Frontpage Briefing 113 (hier zu 112) | Geopolitik, Ukrainekrieg, Waffenlieferungen, Leopard 2, Kampfpanzer, USA als Gewinner, Russland und die Europäer verlieren
Es gibt vorerst keine Leopard-2-Kampfpanzer für die Ukraine, auch die USA halten sich mit der Lieferung von Abrams-Panzern vorerst zurück. Bundeskanzler Scholz hatte zuvor die deutschen Lieferungen von denen der Amerikaner abhängig gemacht. Die Reaktionen auf die neueste Entwicklung sind vielfältig. Auch aus den Reihen der Ampel-Parteien kommt teilweise deutliche Kritik:
„Die weiter vertagte Entscheidung über die Lieferung deutscher Kampfpanzer an die Ukraine hat zu harscher Kritik selbst innerhalb der Ampel-Koalition geführt. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FPD), sagte am Freitagabend im ZDF-„heute journal“: „Die Geschichte schaut auf uns, und Deutschland hat leider gerade versagt.“
Am Freitag hatten sich die Verbündeten zu einer Ukraine-Konferenz in Ramstein getroffen, bei der weitere Milliardenhilfen für das von Russland überfallene Land vereinbart wurden. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte am Rande des Treffens eine Überprüfung der Verfügbarkeit und Stückzahl der Leopard-Panzer an.“
„Deutschland hat versagt“: Strack-Zimmermann sauer wegen Panzer-Kommunikation | WEB.DE
Lesen Sie hier ein Interview mit Agnes-Marie Strack-Zimmermann, das wir im Wahlberliner veröffentlicht haben. Dieses Gespräch wurde kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine veröffentlicht:
Ist die Kritik, wie sie oben wiedergegeben wird, berechtigt?
Strack-Zimmermann ist eine der glühendsten Verfechterinnen der Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen ins Kriegsgebiet. Trotzdem hat sie sich in dem Teil des Interviews, das im obigen Artikel wiedergegeben ist, in erster Linie auf die Kommunikation bezogen. Mir geht gerade durch den Kopf: Sie sind seit einem oder zwei Tagen Verteidigungsminister, wie Boris Pistorius, und müssen eine der folgenschwersten Entscheidungen seit dem Bestehen der Bundeswehr treffen.
Bundeskanzler Scholz ist nun seit über einem Jahr im Amt, bleibt aber ebenfalls in Deckung hinter den USA.
Ich habe immer gesagt, das ist richtig so. Niemals über die Entscheidungen der Weltmacht Nr. 1 hinausgehen, in dieser Situation. Sondern die Realität anerkennen, dass Deutschland nicht so frei handeln kann wie die USA und sich daher mit den USA abstimmen müssen.
In Europa führt das teilweise zu Ärger, zum Beispiel in Frankreich.
Frankreich ist Atommacht und sieht sich selbst als eigenständige Großmacht. Und Frankreich hat noch keine Kampfpanzer in die Ukraine geliefert. Von französischen Kampfanzern ist nicht einmal die Rede. Nur Großbritannien hat bisher eine feste Zusage gegeben und will den Challenger 2 liefern. Das hat nach meiner Ansicht auch wirtschaftliche Gründe.
Hat nicht auch das Zögern der USA wirtschaftliche Gründe?
Das ist eine äußerst interessante Frage. Man könnte meinen, die USA müssten ein Interesse daran haben, Russland so schnell wie möglich die Grenzen aufzuzeigen und das könnten sie auch, wenn sie alles, was möglich wäre, in die Ukraine liefern würden. Vielleicht ist es aber anders und wir müssen etwas mehr um die Ecke denken. Die gegenwärtige Lage kommt den USA so gut zupass, dass man dort versucht sein könnte, sie so lange wie möglich aufrechzuerhalten.
Inwiefern?
Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr profitiert die US-Rüstungsindustrie. Und zwar nicht nur wegen der Direktlieferungen in die Ukraine, sondern auch, weil viele andere Länder, gerade die europäischen Verbündeten, immer mehr aufrüsten wollen. Im Grunde ist das auf konventionellem Gebiet absurd, angesichts der Nato-Überlegenheit, die schon besteht. Wir wissen aber auch, dass die Bundeswehr nicht wirklich verteidigungsfähig ist. Ich glaube, das kann man mittlerweile als gesichert ansehen. Ähnliches soll nach Aussagen des französischen Präsidenten Macron auch für die dortigen Streitkräfte gelten. Dieser Ukrainekrieg ist ein gigantisches Waffenbeschaffungsprogramm mit vielen Subventionsmöglichkeiten für die vernetzte westliche Rüstungsindustrie, die sich, besonders in Europa, schon lange vernachlässigt fühlt. In den USA ist sie die größte Industriebranche überhaupt und hat eine ähnliche Bedeutung wie hierzulande die Autoindustrie. Es gibt jetzt Exportmöglichkeiten, die ein mehr isolationistischer Kurs à la Trump nicht eröffnet hätte. Auf anderem Gebiet werden USA sehr wohl zum eigenen Vorteil isolationistischer, aber das ist ein weiteres Wirtschaftsthema. Es gehört aber dazu: die aktuelle geopolitische Einigkeit in der Nato, die man sucht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA wirtschaftlich auch unter Joe Biden mehr und mehr ihr eigenes Ding machen. Unter den gegenwärtigen Umständen schaffen sie es vielleicht sogar, ihr großes Handelsbilanzdefizit zu eliminieren. Dazu gehört aber mehr als Rüstungsexporte.
Was wäre ein weiteres Wirtschaftsgebiet, auf dem USA profitieren?
Die Lieferung von Rohstoffen natürlich. Die USA sind gerade zum größten Erdölexporteur der Welt aufgestiegen und liefern ein Vielfaches an LNG nach Europa wie vor dem Ukraine-Krieg. Und das zu Traumpreisen für die Hersteller. Was wir gerade sehen, ist ein riesiges Konjunkturprogramm für die USA und für die Europäer, besonders für Deutschland, genau das Gegenteil. In Wirklichkeit gehen die Interessen bezüglich der Ukraine weit auseinander, Europa müsste dringend an einer schnellen Lösung im Ukrainekrieg arbeiten. Doch da Europa es versäumt hat, sich von den USA unabhängiger zu machen, ist man in einer Zwickmühle. Ohne Schutz und Schild durch die Vereinigten Staaten traut man sich nichts zu, obwohl man weiß, dass man sich damit riesige wirtschaftliche Nachteile einhandelt. Deutschland und Frankreich hingegen, die eine EU-Koalition anführen müssten, trauen einander gegenseitig nicht. Dieses Gefühl ist heute wieder viel stärker ausgeprägt als ab den 1960ern, wo die Blockbildung für eine klare Lage gesorgt hat und es ebenfalls klar war, dass Deutschland nicht die geopolitischen Ambitionen hat wie Frankreich. Mittlerweile wir das aber von unterschiedlichen Seiten wieder mehr gefordert. Trotz der deutschen Geschichte.
Und das mutet seltsam an?
Auf mir wirkt es, als ob man, wie vor 120 Jahren, als der Begriff geprägt wurde, „Germans to the Front!“ rufen würde, damit sich Deutschland einmal mehr geopolitisch zerlegt und danach als Wirtschafts- und Friedensmacht gleichermaßen endgültig erledigt ist. Deshalb darf man bei diesen Wünschen gerne mal tun, als ob man die Ohren auf Durchzug stellt, diesen Eindruck vermittelt Kanzler Scholz ja gerne. Tut er aber nicht, da bin ich ganz sicher. Er kann lediglich mit Druck relativ gut umgehen. Das hat er durch seine Finanzaffären gelernt, aus denen er bisher unbeschadet herauskommen ist. Okay, dieser Seitenhieb musste sein, aber in Sachen Ukraine ist diese Fähigkeit eine unschätzbar wertvolle Eigenschaft. Problem: Die hiesigen Medien schreiben ihn runter und niemand in der Regierung kommuniziert seine Politik so gut, dass man ihn oder sie als fähige außenpolitische Vertrer:innen wahrnehmen könnte.
Wir haben doch eine Außenministerin, die sich sehr deutlich zu äußern pflegt.
Man soll es nicht für möglich halten, immer mehr Journalist:innen kommen darauf, was ich von Beginn an gesagt habe: Annalena Baerbock produziert vor allem heiße Luft und hinterlässt dabei in anderen Ländern auch noch schlechte Stimmung. Das ist eine ganz üble Kombination. Sie kann auf andere keinen Druck machen, hat auch gar nicht die Ausdauer dazu, sich mal richtig an ein Thema dranzuheften, genau wie von mir erwartet, nachdem ich sie im Wahlkampf 2021 beobachtet habe.
Sie ist eine Fassadenpolitikerin. Bis jetzt jedenfalls. Aber wie hingebungsvoll hat man ihren angeblich so tollen politischen Stil analysiert und eine Zeitenwende vor allem in diesem Stil gesehen. Klar, im Vergleich zu Typen wie Heiko Maas tritt sie anders auf. Es ist aber in Wirklichkeit wie zu Zeiten von Angela Merkel: Die Außenpolitik muss im Kanzleramt gemacht werden, sonst funktioniert sie nicht. Merkel hätte allerdings ihren Außenministern niemals so viel Bewegungsfreiheit zugestanden, wie Scholz das bei Baerbock immer noch tut, obwohl sie großen Schaden anrichtet, mit ihrer Haudrauf-Rhetorik, der jegliche Substanz fehlt. Damit kann man nur den weitgehend unpolitischen Teil des grünen Wählerspektrums beeindrucken. Im Grunde ist sie permanent im Wahlkampf, zulasten des Landes, das sie vertreten soll. Ich bin so froh, dass sie nicht Kanzlerin geworden ist.
Nach wenigen Monaten im Amt hatte sie in einem Elite-Panel, also bewertet von Führungskräften, über 90 Prozent Zustimmung zu ihrer Politik.
Jetzt sind es nicht einmal mehr 60 Prozent. Was bei uns so alles als Elite bezeichnet wird. Entweder sind diese Wirtschaftsführer:innen sehr naiv oder sie haben sich ein Geschäft versprochen, stattdessen kriegen sie hohe Energiepreise und eine stotternde Weltwirtschaft. Das drückt bei diesen Opportunisten des Kapitals auf die Stimmung. Baerbock liefert nicht und kann gar nicht liefern, was diese Leute sich erwartet haben. Eine wirklich kohärente Außenpolitik können eben in diesen Zeiten nur die USA machen und wir sollten schleunigst wieder damit aufhören, uns wie Weltpolizisten aufzuspielen. Bis auf ein paar besonders gleichgesinnte Regierungen findet das niemand gut. Deutschland wird bei derlei Äußerungen aufgrund der Geschichte immer besonders beobachtet und gleichzeitig als Papiertiger wahrgenommen.
Profitieren die USA auch geopolitisch von der aktuellen Lage?
Aber ja. Das ist der dritte Aspekt. Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sind erst einmal futsch. Die Europäer werden erheblich abhängiger von den USA, anstatt dass das gewünschte Gegenteil eintritt. Ob man das als Schachzug der Strategen in Washington bezeichnen kann oder ob Putin ihnen einfach in die Hände gespielt hat, ist Ansichtssache. Deutschland hingegen hat nicht einmal eine strategische Wirtschaftspolitik, obwohl das bei seiner Stellung als größte europäische Volkswirtschaft die beste Möglichkeit wäre, sich auch geopolitisch sicher aufzustellen. Was es aber gar nicht hat und nicht haben sollte, ist die militärische Option, Geopolitik zu machen. Deshalb sollte man vor jeder Erweiterung der Waffenlieferungen in die Ukraine scharf darüber nachdenken, was das für uns in Europa bedeutet und speziell für uns in Deutschland und Berlin.
Also sind mehr Waffen eben keine Beschleunigung des Friedens?
Das wären sie, wenn die USA wirklich ernst machen und die Europäer im Gleichschritt mitziehen würden, denn Russland führt einen erstaunlich konventionellen, klassischen Eroberungskrieg, auf den die Nato gut reagieren könnte. Die Ukraine ist nicht Vietnam, beispielsweise, und schlecht geführte, teilweise schlecht ausgerüstete russische Soldaten auf fremdem Terrain keine Vietkong. Eher schon kann man die Tapferkeit der Verteidiger mit deren Einstellung vergleichen. Aber die USA machen nicht wirklich ernst. Möglicherweise würde das übrigens auch den Einsatz von Nato-Truppen bedingen, denn irgendwann wird die ukrainische Verteidigungsarmee personell ausgeblutet sein. Diese Ungleichheit, glauben einige, kann man durch überlegende westliche Technik ausgleichen. Selbst das geht nicht von heute auf morgen, obwohl ich glaube, das Argument der Komplexität dieser Technik und wie lange es dauert, bis Ukrainer darin ausgebildet sind, ist mindestens teilweise vorgeschoben. Eben, weil den USA die gegenwärtige Lage so gut taugt.
Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, dadurch verlieren die USA Power im Kampf gegen China.
Das glaube ich nicht. Die USA werden wirtschaftlich hierzulande gerne etwas unterschätzt. Außerdem senden mit ihrer Zermürbungstaktik Russland gegenüber nämlich sehr wohl ein Signal an China, und das lautet: Wir schenken euch die technologisch niemals auf Augenhöhe mit uns operierenden Russen, macht sie ruhig von euch abhängig, wir zurren die Europäer indessen wieder fest an uns, die euch zuletzt wirtschaftlich so weit entgegengekommen sind. Trump hat es nicht erreicht, trotz seiner massiven Kritik, dass deutsch-russische Projekte wie Nord Stream 2 nicht angegangen wurden. Jetzt flutscht das für die USA alles von ganz alleine. Deswegen brauchen sie m. E. auch nicht zu dem Mittel zu greifen, Pipelines zu zerstören, durch die eh kein Gas fließt. Wenn ich aus heutiger Sicht Joe Bidens seinerzeit vieldiskutierte Ansage interpretiere, dass die USA in der Lage sein werden, Nord Stream 2 stillzulegen, wenn sie es wollen, dann eher in die Richtung, in die der Hase aktuell läuft: Russland wird selbst dafür sorgen, dass Deutschland unmöglich diese Gaslieferungen weiter beziehen kann. So clever haben die USA schon lange nicht mehr – wieder je nach Einschätzung der Qulität und Einheitlichkeit der Strategie amerikanischer Politik und Wirtschaft – herbeigeführt oder ausgenutzt, wie das im Ukrainekrieg der Fall ist. Man könnte sogar sagen, sie haben aus den vielen westlichen geopolitischen Fails der letzten Jahrzehnte die für sie richtigen Konsequenzen gezogen.
Was ist mit den vielen neutralen Staaten, die das alles sehen?
Denen bieten die USA durch ihr Zögern, offiziell in den Krieg einzutreten, nicht so viele Kritikmöglichkeiten. Eher wird es gelingen, dass Russland sich selbst weiter schadet, zum Beispiel durch Dimitri Medwedws Atomkriegsrhetorik. Viele „Neutrale“ sind enttäuscht, das ist meine feste Überzeugung, weil sie sehen, wie Russland sich selbst verzwergt, anstatt sich geduldig weiter bei den Neutralen als fairer Partner anzubieten, der von der bösen Nato zwar malträtiert wird, aber gerade deshalb wichtig für die sind, die man früher „blockfrei“ nannte. Wenn man etwas genauer hinschaut, sind die Sanktionen gegen Russland ohnehin wieder einmal ein westlicher Doppelstandard.
Es geht um die Nuklearwirtschaft?
Auch auf dem Gebiet ist Russland ein wichtiger Rohstoff- und hier sogar ein Technologielieferant. 20 Prozent aller weltweit betriebenen Atomkraftanlagen sind russischer Bauart und dieser Anteil wird weiter zunehmen, weil Atomkraftwerke ein russischer Exportschlager sind. Da ist man u. a. für Deutschland in die Bresche gesprungen, das diese Technologie bekanntlich aufgibt. Bisher hat der Westen nämlich gerade auf diesem strategisch so wichtigen Gebiet die Russen nicht komplett sanktioniert. Davon wären nämlich auch die USA ausnahmsweise negativ betroffen. Die Folge: Über diese grundsätzlich zivile Schiene kann auch das russische Militär weiter mit westlicher Technologie beliefert werden. Es gibt allerdings Zweifel daran, ob das derzeit schon massiv geschieht. Und was es nützen würde, möchte ich beifügen.
Weil Russland seiner atomaren Erpressungsrhetorik ohnehin keine Taten folgen lassen wird?
Das ist ein äußerst heikles Kapitel und eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Russland, nur, weil es in der Ukraine mit der Eroberung nicht klappt wie geplant, einen Atomkrieg mit der Nato führen wird. Eines schafft die russische Regierung damit allerdings: Dass die USA sich freuen, weil sie die gegenwärtige Lage in der Ukraine aufrechterhalten können, die dort so viel Leid verursacht. Es geht eben nicht nur um die Anbindung der Ukraine selbst an die Nato, wie vielleicht Mitte der 2010er Jahre. Es geht um den geopolitischen und wirtschaftlichen Turbo, den Putin und seine Kumpane für die USA gezündet haben.
Was wäre, wenn Russland kleine, taktische Atomwaffen einsetzen würde?
Das ist eben eine der Unbekannten. Solange kein Nato-Staat in Gefahr ist, glaube ich nicht, dass die USA solche Schläge als offene Kriegserklärung annehmen würden. Aber die Gefahr ist riesig, dass Neutrale sich von Russland weiter abwenden. Da sind Menschen ganz emotional und empfindlich, wenn sie von Atomwaffen nicht nur bedroht werden, sondern wenn wirklich welche eingesetzt werden. Es ist ja wirklich so: Würde der Westen seine Hilfe für die Ukraine einstellen, dann wäre der russische Sieg, den wir dann zu erwarten hätten, eine Blaupause für alle, die sich Atomwaffen beschaffen und meinen, sich dadurch alles erlauben und sich an keine völkerrechtlichen Regeln halten zu müssen. Schauen wir nach Nordkorea, einem Land im permanenten Ausnahmezustand, einer neurotischen Gesamtverfassung, schauen wir nach Syrien, oder, ganz brennend wichtig, in den Iran. Schauen wir auf die dortigen Proteste. Der Status als Atommacht würden den Mullahs helfen, ihre Herrschaft zu zementieren, denn bei allem sind Menschen oft leider auch naiv und viele wären stolz auf diese Errungenschaft. Man hat das in Pakistan gesehen, als dort die (erste) „islamische Atombombe“ lanciert wurde.
Und wenn Russland mit taktischen Atomwaffen ein Nato-Land angreifen würde?
Da wären wir in Berlin im Arsch. Ernsthaft: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die USA für gelegentliche Einschläge russischer Raketen mit atomaren Sprengköpfen in Warschau oder Vilnius einen Weltkrieg riskieren würden. Wir sitzen hier auf dem Pulverfass, das es zu entschärfen gilt, nicht die Amerikaner. Gleichermaßen können wir nicht einfach die Unterstützung für die Ukraine aufgeben. Ich halte emotionale und „wir müssen ihnen ermöglichen, ihr Land zu verteidigen“-Aspekte bewusst raus, obwohl es die auch gibt. Es geht tatsächlich darum, dass man nicht den Eindruck erwecken darf, die russische Atomrhetorik hätte Erfolg gehabt. Das würde die Welt ganz gewiss nicht sicherer machen.
Vielleicht wäre es nicht so naiv, wenn Deutschland sich unter diesen Umständen auch eine kleine Force de Frappe zulegen würde.
Wenn wir von den USA unabhängiger werden wollen, wird daran angesichts von immer mehr Ländern, die unberechenbar sind und sich Atomwaffen zulegen, nichts vorbeiführen. Das ist schrecklich, das ist unethisch, aber das immerhin könnte die gegenwärtige Lage bewirken: Dass man sich aus dem Wolkenkuckucksheim herausbewegt, in das sich die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verkrochen hat. Das hatte gute Gründe, sehr gute, sie sind sogar immer noch gut, aber ich sehe im Moment nicht, wie eine geradezu demonstrative Politik der Schwäche, als die immer mehr Autokraten auf dieser Welt einen undifferenzierten Pazifismus ansehen, künftige Angriffe von Atommächten aufhalten soll, wenn der Gegner, wie jetzt die Ukraine, nicht selbst Atommacht ist. Russland verschleißt sich bei der gegenwärtigen Taktik natürlich auch und die Atomdrohungen nutzen sich langsam ab. Wie auch die Argumentation mancher Experten, dass Russland noch so viel in der Hinterhand hat, auch konventionell.
Hat es etwa nicht?
Nur eine Generalmobilmachung würde das Blatt alsbald wenden können, und davor scheut sich Putin ebenso wie vor einem Atomschlag. Zum Glück, Lezteres betreffend. Aber wird er auch weiter der eigenen Bevölkerung den Eindruck vermitteln, es handele sich nur um eine „militärische Spezialoperation“, wenn er alle und alles in den Kampf wirft, was das russische Militär aufbringen kann? Oder wird der Spin sein „Russinnen, Russen! Die Nato liefert Kampfpanzer! Kampfjets! Die Nato ist nun Kriegspartei. Sie hat uns damit eine Kriegserklärung zugesendet. Wollt ihr den beinahe totalen Krieg?!“. Ich befürchte sehr, dass es darauf hinauslaufen würde. So verbinden sich aufs Günstigste amerikanische Interessen mit dem Wunsch westlicher Staaten wie derzeit auch noch der russischen Seite, nicht nur einen Atomkrieg zu vermeiden, sondern auch eine konventionelle Eskalation nicht zu weit zu treiben. Außer den USA sitzen eigentlich alle in der Klemme. Selbst China, und das ist ja von den USA besonders gewollt.
Daraus müssen für die Zukunft unbedingt Konsequenzen gezogen werden und erst unter diesem Aspekt ergibt das Sondervermögen Bundeswehr einen Sinn, nicht aber, wenn die Nato-Strukturen und die Dominanz der Amerikaner bestehen bleiben wie bisher. Mittlerweile wird ja schon von 300 Milliarden Euro gemunkelt, die eine Ertüchtigung der Bundeswehr im Sinne europäischer Eigenständigkeit kosten wird, nicht 100 Milliarden. Nur, um es klarzustellen: 300 Milliarden sind nicht einmal die Hälfte des jährlichen US-Rüstungsbudgets.
Aber doch wohl viel zu viel für Deutschland.
Kommt darauf an, über welchen Zeitraum es verteilt wird, wie es exakt gemeint ist und umgesetzt wird. Es bleibt trotzdem sehr fragwürdig, denn gegen den wichtigsten Konflikt, den ich seit Längerem sehe und beschreibe, hilft das Hochrüsten kaum, zumindest nicht im konventionellen Bereich: gegen die wirtschaftliche Eroberungsstrategie Chinas. Bezogen darauf wäre es viel wichtiger, den sozialen Frieden zu sichern, die Demokratie attraktiv zu halten oder wieder attraktiver zu machen, in die Infrastruktur zu investieren und sämtliche Schlüsseltechnologien zu besitzen, die uns wettbewerbsfähig machen und sowohl von den USA als auch von China distanzierter stellen. Das wäre ein europäisches Projekt, aber bitte nicht unter französischer Führung, das funktioniert auf einem Gebiet mit einem Land nicht, in dem teure Handtaschen gebastelt, aber nicht ein einziger Speicherchip herstellt wird. Überspitzt ausgedrückt, versteht sich.
Was hat es auf sich mit der französischen Führung?
Es war während des Kalten Krieges ganz klar, dass das westliche Teildeutschland Europa nicht anführen kann. So haben Briten und Franzosen mehr oder weniger um die Führung gerungen. Die Briten als Anker der USA, die Franzosen auf eigene Rechnung und zuweilen mit ziemlich viel Chuzpe gegenüber den USA.. Deswegen wollte General de Gaulle die Briten auch nicht in der EG haben, obwohl sie ihm eine Basis für seinen Exilkampf gegen Hitlerdeutschland zur Verfügung gestellt haben.
Dankbarkeit gegenüber einem sowies Kriegsbeteiligten, der aus der Asylgewährung Vorteile zieht, ist Nebensache, die französische Grande Nation oder die Splendid Isolation mit amerikanischer Genehmigung, die das UK nie komplett aufgegeben hat, eine andere. In beiden Staaten funktioniert, leider, muss man sagen, die Politik immer noch weitgehend so. Das behindert eine strategische Besserstellung Gesamteuropas erheblich. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet, denn Frankreich stärkt aus taktischen Gründen den Ländern den Rücken, welche die EU und die EZB mehr oder weniger als Geldzapfstelle verwenden, der den eigenen wirtschaftlichen Zusammenbruch verhindern soll. Das war mal anders, zu allerbesten Zeiten war für Frankreich eine Mittlerposition am günstigsten. Aber in der EU wird eben auch um Einflusssphären gekämpft, und das sieht man häufiger als früher ganz offen, am deutlichsten bisher war es während der Bankenkrise hervorgetreten.
Worin zeigt sich der Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg?
Das hat Auswirkungen auf dier gegenwärtigen Lage, nämlich sehr negative. Europa ist wieder einmal quasi politisch handlungsunfähig, ist keine Einheit mit abgestimmter Position, die im Notfall auch von jener der USA deutlich zu unterscheiden ist.
Deswegen ist es übrigens auch kompletter populistischer Quatsch, der deutschen Regierung eine „Friedensinitiative“ anzusinnen. Das tun übrigens dieselben Leute, die eine kürzlich von Angela Merkel getätigte Aussage so interpretieren, als seien die beiden Minsk-Abkommen nur dazu gedacht gewesen, Russland zu schwächen. Da Putin ein Machtpolitiker ist und wenn diese Minsk-Interpretation tatsächlich stimmen würde, würde er ganz sicher nicht das alleine und ohne Koordination mit den USA und der EU ziemlich machtlose Deutschland, das außerdem noch tricky ist, wenn es schon mal als Vermittler tätig sein darf, als Vermittlerstaat im Ukrainekrieg akzeptieren. Die Russen haben nicht ganz zu Unrecht das Gefühl, dass sie Deutschland nicht trauen können, aus historischen Gründen, die jeder kennt, aber auch wegen Entwicklungen nach 1990. Da hätte Deutschland sich schon aus Dankbarkeit für die Wiedervereinigungsmöglichkeit stärker dafür einsetzen müssen, dass Russland vom Westen auf Augenhöhe behandelt wird. Das wäre auch der bisher beste Zeitpunkt gewesen, Europa einigermaßen gefahrlos unabhängiger zu stellen.
Wenn man diese damalige politische Versagen Deutschlands bedenkt, das ich für viel gravierender halte als die Noch-Distanz gegenüber der Lieferung von Kampfpanzern, sind die Russ:innen uns gegenüber immer noch recht zugewandt. Mir macht in dem Zusammenhang die Hetze in den russischen Staatmedien gegen Deutschland durchaus Sorge. Auf rein freundschaftlicher Ebene, aber wir wollten solche Aspekte in diesem Beitrag ja nicht auswalzen.
Was ist also zu tun?
Ganz offen: Deutschland kann nicht so viel tun, wie die unerfreulichen Kriegsrhetoriker einerseits und die philisterhaften Frieden-Sofort-durch-Deutschland-Apostel es gerne hätten, schon gar nicht, wenn die USA es nicht erlauben. Gar nichts zu tun, würde natürlich den Krieg schneller zu einem Ende bringen, aber zu welchem Preis? Die USA sind auf jeden Fall die Gewinner, das wollte ich als Kern dieses Kommentars festhalten. Denn selbst ein russischer Sieg in der Ukraine nach den bisherigen hohen Verlusten an Material und Menschen würde nichts daran ändern, dass Russland viele wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten verliert, die es bisher hatte. Die es auch nach der Krimbesetzung 2014 noch hatte, nebenbei bemerkt. Deutschland hatte damals die Tür offengehalten. Man mag das ethisch bewerten wie man will, jetzt hat Putin sie jedenfalls zugeknallt und vergessen, die eigene Nase vorher zurückzuziehen. Auch um den Fuß, den Deutschland immer in der Tür hatte, um Russland im Spiel zu halten, hat er sich nicht gekümmert.
Doch nicht nur die militärische Seite, auch der Energiekrieg wird vermutlich nicht so funktionieren, wie der Kreml-Chef es sich vorgestellt hat. Nachdem nun ein weiteres Mittel ausgeschöpft wird, nämlich die letzten noch liefernden Gasleitungen nach Europa vorerst stillzulegen, ist sein wirtschaftliches Pulver verschossen. Wir haben den Schaden, indem wir auf hohen Energierechnungen sitzen, aber selbst das könnte sich wieder ändern, wenn neue Versorgungswege und Technologien etabliert sind.
Das ist jetzt zu tun, sie voranzubringen. Daran führt kein Weg vorbei. Aktuell reibt man sich in Washington die Hände. Aber niemand kann uns verbieten, eine fortschrittliche Energie- und Wirtschaftspolitik zu machen, die Versorgungssicherheit gewährleistet und gleichzeitig den unschätzbaren Vorteil hat, dass wir uns in Europa nicht mehr von wem auch immer erpressen lassen müssen. Niemand kann es verbieten, es kann nur ausgehebelt werden, in dem Politiker:innen vom Großkapital gekauft und manipuliert werden, um der eigenen Bevölkerung zu schaden. Darauf müssen wir ein sehr waches Auge haben. Auch jetzt, wo wir mit der höchsten Inflation seit der Gründung der BRD konfrontiert sind. Warum ist das so? Wann immer gegen die eigene Bevölkerung Politik gemacht wird, müssen wir die geopolitische Seite mitdenken, sonst werden wir nie die Gründe dafür verstehen. Wenn wir diese Gründe nicht verstehen, können wir aber z. B. keine Wahlentscheidungen treffen, die unsere tatsächlichen Interessen spiegeln.
TH