„Jede:r dritte Deutsche ist Kinomuffel“ – Statista + Kommentar | Filmfest Special

Kultur | Filmfest Cinema Special | Kinobesucher:innen in Deutschland

Liebe Leser:innen, in der Rubrik „Filmfest“ ist der Beitrag richtig angesiedelt, obwohl er auch im Wirtschaftsbereich, etwa beim Feature „Briefing“ angesiedelt sein könnte. Aber das Filmfest befasst sich vorwiegend mit Kinofilmen. Die deutsche Kinokultur ist sowieso eher mittelprächtig, Amerikaner:innen sehen sich zum Beispiel viel häufiger Filme auf der großen Leinwand an. Corona hat das Geschehen dann beinahe endgültig komplett lahmgelegt. Und gegenwärtig sieht es so aus, als ob die mittelfristigen Folgen  der Pandemie eher negativ sind, auch wenn es keine pandemiebedingten Einschränkungen mehr gibt:

Infografik: Jede:r dritte Deutsche ist Kinomuffel | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Trotz der schrittweisen Lockerung der Corona-Maßnahmen waren die wenigsten Deutschen 2022 häufiger im Kino als vor 2020. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage von Statista und YouGov, laut derer nur vier Prozent der Befragten im laufenden Jahr häufiger ein Kino besucht haben als zu Vor-Pandemie-Zeiten. Wie unsere Grafik zeigt, sind ein beträchtlicher Anteil der Umfrageteilnehmer:innen auch gar keine Kino-Fans.

Rund 35 Prozent der Befragten geben an, dass sie gar nicht ins Kino gehen. Die Gründe dafür sind unklar, könnten zum Teil aber auch in der Praxis von Streamingdiensten begründet sein, bestimmte Filme schon kurze Zeit nach dem Leinwanddebüt in ihren Katalog aufzunehmen. Zu den besten Beispielen hierfür dürfte das Marvel-Franchise zählen. Dr Strange in the Multiverse of Madness erschien beispielsweise schon knapp zwei Monate nach dem Kinostart im Mai 2022 auf Disney Plus.

Vor dem coronabedingten Einbruch belief sich der Kinoumsatz in Deutschland seit 2009 in etwa zwischen 900 Millionen und einer Milliarde Euro pro Jahr. Laut Filmförderungsanstalt konnte die Branche 2021 373 Millionen Euro generieren, was ein leichtes Plus gegenüber 2020 darstellt. Der in Deutschland erfolgreichste Film 2021 war das Daniel-Craig-Vehikel Keine Zeit zu sterben, das etwa 65 Millionen Euro einspielen konnte.

Zur Ergänzung präsentieren wir Ihnen hier noch einmal eine Statistik vom Jahresanfang:

„Keine Zeit zu sterben“ ist der jüngste James-Bond-Film und der letzte mit Daniel Craig. Manchmal wurden Filme während der Pandemie sogar prioritär zum Streamen angeboten, die ursprünglich fürs Kino geplant waren.

Während in den USA vor Corona jährlich etwa eine Milliarde Kinobesuche gezählt wurden, waren es in Deutschland schon vor der Pandemie höchstens 120 bis 130 Millionen: Entwicklung der Anzahl der Kinobesucher bis 2021 | Statista. Auf die Bevölkerungsgröße umgerechnet, bedeutet dies, dass US-Amerikaner:innen fast dreimal so häufig ins Kino gehen wie Menschen in Deutschland. Die Prognose, die in dieser Grafik noch die Jahre ab 2017 ohne Pandemie darstellt, ging schon nicht von einer Steigerung aus. In Wirklichkeit waren 2021 nur noch 38 Millionen Kinobesuche gezählt worden, der Umsatz brach von knapp unter einer Milliarde Euro auf 318 Millionen Euro ein. 2021 lief es nur wenig besser, die Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor. Selbst, auf den Stand vor der Pandemie zu kommen, dürfte schwierig werden.

Das Medium Film ist im Wandel, hochkarätige Fernsehserien und das zugehörige Binge-Watching laufen dem Kino mehr und mehr den Rang ab, zumal echte Innovationen kaum noch stattfinden. Zuletzt alten sie vor allem technischen Verbesserungen wie der weiteren Vervollkommnung der CGI und dem 3D-Erlebnis. Inhaltlich ist ohnehin kein Aufbruch zu neuen Ufern in Sicht, sondern lediglich die Tendenz, das Altbekannte in immer krasser bombastischer Form darzubieten. Die Versuchung liegt nah, festzuhalten: Die Endzeit kündigt sich durch manische Übertreibungen an, ähnlich wie bei der Größe und dem Design von Autos.

Auch deswegen beschäftigen wir uns beim Wahlberliner mehr und mehr mit der kompletten Geschichte des Kinos und dem, was es vor langer, langer Zeit schon konnte – und stoßen dabei immer wieder auf erstaunliche Ergebnisse, die wiederum den Spin „alles schon mal dagewesen, alles schon gesehen“ fördern. Natürlich stimmt das nicht durchgängig, aber das Kino ist unzweifelhaft ein reifes bis überreifes Medium, das dringend neue Impulse bräuchte: Downsizing der Budgets, modernes, aber nicht abgehobenes und durch CGI aufgepepptes Filming, das eine konstante Leere in den Blockbustern offenbaren würde, die wir derzeit haben. Wir müssen diesbezüglich auch kritischer werden, das wissen wir selbst. Die Kritik in der allgemeinen Presse, in Fachpublikationen, im Online-Bereich ist im Wesentlichen und wesentlich zu affirmativ gegenüber altem Wein in neuen Schläuchen. Unzählige Stoffe werden derzeit zum x-ten Mal verfilmt, aber entsteht dabei ein Fortschritt, eine Vertiefung?

Manchmal wirkt die Sicht „zeitgemäß“, der Stil sowieso, beides entfernt sich dabei aber immer mehr vom Ausgangspunkt und bietet kein Aha-Erlebnis mehr. Über das profaschistische Superheldenkino haben wir uns schon das eine oder andere Mal geäußert und diese Erscheinung in den allgemeinen gesellschaftlichen Kontext der späten 2010er und frühen 2020er gestellt. Kaum denkbar, unter gegenwärtigen realen Umständen, dass sich an diesem Trend etwas ändert. Oder doch? Ein Bruch, zurück zu den Wurzeln? Richtige Menschen in den Vordergrund rücken? Zu Beginn der 1960er wurden in Deutschland fast 900 Millionen Kinokarten jährlich verkauft, obwohl die Filme sicherlich nicht besser waren als heute, zumindest nicht die heimischen.

Vielleicht geht doch noch was, wenn es wieder einfach mehr Spaß macht, unterwegs und unter Menschen zu sein. Umso besser, wenn es dann im Kino wirklich etwas zu sehen gibt. Noch besser, wenn sich alle wieder ein Kinoerlebnis leisten können, die derzeit vielleicht nicht nur wegen kein Bock abstinent sind. Für einen Kinobesuch mit Familie und ein bisschen Drumherum sind schnell 50 bis 100 Euro ausgegeben. Da lohnt sich auch ein Großbildfernseher  zu Hause ziemlich schnell und gemütlich ist es auch. Kino ist etwas mit Ausflug für Familien und mit Cineastentum auf der anderen Seite. Letzteres bringt aber nicht die großen Umsätze und auch wir müssen uns wirklich überwinden, um z. B. ins Babylon Berlin zu gehen, anstatt uns einen der unzähligen wichtigen historischen Filme günstig im Homeoffice, wenn man es so nennen will, anzuschauen. Es hat auch etwas mit Ritualen und Traditionen zu tun, heute noch ins Kino zu gehen – und mit all dem sieht es gerade nicht so gut aus, vieles kommt derzeit auf den Prüfstand. Mögen die Kinopaläste uns trotzdem erhalten bleiben. Irgendwann kommt wieder eine Zeit für sie.

Theater und das Konzert vor Ort sind schließlich wegen der Möglichkeit, sich hochwertige Aufführungen bei Arte anzuschauen, auch noch nicht ausgestorben. Okay, ganz das Gleiche ist eine Live-Veranstaltung nicht, schließlich ist auch ein Kinofilm eine Konserve, wenn er im Kino abgespielt wird. Wie wär’s denn mal mit einem guten Stummfilm, begleitet von einem Live-Orchester? In Berlin geht das und wir hätten gerne, dass es auch noch geht, wenn wir wieder Lust auf und Ressourcen für so etwas haben.

TH

 

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