Crimetime Vorschau Titelfoto © HR, Bettina Müller
„Ein Tatort, der mit ästhetischen Reizen nicht geizt, mit einer opulenten Bildsprache und einer intensiven Gesamtkomposition aus Ton, Bild, Licht und Schnitt, die einen sofort in den Bann zieht, sodass man sich auch etwas „berauscht“ fühlt. (…) Martin Wuttke zeigt in seiner Paraderolle als undurchschaubarer Psychoanalytiker sein ganzes schauspielerisches Können und stellt einen reizvollen Gegenpart zu den sehr geerdeten und im Hier und Jetzt verwurzelten Kommissaren Brix und Janneke dar. Deren kollegiale Beziehung ist zum Schluss um eine kleine Nuance reicher (…). Das Finale ist beileibe nichts für empfindsame Gemüter, doch nach dieser wilden Story über rauschhafte Gefühle und Grenzerfahrungen mutig, aber konsequent inszeniert.“ Redaktion Tatort-Fans
Optische Reize sind schon länger ein Kennzeichen der HR-Krimis, besonders der Murot-Fälle, nachdem im Wege mehrerer Teamwechsel der Standort Frankfurt seine Stellung als einer der progressivsten, modernsten Tatortschienen verloren hatte. Ob man inhaltlichen und gestalterischen Fortschritt durch einen Hang zum Spuk ausgleichen kann, darüber scheiden sich die Geister.
Auch wichtig: Zwei Wochen nach dem Wien-Tatort sehen wir schon wieder einen Psychodoktor, der es offenbar faust(isch) dick hinter den Ohren hat und weniger heilt als für Unheil sorgt. Nun ja, in diesen Zeiten steht auch die Schulmedizin immer mehr in der Kritik, aber die Zuschreibungen in Tatorten sind schon augenfällig und durchaus diskriminierend. Natürlich nur gegenüber Gruppen, die keine lautstarke Lobby mobil machen können, um Redaktionen einzuschüchtern und Filme der Reihe möglicherweise sogar in den „Giftschrank“ zu bringen. Viele Tote sind allerdings dafür kein Grund, das hat man beim HR schon getestet, als man mit „Im Schmerz geboren“ den bisherigen Rekord pulverisierte und ca. 40 Leichen den Weg des Geschehens pflasterten. Auch in „Leben Tod Ekstase“, in wild zeitgeistiger Manier ohne Kommata geschrieben, kommt es gleich zu sechs Todesfällen und dieses Mal ist es eine Therapiegruppe. Hatten wir noch nicht, insofern ein Pluspunkt für Innovation.
Auf jeden Fall freue ich mich auf ein Tatort-Wiedersehen mit Martin Wuttke, der als Kommissar im Leipzig-Krimi in einer ungünstigen Konstellation unterwegs war und sich nie so recht in die Herzen des Publikums spielen konnte, trotz seiner unbestreitbaren Fähigkeiten. Das Publikum war zu sehr damit beschäftigt, seine Partnerin Eva Saalfeld (Simone Thomalla) nicht zu mögen.
Lassen wir weitere Stimmen zu Wort kommen:
„Eine geheimnisvolle Spannung um eine Gruppe toter Patienten liegt in der Luft – und dann wird nichts draus gemacht (…) Der Tatort wird zu einer abgedroschenen Mischung aus Horrorfilm und Terminator. Viel zu konstruiert, viel zu gewollt – und den Ausstieg einfach verpasst. Das hat mir keinen Spaß mehr gemacht – da kann leider auch der grandios gespielte Dr. Goser nichts mehr dran ändern. Deshalb gibt es insgesamt nur 2 von 5 Elchen.“
Wenn Sie von Elchen lesen wissen Sie, es handelt sich um den SWR3-Check, denn nur dieser macht mit Tatorten einen Elchtest. Die Nr. 1213 ist offenbar mindestens in schwerer Schräglage, wenn auch möglicherweise nicht umgekippt. Jedenfalls müssen wir uns erst wieder etwas von dem Schreck erholen und tun das mit den Großrezensor:innen von Tittelbach-TV:
„Der Hessische Rundfunk bestätigt seinen Ruf als schrägster „Tatort“-Lieferant: In der psychedelischen Frankfurter Folge „Leben Tod Ekstase“ läuft die Drogentherapie des Dr. Adrian Goser (Martin Wuttke) völlig aus dem Ruder. Nachdem sich seine sechsköpfige Therapiegruppe unwissentlich den Trip ins Jenseits eingeworfen hat, artet auch die Tatort-Begehung in Gosers schöner Villa in ein blutiges Kammerspiel aus. Janneke (Margarita Broich) und Brix (Wolfram Koch) bleiben inmitten eines Strudels aus Wahnsinn cool. Farbenprächtige, fantasievolle, dem Thema entsprechende Optik, ein Martin Wuttke in Hochform, eine mit Zitaten und komischen Details angereicherte Handlung und auch eine musikalisch hörenswerte Reise ins wolkige Reich der Psycholyse. Ein buchstäblich berauschendes „Tatort“-Debüt von Regisseur und Drehbuch-Koautor Nikias Chryssos.“
Na bitte, geht doch. Im Rausch ist ja auch alles schöner, anders als danach. Nun ist Tittelbach-TV für seine eher affirmative Haltung zum Format bekannt, während der SWR-Check sich in letzter Zeit zu einem wirklich kritischen Magazin entwickelt. Wir sind schon gespannt, wie das aussieht, wenn wieder eine hauseigene Produktion zu rezensieren ist. Vielleicht finden wir ja noch etwas zwischen Ablehnung und Begeisterung.
„Seriöse Psychotherpeuten werden sich schon nach wenigen Minuten mit dem „Tatort: Leben Tod Ekstase“ die Haare raufen. Bestätigt der 16. Fall von Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) doch so ziemlich alle überholten Klischees, die man der Seelenklempner-Profession vorwirft. Vor allem jenes, dass hier viel Hokuspokus passiert und die Therapeuten eigentlich verrückte Möchtegern-Gurus seien, die Spaß an Manipulation haben und Kontrolle über Menschen gewinnen wollen. Martin Wuttke, früher selbst „Tatort“-Kommissar in Leipzig und nebenbei Ex-Ehemann von Margarita Broich, spielt den umstrittenen Psychoanalytiker Dr. Adrian Goser. (…) Tatsächlich ist „Leben Tod Ekstase“ Wasser auf den Mühlen derer, die dem „Tatort“ vorwerfen, er experimentiere zu viel und man solle doch lieber einen „anständigen Krimi“ so wie früher zeigen. Natürlich ist auch diese Position Unfug, denn es gibt nur gute und weniger gute Filme. (…) Bei „Leben Tod Ekstase“ ist jedoch nicht nur eine Psycholyse-Sitzung aus dem Ruder gelaufen, sondern auch die Produktion eines Films über eben dieses Thema. (…)“
Also doch wieder, nur drei Wochen nach Wien. Vielleicht sollten die Therapeut:innen wirklich mal eine Interessenvertretung gründen, die so viel Wind machen kann wie die Ärzteschaft oder ethnische Gruppen, die sich in Tatorten irgendwie falsch dargestellt fühlen. Die Realität ist eher, dass es äußerst schwierig ist, Menschen auch nur zum Guten, zur Heilung, zum Glück zu manipulieren, was ja dem eigentlich neutralen Begriff dann auch die Chance auf Bedeutungs-Recovery geben würde. Nachdem nun also der Murot-Krimi sich etwas „normalisiert“ hat, müssen Brix und Janneke für die wiedergewonnene Experimentierlust des HR herhalten und klemmen dabei im hinteren Drittel der Beliebtheitsskala der Tatort-Teams fest. Nebenbei erfährt man auch Privates. Da wird sich Martin Wuttke besonders angestrengt haben, seine Ex im Spiel zu übertrumpfen. Das ist allerdings nicht schwierig, denn die Figur Anna Janneke, die Margarita Broich verkörpert, wird, nicht nur in Relation zu Möchtegern-Gurus, sondern auch im Vergleich zu anderen aktuellen Ermittler:innen, sehr pragmatisch und unprätentiös dargestellt.
„Psycholyse, wie die im „Tatort“ angewandte Therapie Gosers genannt wird, wurde tatsächlich in den 1950er Jahren entwickelt. In Deutschland wird sie von den Krankenkassen allerdings nicht zugelassen und ist auch wissenschaftlich nicht anerkannt“, weiß TV Spielfilm und ich frage mich umgehend, ob das im Film wenigstens erwähnt wird. So viel Faktenquatsch (für diesen Begriff sind keine Synonyme verfügbar) könnte jedoch die Stimmung und das Gurumäßige zerstören, woran die Macher mit ganz viel Energie gearbeitet haben und was u. a. die „ungewöhnliche Optik“ hervorgebracht hat, die das Psychedelische von Drogentrips spiegeln soll. Ob dies heute noch so ungewöhnlich ist, werden wir sehen, denn in Sachen Visualität hat sich, beginnend in den späten1990ern, im Tatortformat eine erhebliche Wandlung hin zu mehr Show vollzogen.
Es ist uns nicht mehr gelungen, die negativen Stimmen so richtig mit Gegenbeispielen auszugleichen, aber das liegt natürlich auch daran, dass wir es in den Vorschauen bei höchstens fünf dargestellten Meinungen belassen. Die wichtigste ist ohnehin welche? Genau, diejenige, die erst publiziert werden kann, wenn wir uns auch dieses Wunderwerk mit starker Verrührung von Klischees angeschaut haben werden.
TH
Handlung
Die Kommissare Anna Janneke und Paul Brix sehen sich mit dem Tod von sechs Frauen und Männern konfrontiert, die allesamt an einer Psycholyse-Sitzung teilgenommen haben und während der Therapiestunde ums Leben kamen. Im Rahmen ihrer Ermittlungen geraten sie an Dr. Adrian Goser, einen umstrittenen Psychoanalytiker und den einzig Überlebenden. Goser ist bekannt dafür, eine besondere Form der Psychoanalyse durchzuführen, bei der psychedelische Drogen verwendet werden, um zu einer absoluten Selbsterkenntnis zu gelangen.
Während Brix Goser für einen Hochstapler hält, der seine Patienten bewusst in die Abhängigkeit lenkt, bleibt Janneke seiner Therapie gegenüber ambivalent. In der Hoffnung, die letzten Stunden vor der Tat rekonstruieren zu können, wird Goser als Hauptverdächtigter zu einer Tatortbegehung in seine Villa geholt. Während die Ermittler Goser unter Druck setzen und auf ein Geständnis hoffen, weist dieser jegliche Schuld von sich und positioniert sich als Opfer einer grausamen Tat, an deren genaue Umstände er sich nicht erinnern kann. Während der Begehung werden auf einmal von einer unbekannten Person alle Zugänge zum Haus verriegelt und ein erster Schuss fällt. Sagt Goser doch die Wahrheit? Handelt es sich hierbei um einen Angriff des eigentlichen Täters, der nun auch das letzte Opfer hinrichten will? Und was hat die vor einem Jahr verschwundene Performancekünstlerin Ellen mit dem Fall zu tun?
Besetzung und Stab
Rolle | Darsteller |
---|---|
Anna Janneke | Margarita Broich |
Paul Brix | Wolfram Koch |
Dr. Adrian Goser | Martin Wuttke |
John | Pit Bukowski |
Syd | Frederik von Lüttichau |
Ellen Jensen | Aenne Scharz |
Isabelle von Kanis | Uisenma Borchu |
Jonas | Issak Dentler |
Azad | Doguhan Kabadayi |
Sabine | Friederike Ott |
Funktionsbereich | Name des Stabmitglieds |
---|---|
Musik: | John Gürtler |
Jan Miserre | |
Kamera: | Jonas Schneider |
Buch: | Michael Comtess |
Nikias Chryssos | |
Regie: | Nikias Chryssos |