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Briefing 86 (hier zu 85)
Unser Gesundheitssystem ist dank oder durch Corona so sehr in den Mittelpunkt gerückt wie selten zuvor. Inklusive aller seiner Schwächen. Heute ein weiterer Schock: Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich in Deutschland innerhalb von nur zehn Jahren verdoppelt.
Die folgende Statista-Grafik zeigt, dass diese Verdoppelung fast ausschließlich dem Bereich der ambulanten Pflege zu verdanken ist, die Heimbelegung scheint sich nicht wesentlich verändert zu haben.
Infografik: Fast 5 Millionen Pflegebedürftige | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
4,96 Millionen Menschen in Deutschland waren laut Statistischem Bundesamt Ende 2021 pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI).“Die starke Zunahme um 0,83 Millionen Pflegebedürftige (+20 %) ist – wie auch die großen Sprünge in den Jahren 2017 und 2019 – überwiegend auf die Einführung eines neuen, weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum 01.01.2017 zurückzuführen, heißt es in der Pressemitteilung der Behörde. 84 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Die übrigen 16 Prozent werden in Pflegeheimen vollstationär betreut. 79 Prozent der Betroffenen sind 65 Jahre und älter. Die Mehrheit (62 Prozent) der Pflegebedürftigen ist weiblich.
Grundsätzlich finden wir es gut, wenn Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung wohnen bleiben können und nicht „ins Heim“ müssen. Altersheim sagt heute kaum noch jemand, aber ob man es nun so nennt oder Seniorenresidenz, was durchaus ein Hinweis auf qualitative Unterschiede sein kann, es ist ein großer Schritt, den viele ältere Menschen aus nachvollziehbaren Gründen nicht gerne gehen, obwohl sich für manche von ihnen die soziale Anbindung dadurch eher verbessern dürfte. Home alone lieber als coming together in einem Heim?
„Im Vergleich zu Dezember 2019 sank die Zahl der in Heimen vollstationär versorgten Pflegebedürftigen um 3 % (-25 000). Die Zahl der zu Hause gepflegten Personen nahm dagegen insgesamt um gut ein Viertel (+26 %) oder 858 000 zu. Die Zahl der durch ambulante Dienste betreuten Pflegebedürftigen stieg um 6,5 % (+64 000). Die Zahl der überwiegend durch Angehörige versorgten Pflegebedürftigen stieg um gut ein Fünftel (+21 %) oder 437 000. Zudem wuchs die Gruppe der Pflegebedürftigen im Pflegegrad 1 ohne Leistungen ambulanter oder stationärer Einrichtungen beziehungsweise mit ausschließlich landesrechtlichen Entlastungsleistungen um 171 % (+357 000). Wie erwähnt, ist ein Teil dieses Anstiegs (etwa 160 000 Pflegebedürftige) auf die Behebung einer vorherigen Untererfassung zurückzuführen.“ 5 Millionen Pflegebedürftige zum Jahresende 2021 – Statistisches Bundesamt (destatis.de)
Allein seit 2019 gab es eine erhebliche Verschiebung, die vor allem der starken Zunahme zu Hause gepflegter Menschen zu verdanken ist.Wir meinen, man darf da nicht pauschalisieren, sondern muss sich jede einzelne Persönlichkeit, um dies es geht, genau anschauen. Unumstößliche Tatsache ist aber, dass der rasante Anstieg Pflegebedürftiger mehr Personal erfordert. Da dies nicht hinreichend zur Verfügung steht, sprechen wir schon seit Jahren vom Pflegenotstand, ohne dass es konzeptionell untermauerte Verbesserungegen gegeben hätte. Fachkräfteeinwanderung ist sicher ein Stichwort und die Zahl der Pfleger:innen aus dem Ausland, vor allem aus Osteuropa, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Angesichts der Tatsache, dass nun immer mehr Menschen aus den geburtenstarken Jahrgänge der Pflege bedürfen, dürfte das nicht ausreichen.
Eine gewisse Hoffnung bestand darin, dass sich auch der Gesundheitszustand der Senior:inne weiter verbessert, wie er es bisher auch getan hat. Sind Menschen mit 60, 70 oder darüber hinaus heute nicht oft noch topfit und sehen auch so aus? Ja, in dieser Generation gibt es das noch, es verbindet sich mit einer höheren Lebenserwartung. Irgendwann kann aber auch die beste Selbstfürsorge trotzdem in Pflegebedürftigkeit münden, gerade, wenn es immer mehr Hochbetagte gibt. Wir wünschen uns trotzdem, dass Menschen ein möglichst langes Leben genießen können. Wir sind nicht auf der Seite jener, die hinter vorgehaltener Hand oder ganz offen kundtun, dass alle, die nicht mehr finanzialisierbar sind, sondern Geld kosten, weg können. Diesen Typ finden sie z. B. unter jenen, die das Renteneintrittsalter immer weiter anheben wollen.
Noch ein paar Krisen wie Corona und allgemein immer mehr Unsicherheit, und das alles wird sich vielleicht von selbst erledigen. Bereits aktuell ist eine merkliche Übersterblichkeit zu verzeichnen, nicht nur in Deutschland. Wenn sich das fortsetzen und dann zur Normalsterblichkeit wird, wird die Lebenserwartung nicht mehr steigen. Viele Menschen sind jetzt auch in jüngeren Jahren schon in einem schlechten körperlichen und mentalen Zustand. In den USA, wo bekanntlich die Trends gesetzt werden, steigt die Lebenserwartung seit Jahren nicht mehr. Trotzdem gut möglich, dass das keine Entlastung für die Pflege bedeutet, denn dass Menschen, die körperlich nie voll erblüht sind, um es negativ zu poetisieren, das Potenzial haben, früh pflegebedürftig zu werden, liegt auf der Hand.
Wir müssen dem Artikel schon vor der Veröffentlichung eine Korrektur mitgeben: „Altenheime“ sind keine Pflegeheime, auch wenn hohes Alter und Pflegebedürftigkeit häufig miteinander einhergehen. Insofern sind auch die Bestandteile des Artikels, die sich mit den Lebensumständen im Alter befassen, nicht zentral für die Lehren aus der obigen Grafik.
TH