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Liebe Leser:innen, es ist so weit. Das Thema Wohnen bekommt wieder eine eigene Rubrik beim Wahlberliner. Wir haben lange überlegt, uns dann für einen Aufbau wie beim Briefing entschieden: Unter dem Oberthema „Housing“ bilden wir Unterkategorien heraus. Vom an statistischen Daten orientierten Wohnreport bis zum berlinischen Kampf gegen den Mietenwahnsinn haben wir so die Möglichkeit, unter einem – sic! gemeinsamen Dach unterschiedliche Akzente zu setzen.
Über allem steht der Gedanke, steht unsere Überzeugung, dass (angemessenes) Wohnen ein Menschenrecht ist. Dementsprechend haben wir das Logo für die Rubrik gestaltet. Wie beim „Briefing“ und anderen Reihen kann das Logo durch speziellere Darstellungen oder, wie bei diesem Artikel, durch eine Infografik, ersetzt werden und wird dann nicht als Titel, sondern im Beitrag gezeigt Auch der umgekehrte Fall ist möglich.
Leider wohnen nicht alle Menschen und so fangen wir heute an. Mit der Wohnungslosigkeit. Dazu hat Statista vor ein paar Tagen eine Grafik herausgegeben, die sich mit der Dauer von Wohnungslosigkeit befasst.
Infografik: Wohnungslosigkeit ist meist ein langfristiges Problem | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Fast fünfzig Prozent der laut Statistischem Bundesamt rund 178.000 untergebrachten Wohnungslosen in Deutschland sind seit mehr als zwei Jahren in den entsprechenden Einrichtungen. Darunter fallen sowohl Gemeindeverbände und gewerbliche Anbieter sowie freie Träger wie das Diakonische Werk oder die Caritas. Wie unsere Grafik zeigt, hat rund ein Drittel der Menschen ohne eigenen festen Wohnsitz, deren Zahl ohne mit aktivem oder abgelehntem Asylverfahren in Deutschland lebende Geflüchtete auf etwa 262.200 geschätzt wird, keine temporäre oder dauerhafte Bleibe.
Besonders auffallend ist die Tatsache, dass etwa ein Viertel aller in Einrichtungen einquartierten Wohnungslosen minderjährig ist. Laut einer im Februar 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage im Rahmen des Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales besitzen 71 Prozent der Befragten die deutsche Staatsangehörigkeit, zwei Prozent sind als staatenlos kategorisiert.
Bei den in Einrichtungen erfassten Menschen zeigt sich ein anderes Bild, hier haben 69 Prozent keinen deutschen Pass. 16 respektive 11 Prozent der gesamten Wohnungslosen stammen aus den von Krieg und Konflikt betroffenen Ländern Syrien und Afghanistan, 12 Prozent aus afrikanischen Ländern und neun Prozent aus dem EU-Ausland. Während deutsche Wohnungslose häufig der Kategorie der Alleinstehenden zuzordnen sind, entfallen bei ausländischen Menschen ohne Unterkunft mit 44 Prozent fast die Hälfte auf Familien mit Kindern.
Besonders die Wintermonate stellen für Wohnungslose eine Gefahr dar. Laut der BAG Wohnunglosenhilfe erfroren im Winter 2020/2021 etwa 23 Menschen. Aber auch außerhalb der kalten Jahreszeit sind Menschen ohne eigene feste Unterkunft zunehmend Gewalt ausgesetzt. Der bereits erwähnten Umfrage zufolge haben mehr als die Hälfte aller Befragten Gewalt erfahren, davon waren 70 Prozent verbaler und 49 Prozent körperlicher Gewalt ausgesetzt.
Wohnunslosigkeit ist nicht gleich Obdachlosigkeit, Letztere ist eine Form von Wohnungslosigkeit, die jene nicht umfasst, die in Einrichtungen leben. Sie sind nicht in der obigen Grafik enthalten.
Armut, Wohnungslosigkeit & Obdachlosigkeit: Begriffe leicht erklärt (govolunteer.com)
Als wohnungslos bezeichnet werden Menschen, die keinen eigenen Mietvertrag haben. Meistens leben sie in Einrichtungen, in denen sie zeitlich begrenzt wohnen können. Oder sie kommen kurzfristig bei Freund:innen oder der Familie unter.
Die Obdachlosigkeit ist ein Teilgebiet der Wohnungslosigkeit. Obdachlose Menschen haben, wie wohnungslose Menschen, keinen festen Mietvertrag. In Abgrenzung an diese leben sie aber meist auf der Straße. Zu den häufigsten Gründen für das Abrutschen in die Obdachlosigkeit zählt zu 51% Dauerarbeitslosigkeit, zu 48% Alkoholabhängigkeit und zu 44% Überschuldung (Mietschulden).
In der Grafik genannt ist Zahl der Wohnungslosen, die im Jahr 2020 angenommen wurde (ca. 260.000):
Obdachlosigkeit: Zahl der wohnungslosen Menschen steigt – auch durch Corona – DER SPIEGEL
Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland ist einer Schätzung zufolge von 2018 bis 2020 um acht Prozent auf 256.000 Menschen gestiegen. Das teilte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) mit. Es habe von 2018 auf 2019 einen Anstieg um 9,3 Prozent gegeben, von 2019 auf 2020 dann einen leichten Rückgang um 1,5 Prozent, hieß es. Im Laufe des Jahres 2020 lebten demnach 45.000 Menschen auf der Straße.
Nicht in diesen Zahlen enthalten sind Geflüchtete, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, im Jahr 2020 waren es ca. 160.000 Personen. Durch den Ukrainekrieg ist diese Zahl wieder stark angestiegen. In Berlin beispielsweise finden nicht mehr alle Menschen, die im laufenden Jahr aus dem Kriegsgebiet hierher geflohen sind, sofort in Wohnungen Platz.
Die Ampelregierung wollte der Wohnungslosigkeit mit dem Bau von 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr in Deutschland entgegenwirken, Fachverbände erachten dies als nicht ausreichend:
»Mit 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr – wie von der Ampelregierung versprochen – kann dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht ausreichend entgegengesteuert werden. Zusätzlich zu den Sozialwohnungen werden weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt.« (Quelle: Der Spiegel, s. o.)
Vermutlich wird diese Zahl aufgrund der aktuellen Lage außerdem weit verfehlt werden. Überall hört man vom Einbruch beim Wohnungsbau. Wir werden das, wenn Zahlen für 2022 vorliegen, besprechen. Außerdem ist für uns eindeutig, dass „Sozialwohnungen“ nicht gleich Sozialwohnungen sind. Es muss dringend eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit geschaffen werden, die es ausschließt, dass Wohnungen nach einigen Jahren automatisch aus der Mietpreisbindung fallen. Im Zuge des Liberalisierungswahns der späten 1980er hat man mit der Aufgabe der Wohnungsgemeinnützigkeit dem Staat eines der wichtigsten sozialen Steuerungselemente geraubt. Dieser Fehler muss nach über 30 Jahren endlich behoben werden, damit der Wohnungs- und Obdachlosigkeit dauerhaft und mit einer echten Bleibeperspektive für alle Betroffenen der Kampf angesagt werden kann. Auch die Enteignung profitorientierter privater Wohnungskonzerne, wie sie durch staatliche Verscherbelungspolitik erst enstanden sind, ist ein unerlässlicher Schritt auf dem Weg zum Wohnen als Menschenrecht.
In Berlin kam es diesbezüglich im September 2021 einen Volksentscheid, der die Politik auffordert, in diesem Sinne zu handeln. Bis jetzt ist nicht einmal abzusehen, wie mit dem Entscheid umgegangen wird, der von einer Mehrheit von knapp 60 Prozent der Stadtbevölkerung getragen wurde. Dazu tagt bereits seit Monaten eine Kommission. Doch der Winter orientiert sich nicht an der Saumseligkeit der Politik. Der Dezember ist kälter als in den vorausgegangenen Jahren, einige Nächte haben bereits zweistellige Minustemperaturen gezeigt.
Die am selben Tag, an dem der Volksentscheid stattfand, wiedergewählte rot-rot-grüne Stadtregierung von Berlin hat sich den Kampf gegen die Obdachlosigkeit auf die Fahnen geschrieben. Dazu muss sie aber das Angebot an Wohnungen schaffen, das dazu dient, dass Menschen mit einem guten Gefühl einen ersten Schritt weg von der Straße machen. Wir werden diese Regierung mehr am Erfolg auf dem Gebiet der Wohnungspolitik messen als an jedem anderen Thema.
In Berlin sind die Angebotsmieten im Jahr 2022 wieder um fast 9 Prozent gestiegen, das ist im Jahresdurchschnitt erneut und wie seit vielen Jahren ein höherer Wert als jener der allgemeinen Inflation. Der Mietenwahnsinn geht weiter, obwohl die Einwohnerzahl der Stadt in den Jahren 2020, 2021 nicht mehr gewachsen ist. 2022 dürfte durch die erneut hohe Zahl an Geflüchteten, die hierherkamen, jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen sein, wie wir ihn während der gesamten 2010er Jahre sahen. Er betrug im abgelaufenen Jahrzehnt per Saldo (Zuzüge minus Fortzüge) zwischen 20.000 und 80.000 Menschen jährlich.
Obwohl in den letzten Jahren, speziell in der Regierungszeit der ersten rot-rot-grünen Koalition, mehr Wohnungen neu bezugsfertig gemeldet wurden als in Jahrzehnten zuvor, hat sich der Wohnungsmarkt in Berlin bisher also kaum entspannt. Das schlägt sich nicht nur in weiter steigenden Mietpreisen nieder, sondern verhindert auch die Verwirklichung des Rechts auf Wohnen für alle.
Die Energiepreisexplosion, die wir gerade erleben, wieder verstärkte Fluchtbewegungen, höhere Zinsen für Baukredite, weiter stark ansteigende Mietpreise, das alles wird die Möglichkeit, der Wohnungslosigkeit entgegenzuwirken, nicht nur begrenzen, wir befürchten sogar einen weiteren Anstieg von Obdach- und Wohnungslosigkeit. Ein Indiz dafür ist, dass die Armut, die oft der Wohnungslosigkeit vorausgeht oder sie begleitet, sich auf Rekordniveau befindet. Im Jahr 2021 waren nicht weniger als 20,7 Prozent der Menschen in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen.
Von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffene Bevölkerung 2021 | Statista
Im Jahr 2022 wird der durchschnittliche Reallohn in Deutschland, je nach Quelle, um 4,3 bis 5,7 Prozent sinken, eine Fortsetzung dieser Tendenz im Jahr 2023 ist sehr wahrscheinlich. Dadurch werden weitere Menschen in Gefahr kommen, ihre Bleibe zu verlieren. Das Recht auf angemessenes Wohnen für alle wird auf diese Weise immer mehr Menschen vorenthalten. Diese Entwicklung ist Teil einer seit Jahren festzustellenden allgemeinen Erosion von Grundrechten, besonders von sozialen Grundrechten. Eine Entwicklung, die sich angesichts der vielen Krisen, die wir derzeit sehen, beschleunigt. Vereinzelte lokale Fortschritte bei der Umsetzung des Rechts auf Wohnen werden von der allgemeinen negativen Entwicklung zunichte gemacht. Diese Entwicklung muss also dringend gestoppt werden. Dafür müssen gerade in Krisenzeiten mehr Mittel eingesetzt werden, um Wohnungen in öffentlicher Hand entstehen zu lassen und vorhandene Wohnungen zu rekommunalisieren.
TH