtel am Herd, darüber die als Ka­rikaturen überzeichnete dicke und dünne Stiefschwester, dazwischen die böse Stiefmutter, die ihren Stock schwingt. Die Einladung des Königs löst hektische Aktivität aus. Aschenputtel wäre auch gern mitgegangen, stattdessen wird ihm eine Schüssel Linsen in die Asche geschüttet. Die guten Turteltauben aber helfen dem unglück­lichen Mädchen, mit der Arbeit schnell fertig zu werden.

Von einem verzauberten Bäumchen am Grab der Mutter bekommt Aschenputtel ein wunderbares Kleid, so dass sie am Ball im Schloss teilnehmen kann. Der Königssohn hat nur Augen für die unbekannte Schöne und tanzt den ganzen Abend mit ihr. Doch der Zauber gilt nur bis Mitter­nacht und Aschenbrödel eilt davon. Zurück bleibt ein nachdenklicher Königssohn – und ein Schuh. Ein langer Zug setzt sich in Bewegung, um diejenige zu finden, der der Schuh passt. Die dünne Schwester hackt sich die Ferse ab und besteht die Schuhprobe. Aber als sie mit dem Königssohn am Grab vorbei reitet, tropft das Blut aus ihrem Schuh. Das lässt den Königssohn umkehren, er folgt den Täubchen und entdeckt das im Keller versteckte Aschenputtel. Darüber gerät die Stiefmutter so in Wut, dass sie sich in zwei Teile zerreißt.

Rezension

Wenn man will, kann man aus dem Film hintergründig herauslesen, dass Königssöhne nicht die hellsten Kerzen auf der Torte darstellen. Die dünne Stiefschwester sieht dermaßen anders aus als Aschenputtel, dass man wohl keinen Schuhbeweis braucht, um festzustellen, dass sie nicht die unbekannte Schöne vom Ball ist. Ebenso die dicke Stiefschwester, die es aber nicht bis aufs Pferd des Prinzen schafft. Also geht es vor allem darum, dass Aschenputtel ihrem schweren Los entkommt und ein angenehmeres Leben führen kann. Mit einem Mann, der sicher einigermaßen leicht zu leiten sein wird.

Das ist natürlich eine Interpretation, die vor allem deshalb so charmant erscheint, weil der Film so kurz ist. Hätte man die Handlung mit verschiedenen Elementen angereichert, die besser erklären, warum man die drei jungen Frauen überhaupt für verwechslungsgeeignet hält, wäre dieser Übersteiger nicht so leicht möglich. Leider erinnere ich mich nicht mehr an die populäre Disney-Zeichentrickversion aus dem Jahr 1950 so gut, dass ich sagen könnte, man hat das Problem so oder so gelöst oder gut überspielt.

Aber die Kürze und die dadurch notwendigen Auslassungen der 1922er Version von Lotte Reiniger haben einen ganz eigenen Reiz. Märchen müssen nicht logisch sein. Die heftigen Sprünge in den Handlungen kann man tatsächlich mit einer Raffung, wie wir sie in diesem Film sehen, noch einmal steigern und auch ein wenig ironisieren. Die Zwischentitel machen auf mich den Eindruck, als sei es so gewollt. Dem entgegen steht die herausragende Figurenzeichnung, was man in diesem Fall wörtlich nehmen darf. Wie man es in dieser Kürze hinbekommt, die Stiefmutter und die beiden Stiefschwestern bösartig wirken zu lassen und Aschenputtel rührend und berührend, den Prinzen ein wenig plain, aber gutartig, dazu in einem zweidimensionalen Trickfilmverfahren, das, würde ich sagen, ist im Realfilm so nicht möglich. Auch deswegen nicht, weil eine andere Erwartungshaltung besteht.

In dem kleinen Film von Lotte Reiniger sitzt bei jeder Person jede Bewegung, jede Geste ist exakt kalkuliert, jede ausgeschnittene Kontur ist durchdacht und unterstreicht die Persönlichkeit der Schattenrisse oder Silhouetten. Der Expressionismus steht dem Film gut und wird deutlich ferngehalten von der Figur Aschenputtel, die schlicht und süß wirkt, obwohl man nur ihre Umrisse sieht. Die Ränder des Bildes sind zuweilen gezeichnet wie in Ernst Lubitschs „Die Bergkatze“ (1921), seinem zumindest optisch expressionistischstem Film, die Art, wie die Dekors und Szenen zusammengestellt werden, sehr findig, bühnenhaft und überraschend. Die Bewegungen sind etwas ruckig, der Effekt ist bei späteren Filmen von Reiniger nach meiner Erinnerung nicht mehr so ausgeprägt, das Bild filmmert, wie es sich für einen so alten Film gehört, aber der Märchenzauber ist von der ersten Minute an präsent, und darauf kommt es an.

Finale

„Aschenputtel“ in dieser Version  lässt viel Raum für die Fantasie, mindestens so, wie wenn man das Märchen liest und es sich ausmalt, sich vielleicht sogar in eine der Figuren hineinversetzt und den Zauber spürt, den diese nicht immer gewaltfreien Grimm-Märchen entfalten können. Sich die Ferse abzuschlagen, nur, damit der Fuß in einen zu kleinen Schuh hineinpasst, ist eigentlich kein Stoff für kleinere Kinder, wenn man es so deutlich zeigt wie hier. Doch so sind Grimms Märchen. Mord, Mordversuche und Totschlag sind eher die Regel als die Ausnahme, und Menschen, die sich selbst in zwei Stücke zerreißen vor lauter Ärger über das Misslingen der eigenen niederträchtigen Pläne, die gehören zum grimmschen Personal wie die Erlösung der Heldin oder des Helden.

Bereits im Folgejahr begann Lotte Reiniger mit der Arbeit an „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, dem ersten abendfüllenden Trickfilm überhaupt. Dass dieser künstlerische Ansatz sich letztlich nicht gegen die Wunderwelt der farbig animierten Märchenverfilmungen von Walt Disney durchsetzen konnte, ist gut nachvollziehbar, denn sie erfordern weniger Abstraktionsvermögen oder, umgekehrt, weniger die Fähigkeit, sich das mehr Abstrakte zu eigen zu machen. In den 1920ern hat Reiniger noch mehrere Märchen verbildlicht und ab 1930 auch mit Ton gearbeitet und dabei einige sehr vergnügliche Miniatur-Operetten hervorgebracht. „Aschenputtel“ ist noch ein Stück Pionierarbeit und es wirkt, als sei das Ausschneiden ihrer Figur aus einem Stück Papier, das wir zu Beginn sehen, eine Einleitung zur Technik, zum Genre, der Opener in eine neue Filmwelt und wie sie gemacht ist. Mit wenig technischem Aufwand, aber mit sehr viel Gespür für das Zaubehafte und das Wesentliche gleichermaßen.

77/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

[1] Lotte Reiniger – Aschenputtel – (1922 / 1954)

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