„Eine Zensur findet nicht statt“ (Verfassungsblog, Kommentar) | Frontpage | Demokratie in Gefahr

Frontpage | Ethik / Recht, Verfassungsrecht | Demokratie in Gefahr

Art. 5 GG, Meinungs- und Pressefreiheit

 (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

„Eine Zensur findet nicht statt“. Diesen letzten Satz aus Art. 5 Abs. 1 GG hat Maximilian Steinbeis, Herausgeber des Verfassungsblogs, heute für das neue Editorial des Blogs herausgegriffen und erläutert im Folgenden den Unterschied zwischen Zensur und Sanktion. Das eine darf oder sollte es nicht geben, das andere findet jeden Tag statt.

teinbeis, Maximilian: Eine Zensur findet nicht statt, VerfBlog, 2022/10/14, https://verfassungsblog.de/eine-zensur-findet-nicht-statt/, DOI: 10.17176/20221008-110434-0.

Eine Zensur findet nicht statt – Verfassungsblog

Wir haben uns dazu ein paar Gedanken gemacht. Wenn wir einen kurzen Blick in Richtung USA werfen, mag dieses Land vielen hier als Paradies der Meinungsfreiheit erscheinen. Zugegeben, so dachten wir auch für lange Zeit. Aber unter der Prämisse, dass das Land eine andere Geschichte hat, in der es zum Beispiel nicht zu einer Nazi-Diktatur kam und somit nicht zu einem so massiven Grund, der Demokratiefähigkeit der Bevölkerung zu misstrauen. Heute ist die Lage so: Nazis weltweit, auch aus Deutschland, beziehen aus den USA ihre Informationen, weil dort die Meinungsfreiheit eben so weit ausgelegt wird, dass es kaum Schranken für die Publikation von Meinungen gibt. Kritisch wird es im Grunde nur, wenn es um Whistleblowing geht, wie wir wissen, und gerade das ist schade und verständlich zugleich. Es kommt auf die Perspektive an, die man dabei einnimmt.

Zensur, so erklärt Steinbeis in seinem Artikel zu Art. 5 GG, ist ein Vorab-Verbot, das es gar nicht erst ermöglicht, dass Menschen sich zum Beispiel wegen Holocaust-Leugnung vor Gericht zu verantworten haben. Dass Letzteres der Fall ist, wird von Art. 5 Abs. 2 umfasst. Ohne diese Einschränkung der Meinungsfreiheit wären auch strafrechtliche Tatbestände, die das Abschneiden der persönlichen Ehre unter Strafe stellen, nicht wirksam und jeder dürfte alles sagen, was ihm passt, ohne dass er dafür Nachteile zu befürchten hätte. Das ist aber etwas anderes als die erwähnte Vorab-Prüfung z. B. von Medienmaterial durch staatliche Stellen, wie es sie in Diktaturen immer gibt. Nun könnte man feststellen: Wo ist der Unterschied im Ergebnis? Nicht sagen dürfen und es sagen dürfen, aber mit möglichen Konsequenzen, ist doch gleichermaßen eine Beschränkung der Meinungsfreiheit.

Das ist es auch nach unserer Ansicht nicht in gleichem Maße. Wenn der Staat schon vorab entscheidet, was publiziert werden darf, entscheidet er auch über den Umfang des Eingriffs in die Meinungsfreiheit und verwehrt uns die Möglichkeit, prüfen zu können, wie gefährlich oder falsch das nicht Publizierte tatsächlich ist. Wer hingegen rassistisch oder antisemitistisch unterwegs ist, dessen Äußerungen können auch wir als Zivilgesellschaft bewerten und, jeder für sich, darüber entscheiden, ob solche Äußerungen im konkreten Fall zu Recht sanktioniert wurden. Außerdem wird die Einzelperson nicht vorab bevormundet, sondern muss lediglich damit rechnen, dass sie Probleme bekommt, wenn sie bestimmte Fakten leugnet oder bestimmte Meinungen vertritt. In den USA gibt es eine solche Form der Sanktionierung kaum, das haben wir erwähnt.

Da wir immer die optimale Lösung für eine funktionierende Demokratie in den Blick nehmen, fragen wir uns natürlich auch, was ist besser. Sie werden es bereits ahnen: Dass in Deutschland bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen, ohne dass es zu Sanktionen kommt, halten wir für richtig. Und zwar je mehr, desto mehr die Entwicklung in den USA vollkommen außer Kontrolle zu geraten droht, weil jeder einfach unbewiesen alles Mögliche behaupten darf. Wer bei uns Fakten verbreitet, muss auch dafür geradestehen, dass er nicht bewusst Fake News in die Welt setzt. Schwierig genug, in der Realität, auch wir können nicht immer den Beweis führen, von uns publizierte Informationen betreffend, sondern müssen  uns auf Quellen verlassen, von denen wir hoffen, dass sie möglichst seriös sind. Wir schreiben auch nicht standardmäßig einen Disclaimer dazu, diese Art von Formalie trägt nichts zur Diskussionskultur bei, falls man glaubt, sich damit sozusagen von allem, was man publiziert, freizeichnen zu können.

Wenigstens aber sind Fake News, anders als in den USA, bisher wenigstens kein Gegenstand der politischen Alltagskultur. Die Meinungsfreiheit ist auch hierzulande immer noch stark ausgeprägt, wie man am Ukrainekrieg siegt. Niemand wird dafür belangt, dass er Putins Angriffskrieg propagiert. Sanktioniert wird vor allem das, was die persönliche Ehre und Würde von Menschen betrifft und was aus der deutschen Vergangenheit nachvollziehbar mit einem Bann belegt ist. Jenseits der Holocaustleugnung und eines eindeutigen Antisemitismus wird aber immer wieder darüber gestritten, wird immer wieder anhand von Einzelfällen diskutiert und definiert, was sich z. B. jemand, der als Politiker:in in der Öffentlichkeit steht, an teilweise starkem Gegenwind und auch an Äußerungen gefallen lassen muss, welche die meisten von uns eindeutig als Übergriff empfinden würden, würden sie uns gelten.

Die weite Auslegung, die wir häufig sehen, geht einher damit, dass diese Personen ganz unmöglich jede falsche Aussage über sie oder jede Beleidigung verfolgen können, dazu reicht schlicht die Kapazität nicht aus und in solchen Fällen können keine Dritten stellvertretend (bzw. in angemaßter Stellvertretung oder, wenn es um zivilrechtlichen Schadensersatz geht, im Sinne einer GoA) Klage führen und es handelt sich nicht um Delikte, die sich der Staat von sich aus auf die Verfolgungsagenda setzen muss. Würde er das tun, wäre zwar auch dies keine Zensur, aber ein stärkerer Eingriff in die Meinungsfreiheit, weil es etwas wie objektive Kriterien für den Moment geben müsste, an dem eingeschritten wird. Wie mit Begriffen umgegangen wird, hängt aber auch vom Kontext ab, in dem sie verwendet wurden und davon, wie sich die Sprache entwickelt. Heute ist vieles gängig, worüber man sich früher aufgeregt hätte. Deswegen würde auch eine Filmzensur, wie sie im Verfassungsblog-Artikel angesprochen wurde, heute anders aussehen als in den 1950ern.

Die Rahmenbedingungen, unter denen Meinungsfreiheit austariert wird, haben sich allerdings in den letzten Jahren stark verändert. Schuld daran ist das Internet, das zunächst Blogs wie dieses ermöglichte und dann kamen die sozialen Medien. Nachdem es nun mehr und mehr darauf hinausläuft, dass die Betreiber dieser Medien Inhalte überprüfen und nötigenfalls „vom Netz nehmen“ und sperren können, ist die Zensurdiskussion neu aufgeflammt. Denn das, was dabei von Facebook, Twitter & Co. verlangt wird, kann man zwar spitzfindig als Nicht-Zensur bezeichnen, wenn man sagt: Es war ja schon veröffentlicht und die Sanktion ist die Entfernung!, aber stimmt das? Wir sehen das kritisch, denn eine private Stelle bestimmt ohne gerichtliche Prüfung darüber, was gesagt oder gezeigt werden darf, wohl aber im Auftrag des Staates, der hier nach unserer Ansicht eine wichtige Aufgabe an Private delegiert, die seine Sache im Sinne der Einschränkung der Meinungsfreiheit nach dem bewährten Muster wäre. Er delegiert aber nicht nur, er zwingt auch zu einer Vorgehensweise, die niemals die Schranken der Meinungsfreiheit sinnvoll definieren kann. Um nicht selbst unter Druck zu geraten, als Verantwortliche für alles, was auf ihrer technischen Plattform veröffentlicht wird, werden die betroffenen Stellen eher restriktiv mit Inhalten umgehen und so eine Diskussion und Bewertung durch die Öffentlichkeit und die Gerichte im Keim ersticken oder gar nicht erst entstehen lassen, wenn das „vom Netz nehmen“ rechtzeitig erfolgt – vielleicht sogar in der Form, dass erst geprüft und Inhalte gar nicht erst freigegeben werden. In der Tat wäre das eine Form von Zensur, deren Ausübung zudem von u. E. untauglichen Stellen vorgenommen werden soll.

Die Balance zwischen Meinungsfreiheit und dem Schutz von Menschen und Gruppen vor Diffamierung der Demokratie vor Fake News ist und bleibt schwierig und wurde durch die sozialen Medien nicht einfacher. Man muss sich aber der Mühe unterziehen, genau hinzuschauen und kann soziale Plattformen, die u. E. nicht mit Verlagen zu vergleichen sind, was den Verantwortungsgrad für das bei ihnen Publizierte angeht, nicht als Zensoren einsetzen, wenn Zensur im Sinne von Vorab-Bewertung und evtl. Vorenthalten von Inhalten nicht einmal staatlichen Stellen gestattet ist. „Entspricht nicht unseren Richtlinien“ ist eine gefährliche Begründung für das Sperren von Inhalten, denn diese Richtlinien kanalisieren öffentliche Meinung, ohne in der Öffentlichkeit verhandelt und bezüglich ihrer Auslegung überprüft worden zu sein. Wir sind bisher nicht Opfer dieser Form von – eben doch? – Zensur geworden. Weil „pro domo“ bisher keine Rolle spielt, stehen wir aber nicht neutral, die Wahrung der Meinungsfreiheit betreffend, sondern setzen uns für eine möglichst freie Auseinandersetzung in den sozialen Medien ein. Die Grenzen, die einzuhalten sind, kann man im Grunde gut erkennen. Es sind jene, die Gesetze und Gerichte auch bei anderen Medien und anderen Möglichkeiten der Ansprache setzen. Wo es um die Leugnung bewiesener Tatsachen, um Rassismus oder Antisemitismus geht oder um die Straftatbestände, die allgemein den Schutz der Person und ihrer Würde vor allzu rüden Angriffen schützen sollen, darf und sollte eingegriffen und sanktioniert werden.

Die Demokratie in den USA ist um einiges älter als die hiesige, auch wenn sie nicht von Beginn an vollständig war und zwischenzeitlich sogar hinter der deutschen zurück, die Rechte für alle betreffend. Gemäß mehreren Demokratie-Indizes steht Deutschland auch heute besser da. Trotz der sehr, sehr weit ausgelegten Meinungsfreiheit in den USA. Grenzenlos ist sie nicht, wie man gerade am Beispiel eines Veschwörungstheoretikers gesehen hat, der die Sandy-Hook-Morde als Inszenierung seitens der Opfer markierte. Er wird fast eine Milliarde Dollar für diese Fake News und dem, was er den Opfern damit angetan haben, zahlen müssen. Das Hypertrophe der USA darin natürlich auch sichtbar, denn Schadensersatz ist dort ein eigener Wirtschaftszweig, in dem sich Anwälte auf eine Weise profilieren können, die hierzulande, sagen wir, bisher eher unüblich ist. Harte Meinungen stehen eben auch harten Strafen gegenüber, wenn jemand zu weit geht.

Wenn wir heute beurteilen sollen, welche Verfahrensweise die bessere ist, würden wir sagen, in der Tat hat der deutsche oder auch europäische Weg, die Grenzen der Meinungsfreiheit etwas enger zu ziehen, einige Vorteile bezüglich der politischen Kultur. Ob dieser Schutz vor Entgleisungen und entgleisenden Politiken wie Donald Trump hält und ob er nicht dafür sorgt, dass viel mehr verdeckt abläuft, ist durchaus der Diskussion zugänglich, ganz im Sinne ebenjener Meinungsfreiheit. Von den oben angedeuteten klaren No-Gos abgesehen, muss jede Gruppe in der Gesellschaft das Recht behalten, dem Streben nach Diskurshoheit, und sei es durch Bann bestimmter missliebiger Ansichten, ihre eigene Ansicht über das, was gesagt werden darf und was nicht, entgegenzusetzen. Probleme dürfen z. B. nicht durch eine sogenannte bessere Sprache unter den Tisch gekehrt werden. Ob desweiteren Einschränkungen, die man sich selbst auferlegt oder glaubt auferlegen zu müssen, weil man sonst aus dem (vermuteten) Common Sense fällt, Selbstzensur sind, müsste ebenfalls untersucht werden. Es ist auffällig, wie jede Gruppe derzeit den jeweiligen gesellschaftspolitischen Gegnern unterstellen, den Diskurs verschieben zu wollen. Dabei ist das nichts weiter als die Entwicklung des Zeitgeistes, der es möglich macht, Dinge zu sagen, die früher tabu waren und es verlangt, bei wiederum anderen Dingen achtsamer zu sein, weil die Gesellschaft mehr Wert darauf legt als früher. Dabei darf es im Grunde auch keine Rolle spielen, wie der Outcome ist, nämlich, wie sehr sich eine Gesellschaft zivilisatorisch verbessert oder verschlechtert, wenn bestimmte Meinungen und Ausdrucksweisen in ihr dominieren. Dieses Ergebnis wird ja erst erzeugt durch die Diskussion darüber, wo wir bezüglich der Kommunikation in der Gesellschaft hinwollen. Die Meinungsfreheit muss eine ungehinderte Diskussion darüber in den beschriebenen Grenzen zulassen, wenn sich die Gesellschaft überhaupt auf Basis eines halbwegs freien Meinungsaustauschs weiterentwickeln soll.

Wir halten aber nichts davon, immer dann, wenn sich kleiner Minderheiten oder „Alternativmedien“ mit ihren Ansichten nicht im Mainstream gespiegelt sehen, von einer Diskursverengung zu sprechen. Nicht, solange jeder seine abweichende Meinung kundtun und dafür sorgen darf, dass sie viele Anhänger findet. Der Spin des Scheinheldentums derer, die sich wahlweise unterdrückt oder ausgegrenzt sehen, ist aber leicht zu durchschauen und ihn zu verbreiten, liegt bisher ebenfalls im Rahmen der Meinungsfreiheit.

Einen Sonderfall stellen offensichtlich Propagandamedien des kriegführenden Auslands dar.

Wir sind durchaus zwiespältig, was z. B. die Beschränkung ausländischer Medien, hier des Angebots von RT Deutsch im Wege des russischen Angriffs auf die Ukraine, angeht, die man vorgenommen hat, während gleichzeitig sonstige staatliche und religiöse Propaganda in Deutschland ungehindert betrieben wird. Wir hätten wohl nicht so entschieden. Denn um was handelt es sich dabei? Um eine Zensur selbstverständlich. Um eine, die zudem erkennbar selektiv betrieben wird.

Das ist gewissermaßen die Pointe und die Einschränkung. Auch, wenn es um eine Ausnahme geht, dieses Beispiel wird gerne vergessen, wenn es heißt „Eine Zensur findet nicht statt“. Allein, weil das so ist, sehen wir es eher als Schwäche der Demokratie an, dass deren Institutionen zu diesem Mittel greifen, anstatt konkrete Äußerungen zu sanktionieren, wenn sie nachweisbar falsch sind. Putinfreundlichkeit ist nicht unser Beritt, aber sie allein darf nicht dazu führen, dass die Medienfreiheit durch Zensur eingegrenzt wird. Ganz praktisch gesehen ist die Wirkung auch viel zu gering, um das schlechte Beispiel zu rechtfertigen.

Eine Begründung des BVerfG dazu wird uns selbstverständlich interessieren. So weit wir wissen, wurde das Verbot des TV-Angebots von RT Deutsch auf eine fehlende Sendelizenz gestützt. Doch warum gibt es diese Lizenz nicht bzw. kann nicht erworben werden und ist sie nicht jedem Medium zu erteilen, das die oben genannten, allgemein anerkannten Grenzen der Meinungsfreiheit noch nicht verletzt hat?

TH

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s