Dr. Mabuse, der Spieler (DE 1921/22) #Filmfest 831 #DGR

Filmfest 831 Cinema – Die große Rezension

 Dr. Mabuse, der Spieler ist ein Stummfilm des Regisseurs Fritz Lang in zwei Teilen mit jeweils sechs Akten. Er wurde 1921/1922 weitgehend in den Jofa-Ateliers Berlin-Johannisthal[1] gedreht, basierend auf der durch Thea von Harbou adaptierten Romanvorlage von Norbert Jacques. Produktionsgesellschaft war die Uco-Film GmbH, an der auch Harbous und Jacques’ Verleger Ullstein beteiligt war.[2] Es handelt sich um den ersten Film über die Romanfigur Dr. Mabuse, weitere folgten über Jahrzehnte verteilt. Claude Chabrol inszenierte mit Dr. M (1990) eine Neuverfilmung.

Warum sind so viele Künstler, hier Fritz Lang, gegen Nietzsches Gedanken zum Übermenschen? Weil sie Angst haben, dass ihr Genie Allgemeingut wird. Damit gelangen wir direkt von Fritz Lang via Nietzsche zum Transhumanismus. In „Dr. Mabuse“, wie wir den Titel ab hier kürzen werden, ist das noch nicht so deutlich sichtbar wie in „Metropolis“ fünf Jahre später. Während Dr. Mabuse eigentlich ein Gaukler und Manipulator ist, der durch seine vielen Verkleidungen und die damit einhergehenden Änderungen seines Verhaltensgepräges andere manipuliert, kommt im Maschinenmenschen „Maria“ zum Ausdruck, wie sich die Idee vom Übermenschen im technischen  Zeitalter weiter manifestieren könnte, nämlich durch ein Kunstwesen, dem eine reale Person als Vorbild dient. Das ist keine Vereinigung, sondern eine Form von Ausgliederung aus dem Bestand der Menschheit. Jetzt haben wir nicht nur den Titel verkürzt, um auf einem Strang zu bleiben. Wir sind dieses Mal ziemlich direkt, nicht zusammenfassend eingestiegen und es geht weiter in der -> Rezension.

Handlung[1]

Teil 1: Der große Spieler — Ein Bild der Zeit (Premiere: 27. April 1922)[1]

Der Arzt und Psychoanalytiker Dr. Mabuse führt hinter der gutbürgerlichen Fassade seiner Praxis ein verbrecherisches Doppelleben. Er ist der Kopf einer verzweigten Verbrecherbande mit mafiösen Strukturen, die sogar die Polizei unterwandert hat. Nachts erscheint Mabuse in wechselnden Masken und Verkleidungen in Nachtclubs sowie legalen und illegalen Spielcasinos, wo er beim Kartenspiel seine Mitspieler durch Hypnose manipuliert, zu hohen Einsätzen verleitet und verlieren lässt. Außerdem manipuliert Mabuse durch Aktendiebstahl und gezielte Falschinformationen die Börsenkurse, ist in Spionagefälle verwickelt, besitzt Häuser, Autos, Yachten, Nachtclubs und sogar eine eigene Falschgelddruckerei. Das auf diese Weise erwirtschaftete Vermögen legt er in große Schmuggelaktionen an. Er ist ein Meister der Maske und der Hypnose und will mit seiner Verbrecherbande im Berlin der 1920er Jahre eine gesetzlose Schreckensherrschaft errichten, einen „Staat im Staate“, wie er es später selbst formuliert.

Ein rasanter Anfang führt den Zuschauer in die Welt des übermenschlichen Verbrechers ein: In einem internationalen Fernschnellzug wird ein Geheimkurier niedergeschlagen. Seine Tasche fliegt aus dem Fenster des Zuges und landet auf dem Rücksitz eines Autos, das von einem Komplizen pünktlich durch eine Unterführung des Bahndamms gesteuert wird. Die Tasche wandert von einer Hand zur anderen. Dann ist die Sensation perfekt. Der Diebstahl des Geheimvertrags wird in der Weltpresse veröffentlicht und führt zu einem Börsensturz. Dahinter steckt Dr. Mabuse, der aus der Baisse als einziger Kapital schlägt. Staatsanwalt von Wenk, Leiter des Spezialdezernats zur Bekämpfung der Spielleidenschaft, kommt dem dämonischen Verbrecher auf die Spur. Trotz aller Bemühungen der Polizei reichen die Beweise aber nicht, Mabuse zu überführen, geschweige denn zu verhaften. In einem Spielsalon lernt Wenk die Gräfin Told kennen, die er zur Mitarbeit überreden kann. Dr. Mabuse fährt inzwischen fort, die Menschheit für seine Zwecke zu missbrauchen. Sein Blick ist Befehl, dem sich keiner entziehen kann. Am Schluss des ersten Teils des Films steht er auf dem Höhepunkt seiner Macht; keiner seiner Gegner kann ihm das Wasser reichen.

Teil 2: Inferno, ein Spiel von Menschen unserer Zeit (Premiere: 26. Mai 1922)[1]

Die Gräfin Told, die im Auftrag von Wenks Dr. Mabuses Komplizin Cara Carozza aushorchen sollte und ihr ins Gefängnis folgt, versagt angesichts deren Leidenschaft für den dämonischen Doktor. Um Mabuse ihre wahre Liebe zu beweisen, nimmt sich Cara Carozza das Leben. Mabuse seinerseits begehrt die Gräfin Told; er entführt sie und richtet ihren Mann, einen degenerierten Adligen, systematisch zu Grunde, indem er ihn zuerst zum Falschspiel, schließlich unter Einsatz seiner stärksten Waffe, der Hypnose, zum Selbstmord treibt: In Trance schneidet er sich die Kehle durch. Doch der Untergang Dr. Mabuses bahnt sich an: Er will Wenk, seinen noch verbliebenen Gegenspieler, beseitigen lassen. Der Anschlag misslingt, und dies gibt Wenk die Möglichkeit zu kontern. Er treibt Mabuse in die Enge. Mabuse wird zusammen mit seiner Bande in seinem Haus von der Polizei belagert. Er verteidigt sich so verbissen, dass der Staat zum letzten Mittel greifen muss, dem Einsatz von Militär. Dennoch kann er noch einmal entkommen. Er flieht durch die Kanalschächte der Stadt und gelangt in seine Falschgeldwerkstatt. Dort angekommen findet er aber alle weiteren Fluchtwege verschlossen und auch der Rückweg ist versperrt – er sitzt wie ein gefangenes Tier in der Falle. Mabuse bricht zusammen, Bilder jagen ihm durch den Kopf, die Geister seiner Opfer verfolgen ihn. Die Polizei findet ihn, wahnsinnig geworden, inmitten eines Haufens Falschgeld sitzend.

Deutung gemäß1

Dr. Mabuse war ein Sensationsfilm und ein Erfolg. Aber der Nerv des Erfolgs lag hier nicht einmal im Sensationellen, das noch einigermaßen im Hintergrund blieb. Er lag in der Darstellung des Films als Zeitbild. Der Film sollte ein Spiegelbild der Weimarer Republik sein. Fritz Lang reflektiert darin Gesetzlosigkeit, Nachtlokale, Spielhöllen, Orgien, Anarchie und die Prostitution dieser Zeit.

In der Charakterisierung des Dr. Mabuse ist der Bezug auf Nietzsches Übermenschen nicht zu übersehen. Die Figur des Dr. Mabuse wird vielfach als Spiegelbild Adolf Hitlers interpretiert. Dieser erste Mabuse-Film bietet hierfür jedoch noch keine Ansätze. Erst mit Das Testament des Dr. Mabuse, der 1932 kurz vor der Machtergreifung Hitlers gedreht wurde, legte Lang eine solche Interpretation nahe, indem er der verführerischen Figur des Großverbrechers zahlreiche Zitate nationalsozialistischer Führungsfiguren in den Mund legte. Der frühe Mabuse von 1922 verkörpert jedoch – nach Langs Aussagen – den verbrecherischen Antistaat, während Hitler für den starken Staat stehe.

Rezension 

Dr. Mabuse verfügt sehr wohl über eine Fähigkeit, die ihn von anderen unterscheidet: Er kann deren Gedanken und Handlungen beeinflussen. In der Regel ist dazu Blickkontakt notwendig, die Ausführung ist stark an die Steuerung eines anderen durch Hypnose angelehnt, aber im Fall des Grafen Told sitzt Mabuse nicht einmal mit an dem Spieltisch, an dem Told sich ruiniert, sondern steht abseits. Auch wenn der technische Weg zur Weiterentwicklung des Menschen nicht unbedingt diese Fähigkeit in den Mittelpunkt stellt oder auch nur vorsieht, geht es auf jeden Fall um Geister mit dem Willen zur Macht und der Intelligenz, diese Macht einzurichten und auszuüben.

Ich weiß nicht, wie Siegfried Kracauer den Mabuse von 1921 in seine Deutung des deutschen Films „von Caligari bis Hitler“ stellt, während seine Haltung bei „Das Testament des Dr. Mabuse“ wohl eindeutig sein dürfte, in der Form, dass es sich um einen Endpunkt der Entwicklung handelt. Hitler ist an der Macht  und Filme wie dieser dürfen nicht mehr gedreht werden, weil sie diese Macht als Ausgeburt des Wahnsinns kennzeichnen. Nun ist Mabuse aber erst zum Schluss des Films von 1921 in diesen Zustand eingetreten und zuvor jemand, der ausloten will, wie weit man gehen kann, um das Schicksal anderer, womöglich der ganzen Welt, zu beeinflussen. Mit solchen Ideen stand Lang ganz im Zentrum einer Zeitströmung, die vor allem mit dem Ende der bürgerlichen Welt zu tun hat, die man vor 1914 kannte und die sich selbst doch weitgehend genug war.

Das Inferno dieses Krieges, das Dämonen freisetzte, von denen die Herrschenden in ihrer Unzulänglichkeit selbst überrollt wurden, sofern es sich um Monarchien wie die deutsche oder russische handelte, also in Ländern, die den Krieg nicht gewonnen hatten, rief oder schrie geradezu nach einem Konzept des Menschen, das über diese Unzulänglichkeit hinausging. Dass Friedrich Nietzsche seine Gedanken schon vor der Jahrhundertwende entwickelt hatte, steht dem nicht entgegen. Erst die fiebrige Welt der Weimarer Republik führte zu einer künstlerischen Eruption, zum Wechsel der Dämonen aus der Politik auf die Leinwand, um mit Lotte Eisner zu sprechen. Alles dies war zuvor angelegt, wie wir z. B. in Paul Wegeners „Der Student von Prag“ aus dem Jahr 1913 schon sehen können, aber die unglaubliche Beschleunigung bei der Entwicklung des Films in den frühen 1920ern war ein Spiegel des allgemein hohen Veränderungstempos. Freilich unter der Bedingung, dass der Film damals noch kein „reifes Medium“, sondern eben sehr entwicklungsfähig war. In ihm wurden dann schon Dinge gedacht, die heute recht aktuell erscheinen, wie eben die Erhebung von Menschen über die Spezies Mensch hinaus und damit die Schaffung einer Sonderkaste oder neuen Spezies. Dass wir heute damit so stark zugange sind und der Transhumanismus auch als philosophische Richtung immer mehr um sich greift, parallel zu den leider profaschistischen Superheldenfilmen, hat damit zu tun, dass wir, wie wir sind, das, was wir geschaffen haben und was es in der Welt anrichtet, nicht mehr beherrschen.

Die Bankenkrise von 2008 beispielsweise ist genuiner Ausdruck dieser Unfähigkeit, die hypertrophen Systemen noch im Griff behalten zu können, die der Finanzkapitalismus geschaffen hat. Wenn man so will, saßen die Banker, die sich für die Achse der Welt hielten, da wie Dr. Mabuse am Ende des Films und redeten nur noch wirr. Was nicht einmal der kühne Filmvisionär Fritz Lang zu prophezeien wagte: Die Normalmenschen, die Allgemeinheit, mussten die Banken aus dem selbst angerichteten Desaster retten, damit nicht das gesamte Wirtschaftssystem aus den Fugen geriet. So groß war der Unterschied zwischen Mabuses Möglichkeiten und der Realität bei weitem nicht. Am Ende wird es sogar recht banal und mein Eindruck ist, dass dabei die zuweilen kräftig ins Triviale schwenkenden Drehbuchideen von Thea von Harbou eine Rolle spielten. Dr. Mabuse verliebt sich ein eine Frau, die sich ihm aber verweigert und alles geht zum Teufel. Haben Sie je von einem Fall gelesen oder gehört, in dem ein Banker-Narzisst an unerwiderter Liebe scheitert? Als er noch nicht gerüttelt und gerührt ist von der Gräfin Told, wird er als Börsenguru eingeführt, das ergibt im dargestellten Zusammenhang eminent viel Sinn.

Der Aspekt der Frau als Femme fatale wider Willen (in „Metropolis“: nach dem Willen ihres Erfinders) macht den Mann Dr. Mabuse durchaus ein wenig lächerlich, das dürfte Fritz Lang auch bemerkt haben. Vermutlich hat er es mit einem Augenzwinkern quittiert, falls es nicht doch seine Idee war, was wiederum dazu geführt hat, dass dieser Aspekt der Ironisierung des Übermenschen, der an seinen Wallungen scheitert („Ich bin nicht mehr der Mann, der ich war!“) bei der Rezeption des Films eine zu kleine Rolle einnimmt.

Vielleicht hat Lang andeuten wollen, dass die aufkommenden Nazis mit ihrem Gehabe, inklusive eines gewissen Herrn H., der damals noch Rhetorik-Eleve war, an schlichter Unvereinbarkeit von Weltmacht und mangelnder Impulskontrolle scheitern würden. Dass beides miteinander einhergeht, nämlich als krudes Ideologie des Herrschens, verbunden mit mangelnder Empathie bei vielen der Diener:innen dieses Systems, ist in „Dr. Mabuse“ noch nicht zu erkennen. Es ist auch heute schwer vorstellbar in seiner Radikalität und Totalität. Wenn man genau hinschaut, ist Dr. Mabuse auch in anderen Situationen, ist er schon zuvor kein Dämon, der den Weltplan in der Hand hält, sondern ein eitler Mensch, der sich durchaus im Kleinteiligen verlieren kann. So, wen er sich zum Beispiel über die Sicht anderer auf ihn aufregt. Das dürfte ihn nicht berühren, wenn er ein Übermensch wäre.

Spätestens hier werden die Leser:innen dieses Artikels bemerken, dass ich mehr zu Fritz Langs Position tendiere, die das Sich-Überheben, und sei es durch technisches Enhancement, kritisch sehen, auch um den Preis, dass die meisten von uns weit entfernt von Genie oder Perfektion verbleiben werden. Aber die Saat geht auf, der radikale Individualismus, der Mabuse prägt und von den Neoliberalen vertreten wird, äußert sich in unserem Alltag in unzähligen Life-Hacks, die, wenn man sie alle berücksichtigen würde, uns einer neuen Spezies von Perfektionsnahen schon ohne größere technische Einbauten näherbringen würde. Leider oder  zum Glück erfordert die gleichzeitige Berücksichtigung aller dieser Tipps eine Kognition, die kein normaler Mensch aufweist. Enhanced man Menschen hingegen technisch, müssen sie das alles ja nicht mehr mühsam erlernen und mit zu vielen Bällen jonglieren, das tut der künstlich aufgepeppte Teil der humanen Intelligenz.

Es ist zwar diskrimierend, wie Psychoanalytiker im Film immer wieder gezeigt werden, so auch hier, nämlich als etwas oder auch ziemlich gaga, wo sie doch Patient:innen heilen (helfen) sollten, die gaga sind. Die Hellsichtigkeit dieser Konzeption ist jedoch unübersehbar: In Menschen tief einzusteigen, heißt auch, Macht über sie zu gewinnen und sie manipulieren zu können. Dazu muss man nicht über Kräfte verfügen, die dem Traktierten heftige Kopfschmerzen verursachen, wie es die Einwirkung des Dr. Mabuse auf den Grafen Told illustriert. Es reicht aus, dass derjenige, der behandelt wird, die Kontrolle abgibt oder abgeben muss. Dann ist es wichtig, dass Vertrauen nicht missbraucht wird. Dann ist es evident, dass sich ein in diesem Moment unbedingt in der Machtposition befindlicher Heiler nicht als Hexenmeister geriert.

Wie ist es dann aber mit den vielen Therapien, die aus diesem Urknall der Psychoanalyse entstanden sind und die darauf hinauslaufen, dass wir uns ständig selbst zu optimieren haben? Hat das etwas mit mehr Weisheit und innerem Wachstum gemein? Und läuft die Perfektionierung von Abläufen und die Perfektionierung des Denkens nicht auf das Gleiche hinaus? Nämlich auf eine Existenz, die der allgemein üblichen, vom Alltag gerüttelten der meisten Menschen bei weitem enthoben ist? Es ist ja gerade eine Kritik am Transhumanismus, dass er auch mechanistisch ist und geisteswissenschaftliche Aspekte der gewünschten Entwicklungen nicht durchdenkt. Insofern naiv, gleichwohl gefährlich. Wie der Technikglaube an sich, der vielen Menschen eignet, die über ihren Konstruktionen, heute Bits und Bytes, den Humanismus vergessen. Wir sind technisch gereift, geistig aber nicht.

Gehen wir noch einmal 100 Jahre zurück, in die ausgefranste, durch das Urtrauma des 20. Jahrhunderts paralysierte speziell deutsche Welt, aus der Mabuse und Hitler emporstiegen. Auch viele Nazis waren von einem sehr schlichten Weltbild und von der Aufnahme einer allenfalls vulgarisierten Form philosophischer Denkgerüste wie dem von Nietzsche in ihre Ideologie geprägt. Um Nietzsche passend zu machen, mussten sie beispielsweise seine Abneigung gegen den Nationalismus wegkürzen. Bei Mabuse bleibt wenig mehr als der Wille zur Macht und das Gefallen daran, sie immer weiter zu treiben. Dabei wird er zum Gejagten, der über eine Trophäe stolpert, die er eben nicht kraft seiner geistigen Fähigkeiten erobern kann, sondern schlicht entführen lassen muss, um wenigstens die räumliche Herrschaft über sie zu erlangen. Das ist das Ende auch des Selbstbildes dieses Mannes, das Unheil zeichnet sich ab, als ihm die Gräfin einfach nicht zu Willen sein möchte. Insofern ist Mabuse natürlich auch ein Generalnarzisst und passt in das Schema, das pathologische Narzissten als manipulativ, machtversessen, gewissenlos, aber auch von der Furcht der Entdeckung oder der unüberwindbaren Hürde eines starken Widerstands gepeinigt ausweist.

Das Prinzip Mann vs. Frau wird selbstverständlich in vielen Filmen ausgebreitet, zur selben Zeit, in der Fritz Lang zu Meisterschaft fand,  auch von F. W. Murnau auf eine ganz andere, eher romantisierende und im 19. Jahrhundert verhaftete Art und Weise, die sich auch in der abweichenden Bildsprache ausdrückt. Lang ist modern, das spürt man heute noch, wenn man sich Mabuse anschaut. Er ist am Puls der Zeit, das Alte ist begraben, das Neue höchst beunruhigend und hemmungslos, während Murnau es noch gegen moderne Exzesse kämpfen und sogar siegen lässt, wie etwa in „Der brennende Acker“, den wir kürzlich angeschaut haben. Wie letztlich auch in „Nosferatu“, wo das weibliche Prinzip sich im Opfer für die Welt manifestiert. Die Variante gibt es im Lang-Modus auch in „Dr. Mabuse“: Eine Frau gibt sich ganz diesem Meister hin, ist emotional vollkommen von ihm abhängig, aber gerade deswegen genügt sie ihm nicht mehr und er sieht sich nach einer Nachfolgerin um. Sinnfällig wird sie auch dort einquartiert, wo die andere in seinem Haus gewohnt hat, die nun durch Selbstmord aus dem Leben geschieden ist. Mit dem fatalen Unterschied, dass Erstere freiwillig dort war, dem Meister nah, während die zur Sukzessorin Auserkorene instinktiv eine Abneigung gegen den Mann, sein Denken, seine Art verspürt. Es geht gut aus, nebenbei bemerkt, der gewissenhafte und mutige Staatsanwalt, der den starken Staat repräsentiert, auf den Lang wohl mehr gehofft als vertraut hat, siegt über Mabuse und da auch Graf Told im Suizid endete, ist der Weg frei für das natürliche Liebespaar dieses Films. Ich bin immer geneigt zu schreiben: Ein echter Habou-Move, der Langs Filme dann immer einigermaßen allgemeinverständlich macht, das Publikum bei der Stange hält, das von Mabuse allein wohl bald bedient wäre,  und den Vorteil der zielsicheren Verwendung von Konventionen hat, die bis heute gültig sind. Nie hat Lang einen Film gedreht, der nicht auch ein wenig amerikanisch gewirkt hat, in seiner Mischung aus Kühnheit und Schlichtheit.

Murnau konnte die Menschen auch mal richtig böse erschrecken, wie mit „Nosferatu“, Lubitsch sie überfordern, mit einem intellektuell und dekorativ ungewöhnlichen, den Expressionismus schon beinahe in Richtung Surrealismus verlassenden Film wie „Die Bergkatze“, aber das Duo Lang-von Habou war wirklich kongenial darin, eine Balance zu finden, die Film wie „Mabuse“ heute noch, man kann geradezu sagen, gut konsumierbar macht. Man findet sehr vieles, was sich erhalten hat, auch das ist eine Auszeichnung, sofern man das heutige Kino, das immer auch kalkuliert ist, für einen Fortschritt gegenüber dem hält, was die hinter der Kamera hochgradig fiebernden, ganzheitlichen Avantgardisten zur Historie des Mediums beigetragen haben. Leider hat Lang sich, wie fast alle anderen Europäer, sich in den USA so einfügen müssen, dass ihm viel von seinem Schwung und seiner Originalität verloren ging. Das verbindet ihn mit den meisten Emigranten, dass er in Deutschland seiner Ausnahmestellung gewiss sein konnte, im Hollywoodsystem aber nur ein bekannter Name unter vielen bekannten Namen war. Sollte er sich je mit Mabuse auch ein wenig identifiziert haben, neben der Bloßstellung dieses Charakters als Ziel, dann wurde ihm diese Attitüde in Tinseltown weitestgehend ausgetrieben. Von den deutsprachigen Auswanderern in die Staaten konnte sich im Grunde nur Murnau mit „Sunrise“ sehr eigenständig stellen. Die anderen blieben gut, aber sie waren eben Räder im System.

Das Sittenbild und die Verwerfungen der Zeit waren zwar in Langs späteren Filmen immer wieder präsent, sehr deutlich beispielsweise noch in „Fury“, seinem ersten amerikanischen Film, den ich für ähnlich gut halte wie die deutschen Hauptwerke, unter Berücksichtigung der Einschränkungen, die ihm das Studiosystem auferlegte und der Tod in einer Form, die den Atem raubt und ganz dicht an den Zuschauer herantritt, dichter als irgendeine der Figuren, das ist nicht vergessen. Man sagt, dieses Thema von Lang sei durch den Selbstmord seiner ersten Frau in seine Filme hineingekommen, aber da bin ich nicht sicher. Schon zuvor hat er sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und es bereits 1921 in „Der müde Tod“ zum Titel gemacht. Dieser Quasi-Episodenfilm hatte mich sehr beeindruckt und ihn etwas höher bewertet als „Dr. Mabuse“, der bei etwa 85/100 herauskommen wird.

Finale

Es sind aber nicht nur die kolportagehaften Elemente, die „Dr. Mabuse“ doch in reichlichem Maße enthält und die im sozusagen endlichkeitspoetischen „Der müde Tod“, wenn vorhanden, doch ehr in die Fabel hinübertransformiert werden, während sie in dem Gegenwartsfilm um den Spieler und seine Zeit ganz unvermittelt auftreten, sondern auch, dass die viereinhalb Stunden dramaturgisch etwas flach geraten sind. Der Film ist eher ein Singsang als eine Arie oder Ballade, entfaltet aus der Gleichrangigkeit der Szenen auch einen beachtlichen Sog, der das Publikum seinerzeit in den Bann gezogen haben durfte, weil die vielen Handlungselemente in der Art ihrer Darstellung damals noch exorbitant waren. Da gilt es, ein paar Abstriche in Sachen Modernität zu machen, sofern man davon ausgeht, dass die Dramaturgie heutiger Film so ausgefeilt ist, wie es einem mittlerweile 127 Jahre alten Medium gebührt, dass sich immer vorwärts, nie seitwärts entwickelt hat und immer dabei blieb, sich als Mainstream-Event zu perfektionieren. Alles andere sind Filme für kleine Minderheiten, auch wenn sie wertvoll sind. Wir erfahren die Handlung weitgehend als Duell-Situation, in der das Gute in Form des Staatsanwalts gegen das Böse in Person von Dr. Mabuse antritt und das Mädchen kriegt der Gewinner, notabene der Gute. Auch Lang hatte also das Bedürfnis, bei einem so aufwendigen Film letztlich auf der sicheren Seite zu bleiben, und das kann man verstehen. Es wirkt auch tröstlich, während man sich am Ende von „Metropolis“ doch fragt, ob die Versöhnung der Klasse der Kapitalisten mit derjenigen der Arbeiterklasse durch das Herausschälen der echten Maria aus den Trümmern ihres maschinellen Ebenbildes etwas sozialkitschig geraten ist.

Selbstverständlich ist dieser Zweiteiler von fast fünf Stunden Länge ein Meilenstein-Film und einer der wichtigen, die das Weimarer Kino definiert haben. In dem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass er nicht mehr expressionistisch ist, sondern schon in Richtung neue Sachlichkeit tendiert, Mabuses besondere Fähigkeiten hin oder her. Der Graf Told ist nämlich ein Sammler expressionistischer Kunst und auch sein Haus ist, anders als die Umgebung aller anderen Figuren, so dekoriert. Dazu gibt es einen famosen Dialog, der für die Zeit schon von überragender Reflexivität dem Medium Film und den Kunstrichtungen gegenüber ist. Als der Graf den Mabuse fragt, was dieser vom Expressionismus hält, antwortet dieser sinngemäß, das sei auch nur eine leere Hülle. Ebenso deutlich die Gräfin: Muss man in dieser – wörtlich – toten Umgebung nicht schwermütig werden und sich nach Zerstreuung in Nachtclubs sehnen? Damit ist natürlich auch ihr etwas entrückter Mann gemeint, aber seine Aufmachung, sein Geschmack, die alles ist für Lang suspekt, tatsächlich dem Tod geweiht, und sei es durch Selbstmord. Filmhistorisch hatte Lang unbedingt recht, der Expressionismus hat sich zwar in den amerikanischen Film noir transzendiert und die Visualität von Filmen allgemein stark beeinflusst, aber in seiner scharfen äußeren Ausprägung, wie wir sie in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ sehen, war er nicht überlebensfähig. Hat Lang auch darauf rekurriert, dass einige expressionistische Filme, auch dieser, von Kritikern teilweise für Schaumschlägerei gehalten wurden, weil sie zwar diese sensationelle Optik aufwiesen, aber keinen Bestandteil des expressionistischen Themenkreises zum Inhalt hatten? Möglich. Lang war ein äußerst wacher Mensch, dicht an der Zeit, im Team mit einer Drehbuchautorin, die das Überzeitliche jenseits der filmischen Mode geschickt herauszudestillieren wusste.

84/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

[1] Dr. Mabuse, der Spieler – Wikipedia

Regie Fritz Lang
Drehbuch Fritz Lang,
Thea von Harbou
Produktion Erich Pommer für die Uco-Film
Musik Konrad Elfers (Neuvertonung, 1964)
Osmán Pérez Freire
Michael Obst (Neuvertonung, 1991)
Aljoscha Zimmermann (Neuvertonung, 2004)
Mark Scheibe (symphonische Neuvertonung, 2022)
Kamera Carl Hoffmann
Besetzung

 

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