Frontpage | Briefing 110 | Für und Wider im Ringen um die Reduktion der Abgeordnetenzahl im "aufgeblähten Parlament"
Finden Sie auch, dass mehr Repräsentation bessere Repräsentation ist? Oder meinen Sie, der Bundestag könnte etwas kleiner sein. Fakt ist, dass Deutschland eines der größten Parlamente weltweit hat und seit Längerem darüber diskutiert wird, wie man diese Entwicklung zu immer mehr Abgeordneten bremsen könnte. Zunächst die Entwicklung als Statista-Grafik:
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Der aktuelle Deutsche Bundestag besteht aus 736 Abgeordneten. Deren Anzahl ist seit 2002 kontinuierlich gestiegen, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Politikwissenschaftler:innen sahen im Vorfeld der letzten Bundestagswahl sogar realistische Chancen für ein XL-Parlament mit über 800 Abgeordneten. Schuld sind Überhangmandate, die ausgeglichen werden müssen. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimmen erhält, als ihr Sitze im Bundestag über die Zweitstimmen zustehen. Genau diese Überhangmandate will die Ampelkoalition nun abschaffen. Künftig soll nur noch die Zweitstimmen über die Stärke der Parteien im Bundestag entscheiden. Diese künftig Hauptstimmen genannten Stimmen entscheiden, wie viele der 598 Bundestagsmandate jeder Partei bundesweit zustehen. Über den Entwurf sollen die Fraktionen bereits kommende Woche beraten. Dabei dürfte Kritik nicht nur aus den Reihen der Opposition kommen. Grund hierfür ist, dass Abgeordnete aus allen Parteien durch die neue Regelung beim nächsten Urnengang ihr Mandat verlieren könnten.
Dabei geht es nach unserer Interpretation vor allem um Abgeordnete, die ein Direktmandat gewonnen haben, aber aufgrund eines relativ schwachen Stimmenergebnisses trotzdem nicht ins Parlament einziehen werden. Das wäre nach unserer Meinung eine durchaus bedenkliche Art, das Parlament zu verkleinern, zum Beispiel, wenn sich ein:e Politiker:in nach einem harten Wahlkampf knapp gegen eine:n starken Mitbewerber:in durchsetzen konnte. In dieser Sache tendieren wir eher zur Position der Union als zu jener der Ampel. Nicht, weil wir nicht auch wünschen, dass das Parlament überschaubarer wird und nicht nach der nächsten Wahl zusätzliche Sitze in den Plenarsaal des Bundestags eingebaut werden müssen, um alle Abgeordneten aufnehmen zu können, sondern, weil es in der Tat bei der Materie gute Argumente für das Ampelmodell, aber auch gute Gegenargumente gibt. Die ARD-Tagesschau hat das hier sehr schön erläutert:
Wahlrechtsreform: So soll der Bundestag kleiner werden | tagesschau.de
Den obigen Artikel sollten Sie gelesen haben, bevor Sie abstimmen, denn hier handelt es sich um eine demokratietechnische Angelegenheit, die man nicht rasch emotional entscheiden sollte, weil man sagt „kleiner ist besser und kostet eh alles zu viel“. Da gibt es derzeit andere Posten mit anderen Größenordnungen, deren Entstehung und Erweiterung die Politik zu verantworten hat. Hier aber nun zur passenden Civey-Umfrage:
Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Seit der letzten Bundestagswahl sitzen 736 Abgeordnete im Bundestag. Die Kosten dafür betragen laut Bund der Steuerzahler fast eine Milliarde € im Jahr. Grund für die stetige Vergrößerung des Parlaments sind die Überhangmandate. Diese entstehen, wenn eine Partei mehr Mandate über die Wahlkreise bzw. über die Erststimmen gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Diese Überzahl wird dann für andere Parteien durch Ausgleichsmandate kompensiert.
Die Ampel will der stetigen Vergrößerung des Bundestages mit einer Wahlrechtsreform entgegenwirken, um ein handlungsfähiges Parlament sicherzustellen. Bisher kam aber noch kein Gesetzesentwurf zustande. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mahnte jetzt aufgrund der näher rückenden Bundestagswahl 2025 in der ARD zur Eile. Teile von Union und Linke lehnen die Ampelpläne wegen verfassungsrechtlicher Bedenken ab. Unionsfraktionschef Friedrich Merz plädiert der Welt zufolge für ein „echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht“.
Laut Ampelvorschlag soll künftig auf Basis der Zweitstimmen berechnet werden, wie viele Mandate jeder Partei in einem Bundesland zustehen. So soll die Abgeordnetenanzahl konstant auf 598 begrenzt werden. Erzielt eine Partei über die Erststimme mehr Direktmandate, dann gehen die Kandidaten und Kandidatinnen mit dem schlechtesten Ergebnis im Land leer aus. Damit der entsprechende Wahlkreis trotzdem im Bundestag vertreten ist, gibt es eine zweite Erststimme, die „Ersatzstimme“, mit der die Wählerschaft eine zweite Präferenz angeben kann.
Keine Überraschung, dass über 80 Prozent der bisher Abstimmenden mit „auf jeden Fall verkleinern“ geantwortet haben. Wir sind nicht dabei. Wir haben mit „eher ja“ votiert.
Ja, eine Verkleinerung fänden wir vernünftig, aber nur dann, wenn die Reform die Demokratie stärkt oder wenigstens nicht schwächt. Denn mit ihr ist es wie mit den Ausgabenposten, die wir oben angedeutet haben: Sie hat mit mächtigen Problemen zu kämpfen und dagegen ist die Einsparung von vielleicht 150 Millionen Euro Abgeordnetendiäten jährlich eher eine kleine Quantität; der Schaden für die Demokratie durch eine falsche Parlamentsreform könnte demnach größer sein als der Nutzen.
Unter denen, die jetzt mit „eindeutig ja“ geantwortet haben, sind gewiss viele, die auch ganz ohne Parlament und ohen Demokratie auskommen würden (etwas Polemik muss sein) und viele, die die Größenordnungen nicht in die richtigen Zusammenhänge stellen. Wenn das gegenwärtige System die tatsächlichen Wahlergebnisse besser abbildet als eine schlecht gemachte Reform, sollte man es beibehalten. Freilich ist, das kann man aus dem ARD-Beitrag auch herauslesen, deutlich zu erkennen, welche politischen Kräfte glauben, von der Reform profitieren zu können und wer die Befürchtung hat, dadurch eher benachteiligt zu werden.
Dass zum Beispiel die FDP mit der Änderung kein Problem hätte, ist klar, weil sie in der Regel keine Direktmandate hält, deren Gewinner:innen bei dem Reformvorschlag, den die Ampel gegenwärtig umrissen hat, aus den Parlamenten verdrängt werden könnten. Auch die Grünen sind durch diese Regelung eher privilegiert, weil sie trotz ihrer nach Umfragen derzeit starken Stellung als zweitstärkste Kraft knapp vor der SPD immer noch relativ wenige Direktmandate gewinnen, weil ihnen dazu nach wie vor der notwendige rweise große Pool an starken Kandidat:innen fehlt.
Komplett anders bei der Linken, die nur noch im Parlament vertreten ist, weil bei ihr die Sonderregelung greift, dass drei Direktmandate dafür auch dann das Entree darstellen, wenn das Zweitstimmenergebnis unter der magischen 5-Proznt-Klausel liegt. Diese drei Mandate wurden von prominenten oder die Menschen überzeugenden Politiker:innen in Berlin und Leipzig gewonnen.
Diese Klausel wurde aufgrund von Erfahrungen in der Weimarer Republik eingeführt und soll verhindern, dass sich im Bundestag unzählige Kleinparteien ansammeln, die das Regieren fast verunmöglichen. Schon die erstmals in der Geschichte der BRD tätige Ampelkoalition aus drei Parteien stellt ein Novum dar, bisher reichten dazu stets zwei. Auch gegen diese Klausel sprechen bedenkenswerte Argumente, die selbstverständlich von Kleinparteien vertreten werden – zumal diese relativ stärker werden, aber trotzdem in der Regel ein gutes Stück von fünf Prozent Zweitstimmenanteil entfernt sind. Die nächste Partei, die diese Hürde überspringen könnte, ist vermutlich „Die Partei“, sie wäre dann die „siebte Kraft“. Es sei denn, Sahra Wagenknecht gründet eine eigene Liste, dann hätte diese wohl die größten Chancen, als siebte Partei in den Bundestag einzuziehen. Oder als ersatzweise Nr. 6, wenn sie damit der Linken so schaden würde, dass diese es nicht mehr schafft.
Bei der nächsten Berlinwahl im Februar wird ihnen in Toto ein zweistelliges Ergebnis vorhergesagt, aber auch bei der Bundestagswahl 2025 könnte es so kommen. Alle Landesparlamente in Deutschland haben ebenfalls die Fünfprozent-Hürde. Vermutlich würde eine Abschaffung der 5-Prozent-Hürde oder wenigstens eine Ermäßigung auf 3 oder 2 Prozent mehr Menschen motivieren, nicht die üblichen fünf Verdächtigen zu wählen und das wäre für die Demokratie nicht unbedingt ein Verlust. Klar, warum wir das schreiben: Wir werden wohl erstmals (bis auf eine Ausnahme bei der letzten Europawahl) eben nicht mehr für eine dieser Parteien stimmen, wenn es um die Berlinwahl in vier Wochen geht. Unsere Stimmen sind also verloren oder werden den großen Parteien zugeschlagen. Dass diese Regelung kaum diskutiert wird, ist ebenfalls leicht nachvollziehbar, denn sie privilegiert die größeren Parteien. Die Grünen und die FDP mussten zwar schon die Erfahrung machen, wie es ist, aus dem Parlament zu fliegen, aber die Politiker dieser Parteien glauben wohl derzeit nicht, dass ihnen das demnächst wieder passieren könnte. Nach gegenwärtigen Umfragen muss vor allem die Linke fürchten, in der bundespolitischen Bedeutungslosigkeit zu versinken, denn da liegt sie teilweise immer noch unter 5 Prozent.
TH