UPDATE Berlinwahl 2023 VIa Überraschung: #Grüne und #Linke mit absoluter Mehrheit bei den Neuberliner:innen #Zuzis #Ergebnis, Wahlanalyse +++ Leitkommentar +++ persönliche Sicht – trotzdem die aktuelle Koalition oder gerade nicht? | Briefing 131 | Politik, PPP, Berlin

Frontpage | Briefing 131(hier zu 130 + unten angehängt) | Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2023

Wir schreiben zur Wahl vom 12.02. noch ein Update, das nicht auf kommende Ereignisse hinweist, wie etwa die Koalitionsbildung. Uns ist leider mehr oder weniger entgangen, dass die CDU auch mit den Grünen oder der SPD alleine eine Regierung bilden können. Vermutlich, weil wir, wie die meisten Berliner:innen, diese beiden Varianten nicht wollen würden.

Aber was heißt „die meisten Berlinerinnern“? Heute hat Statista eine Grafik herausgegeben, die uns wirklich verblüfft hat. Wir dachten zum Beispiel, auch Alteingesessene in den Innenstädten haben das grün wählen mittlerweile in den Genen, aber es gibt in Bezug auf fast alle Parteien einen riesigen Unterschied zwischen dem Wahlverhalten derer, die seit 20 Jahren oder länger in Berlin leben und jenen, die erst in den letzten 10 Jahren gekommen sind. Unsere eigene Gruppe, die dazwischen liegt, wird leider nicht ausgewiesen. Tendenziell, so unser Eindruck, verhält sie sich eher wie die Zuzis der letzten zehn Jahre als wie jene, die schon seit mehr als 20 Jahren hier leben.

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Bei den Neuwahlen des Berliner Abgeordnetenhaus ist die CDU neue stärkste Kraft geworden. Dabei waren es vor allem die Einwohner:innen im Alter von 45 aufwärts, die der Union ihre Stimme gegeben haben.

Besonders bei Wahlen in den deutschen Stadtstaaten hat auch die Wohndauer der Bürger:innen einen starken Einfluss auf das Wahlverhalten. Wie die Statista-Grafik mit Daten von infratest dimap, die in der tagesschau veröffentlicht wurden zeigt, konnte die CDU vor allem die alteingesessenen Berliner:innen von sich überzeugen. Rund 33 Prozent der Stimmen von Menschen, die schon mindestens 20 Jahre in Berlin leben, gingen an Spitzenkandidat Kai Wegner und seine Partei. Die SPD kommt bei den Ur-Berliner:innen auf 20 Prozent, die Grünen erreichen 14 Prozent der Stimmen.

Ein entgegengesetztes Bild zeichnet das Wahlverhalten der Zugezogenen Berliner:innen: unter den Bewohner:innen, die weniger als 10 Jahre in Berlin wohnen, sind die Grünen mit 35 Prozent stärkste Kraft, gefolgt von den Linken (15 Prozent) und der CDU (13 Prozent). Ein deutliches Zeichen dafür, dass vor allem grüne und soziale Politik von den Neu-Berliner:innen bevorzugt wird. Ein großes Streitthema vor der Abgeordnetenhauswahl war die autobefreite Friedrichstraße im Zentrum der Hauptstadt. Trotz der eher linkspolitischen Ausrichtung dieser Wähler:innengruppe scheint die bisherige SPD-Regierung unter Giffey bei den Zuzügler:innen nur wenig Anklang gefunden zu haben – die Sozialdemokraten bringen es auf “nur” etwa 11 Prozent derer Stimmen.

Vielleicht sind die Zuzügler:innen zu anspruchsvoll für Berliner Verhältnisse und sind unzufrieden trotz ihrer grundsätzlichen Zuneigung zu den Grünen und bis zu einem gewissen Grad zur Linken. Sie mögen aber nicht die SPD, die am meisten mit der Verwaltung zugange ist. Ginge es nur nach den „Neuberliner:innen“, könnten Grüne und Linke tatsächlich Berlin in einer Zweierkoalition regieren (35 + 15 Prozent). Der gesamte rechte Block aus CDU, AfD und FDP kommt nur auf 29 Prozent. Wir brauchen also mehr Zuzug nach Berlin, daran führt nichts vorbei, wenn wir die soziale Stadt erhalten und sie grüner machen wollen. Wir haben unseren Teil dazu vor 16 Jahren getan. 

Das mutet seltsam an, weist aber u. a. darauf hin, dass die Zuzis sich vor allem in den Innenstadtbezirken sammeln, in denen auch viel Grün gewählt wird. Unser Kiez wird zum Beispiel von Menschen bewohnt, von denen ca. 70 Prozent nicht in Berlin geboren sind. Wie das Wahlverhalten der längjährig hier Lebenden, die aber nicht hier geboren sind, vorgestern aussah, hätte uns ebenfalls interessiert. Werden auch Zuzis mit der Zeit konservativer, weil einfach nichts funktioniert, in dieser Stadt? Dann, wenn sie schon länger als 20 Jahre hier leben, aber nicht hier geboren sind? So gesehen, ist doch vieles eine Wahrnehmungsfrage, nicht faktenorientiert: Gerade diejenigen, auf die das zutrifft, müssten noch mitbekommen haben, wie die CDU diese Stadt an den Rand des Abgrunds gestürzt hatte und zu Recht seit 25 Jahren keine Regierung anführen durfte. 

Einzig bei der Linken ist das Verhältnis recht ausgeglichen, mit leichtem Überhang (15 zu 12) bei den Zuzis. Das bedeutet, dass eine gute Basis für die Zukunft vorhanden ist: Junge Menschen, die hier geboren oder zugewandert sind  (die Altersgruppenanalyse zeigt eine starke Präferenz junger Mensch für die Grünen und die Linken) und Zugezogene im Allgemeinen könnten Hand in Hand für ein besseres soziales und ökologisches Gepräge von Berlin sorgen. Es ist mehr als hoffnungsvoll, besonders für die Linke und angesichts des schwachen Bildes, das sie gegenwärtig abgibt, bei den Zuzis auf Platz 2 zu kommen, ebenso in der Wählergruppe unter 30 Jahren. Daran merkt man, wie viel Potenzial von den Strateg:innen dieser Partei liegengelassen wird. 

So, wie wir die Linke kennen, wird sie auch aus der Analyse all dieser wichtigen Daten zur neuesten Berlinwahl keine entsprechende Strategieänderung vornehmen, sondern mindestens in Teilen so verbohrt am Gestern und an Gegenständen orientiert weitermachen, die hier bestenfalls niemanden interessieren, schlechtestenfalls von Menschen mit einigermaßen funktionierendem ethischem Kompass als schräge, zuweilen sogar kryptofaschistische Mindermeinungen mit AfD-Anschlussfähigkeit empfunden werden.

Bloß nicht an die Gegebenheiten, an die Mentalität der Jungen und Zugezogenen anpassen, die in der Regel konstruktivistisch, dynamisch, offen für Neues sind – könnte ja neue Wählerstimmen bringen, als Ersatz für DDR-Nostalgiker:innen und Altstalinist:innen, die langsam aussterben (jedenfalls diejenigen, welche die DDR wirklich noch als Erwachsene und politische Aktive = Privilegierte erlebt haben oder sie als Wessis klasse fanden, ohne sie erlebt zu haben bzw. weil dies nicht der Fall war). Sogar weitere Stimmen aus dem etwas hipperen akademischen Milieu wären möglich, das von vielen Altlinken verrückterweise verteufelt wird, die selbst einen solchen Hintergrund haben (und zum Teil keine geborenen Berliner:innen sind). Klar, wir sind geprägt von den Erlebnissen in unserem Bezirk mit der Linken, der nicht repräsentativ für die Partei in Berlin ist, sondern stark dem Wagenknecht-Lager zuneigt. Und Frau Wagenknecht lässt keine Gelegenheit aus, Spaltendes zum Besten zu geben, das angesichts ihrer eigenen Aufstellung komplett abstrakt wirkt. 

In die anderen Parteien haben wir nicht diese Einblicke in der Tiefe, obwohl wir wissen, dass es in der SPD zwei Strömungen gibt, die nicht sehr gut miteinander klarkommen, nämlich das Lager des Ex-Regierenden Bürgermeisters Michael Müller und das andere um seine Nachfolgerin Franziska Giffey und den Fraktionschef im AGH und Co-Vorsitzenden, Raed Saleh. Auch die CDU hat ihre internen Fraktionen, aber vereinbart sich im Burgfriedenmodus auffällig harmonisch auf jenes rechte Gepräge, das sie mittlerweile in dieser Stadt zeigt und das vor allem wirtschaftspolitisch eine große Gefahr für die Mehrheit der Berliner:innen darstellt, falls diese äußerst lobbyaffine Partei die Regierung führen sollte. Dass die örtliche SPD diesbezüglich nicht viel besser ist, besonders, seit Frau Giffey fast täglich klarmacht, dass ihr die Wähler:innenmeinung wurscht ist, muss man indes als größte Hypothek für die Fortführung der aktuellen Koalition ansehen.

Die Grünen wirken etwas mehr linksorientiert als im Bund, aber sie benötigen die Flankierung durch eine starke Linke und viel Druck aus dem zivilgesellschaftlichen Raum, z. B. durch die Mietenbewegung, um jenseits von spektakulären Einzelaktionen in Kreuzberg oder etwas weniger spektakulären in Neukölln jene sozial ausgerichtete Politik zu machen, die innovativer und einfallsreicher wirkt, als nur die Fassadenbegrünung des Klassismus-Kapitalismus wohlwollend zu begleiten.

Vielleicht ist das, was die Zuzis gewählt haben, die Koalition der Zukunft. Wenn’s geht, mit etwas mehr Links-Anteil. Damit haben wir noch keine Systemerneuerung, aber unter allen Bündnissen zwischen Parteien, die derzeit im AGH vertreten sind, wäre es das beste für Berlin.

TH

Die Berlinwahl 2023 ist gelaufen. Wir geben Informationen, analysieren und kommentieren, was sich gestern in unserer Stadt ereignet hat.

Wie war die Wahl als Event?

Anders als beim Mal zuvor (2021). Keine Schlangen, ich konnte mir sogar die Wahlkabine aussuchen. Eigentlich super, aber verbunden mit dem Gefühl: Hoffentlich weist das nicht auf eine extrem niedrige Wahlbeteiligung hin.

Die Wahlbeteiligung lag bei 63,0 Prozent und damit über 12 Prozentpunkte niedriger als bei der letzten Wahl.[1]

Im Jahr 2021 fanden gleichzeitig die Bundestagswahlen und der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen statt“, alles zusammen hat mehr Menschen mobilisiert. Im Jahr 2016, bei der vorausgtehenden Wahl, lag die Wahlbeteiligung bei 66,9 Prozent. Für eine Wiederholungswahl fand ich die Beteiligung letztlich okay, aber dass sich nicht mehr Menschen beteiligt haben, hat Verwerfungen produziert.

Wir werden anhand der einzelnen Parteien analysieren, was damit gemeint ist. Die CDU hat die Wahl klar gewonnen, die SPD bliebt hauchdünn vor den Grünen, bei gleicher Prozentzahl. Hier die Ergebnisse:

Was lässt sich generell sagen?

Ich bin noch nicht dahintergestiegen, warum genau die Berliner Regierungskoalition innerhalb von eineinhalb Jahren so viel verloren hat. Es kann eigentlich nicht an der Stadtpolitik liegen, denn die kam nach der Wahl 2021 eindeutig besser in die Gänge als nach 2017, als sich die drei Partner SPD, Grüne und Linke erst zusammenraufen mussten. Die Enttäuschung über die Nichtumsetzung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, für den sich 2021 fast 60 Prozent der Berliner:innen ausgesprochen hatten, war vermutlich der größte „stadtinterne“ Grund. Aber auch die Lage in der Bundesrepublik spielt eine Rolle. Indiz dafür, dass die Ampel nicht gerade Rückenwind hat, ist zum Beispiel die Tatsache, dass die FDP aus dem Berliner Abgeordnetenhaus geflogen ist.

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

„Wahlwerbung der FDP sieht immer ein wenig so aus, als würde die Deutsche Post neue Telefonbücher drucken“, schrieb tip-berlin.de vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Das sähe schön gelb aus, sei aber irgendwie auch nutzlos. Das Wahlergebnis haben sie jedenfalls nicht positiv beeinflussen können, wie die vorläufigen Zahlen zeigen. Mit 4,6 Prozent haben es die Liberalen mit ihrem Spitzenkandidaten Sebastian Czaja nicht ins Berliner Abgeordnetenhaus geschafft. Damit ist das Landesparlament der Hauptstadt bereits das sechste ohne FDP-Abgeordnete, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Mehr noch: Bei drei der letzten fünf Urnengänge scheiterte die Partei an der 5-Prozent-Hürde.

Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass viele, die sonst FDP wählen, der CDU ihre Stimme gegeben haben.

Das stimmt auch, also fangen wir an mit der Wählerwanderungsanalyse.

Nach den Erhebungen von Infratest Dimap gewann die CDU gegenüber September 2021 insgesamt 104.000 Wähler. Am meisten gewann die Christdemokraten von der SPD (52.000) und der FDP (29.000). Von den sonstigen Parteien wanderten 17.000 Wähler zur CDU, von den Grünen 14.000, von der Linken 10.000 und von der AfD 5000. Stimmen abgeben musste der klare Wahlsieger nur ans Lager der Nichtwähler (23.000).[2]

Der große Austausch zwischen SPD und CDU ist nicht überraschend, diese beiden Parteien liegen im politischen Spektrum relativ dicht beieinander. Viele, die bei einem vorhersehbaren Wahlergebnis die „Sonstigen“ gewählt hätten, wollten ihre Stimmen nicht verschenken und schenkten sie der CDU. Dass auch die CDU per Saldo Wähler ins Nichtwählerlager abgeben musste, ist angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung ebenfalls nachvollziehbar. Krasser finde ich, dass von der Linken per Saldo 10.000 Menschen rübergemacht haben zu den Konservativen. Und sie bekamen in der Tat 29.000 Stimmen von der FDP. Der Wechsel von AfD-Wählern zur CDU ist hingegen erstaunlich gering. Da hätte ich mehr Austausch erwartet.

Die SPD hat es schwer erwischt. Über 50.000 Wähler:innen gingen zur CDU, siehe oben, 54.000 blieben zu Hause, die 2021 noch die Sozialdemokraten gewählt haben.

Ansonsten ist der Wechsel relativ gering, nur 12.000 Wähler:innen gingen zu den Grünen  3.000 bis 4.000 Wähler:innen gingen zu den Linken oder der AfD, nur 2.000 zur FDP. Sozialdemokratisch wählen scheint, bis auf die sehr einfallslose Taktik, stattdessen CDU zu wählen, eine Herzensangelegenheit zu sein: Ist die SPD nicht wählbar, bleibt man lieber zu Hause, als zu wechseln. Vieles dürfte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey zu verantworten haben. Sie ist nun einmal vielen Menschen unsympathisch, nicht nur mir, der ich sowieso noch nie SPD gewählt habe. Außerdem hat die SPD neben der FDP den meisten Gegenwind aus der Bundespolitik. Olaf Scholz würde nach aktuellen Umfragen nicht mehr Kanzler werden. Was ich übrigens bedauern würde, in Anbetracht der übrigen Möglichkeiten.

Und was ist mit den Grünen los? Auch sie haben verloren (-0,4 Prozent) gegenüber 2021. Und sie gewinnen nur von der Linken hinzu, ansonsten Verlustposten bei der Wählerwanderung.

31.000 Stimmen Abwanderung zu den Nichtwählern, das ist heftig, für eine Partei, die sich nach wie vor als eine Art politische Avantgarde versteht, mit Wähler:innen, die sich selbst für politisch überdurchschnittlich aktiv und sehr elaboriert halten. Die leichten Verluste von 12.000 / 14.000 Wählern an CDU und SPD hingegen sind im Rahmen der üblichen Fluktuation. Nichts Dramatisches. Vielleicht gibt es eine Antwort, die in der Spitzenkandidatin zu suchen ist. Bettina Jarasch kam auf extrem schlechte Durchschnittswerte in Sachen Beliebtheit (-1,3 Prozent), sogar Giffey liegt fast 1 Prozent besser – und die Beliebtheit von Jarasch ist gegenüber 2021 um fast 1 Prozent gesunken.

Warum?

Gute Frage. Ich befürchte fast, je mehr sie sich positioniert, desto unangenehmer wird sie den Menschen. 2021 war sie relativ unbekannt. Persönlich kann ich das vor allem in Relation zu Giffey oder auch CDU-Kandidat Wegner nicht nachvollziehen. Nicht, dass ich vor Freude hüpfen würde, wenn ich ein Plakat mit ihr sehe, aber dieses sehr negative Bild teile ich derzeit nicht.

 Sie ist seit dem 21. Dezember 2021 Bürgermeisterin von Berlin sowie Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz[1] im Senat Giffey. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Sie war die Kandidatin der Berliner Grünen für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 und kandidiert erneut für die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2023.[3]

2021 hatten die Grünen nicht den Mut, eine:n der bekannten, linksgrünen Politiker:innen als Spitzenkandidat:in antreten zu lassen. Man hatte wohl Angst vor der Polarisierung. Als Senatorin für brennende Themen wie Umwelt und Klimaschutz ist Jarasch  zuständig für Dinge, die in Berlin bisher grottenschlecht laufen, wie die Verkehrswende. Da hätte sie deutlichere, übergreifende Zeichen setzen können, dass sie es ernster meint als ihre Vorgägner:innen. Ruhig auch mit etwas Symbolpolitik. Stattdessen fühlten sich alle Autofahrer:innen von ihr angegangen oder missverstanden und die CDU  hat es mit eigentlich schwachsinnigen Wahlplakaten wie „Berliner, lasst euch eure Autos nicht wegnehmen!“ ausgenutzt. Hinzu kommt,  es gibt einige Grünwähler:innen, die gar nicht mehr so grün sind, wenn es um den persönlichen Lebensstil geht. Die hat sie wohl nicht so richtig mitgenommen. Außerdem kriegen die Grünen keine eindeutige Haltung in der Wohnungspolitik hin, obwohl sie dafür die richtigen Leute hätten, die tatsächlich schon etwas gemacht, etwas bewirkt haben, wie die Baustadträte von Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, wofür vor allem ersterer von konservativ-neoliberalen  Journalisten und dem politischen Gegner  hart angegangen wurde. Die Grünen  haben in die innerstädtische Zivilgesellschaft hinein nach meiner Auffassung nach wie vor einen besseren Anschluss als die Linke. Der Bundestrend für die Grünen ist nicht so dramatisch negativ wie für FDP und SPD, aber auch kein Bonus. Sie habe ihr Ergebnis knapp gehalten, damit liegen sie von allen Berliner Regierungsparteien am besten.

Damit zur dritten dieser Parteien, der Linken. 1,9 Prozent verloren. Ist das Mist oder nochmal davongekommen?

Die Wikipedia-Grafik weist einen Fehler auf: Der Gesamtverlust der Linken seit 2017 beträgt 3,4 Prozent. 1,5 Prozent im Jahr 2021, nochmals 1,9 Prozent gestern. Damit hat sie seit 2017 mehr verloren als die SPD (-3,2 Prozent) und die Grünen haben seit damals immerhin 3,2 Prozent gewonnen. Und gestern Abend jubelt der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch: „Die Linke ist zurück!“. Klar, kommt immer darauf an, von welchen noch schlechteren zwischenzeitlichen Umfragen man ausgeht. So trösten sich Parteien gerne nach Wahlniederlagen. Bei der Analyse hilft das leider nicht. Es ist genau andersherum: Die Linke hat massiv davon profitiert, dass Menschen wie ich sie zähneknirschend gewählt haben, damit die Koalition RGR, wie sie auch  nach den gestrigen Ergebnissen wieder heißen wird, weitermachen kann. Das wirkliche Potenzial der Linken, die Zahl der Menschen, die diese Partei noch aus voller Überzeugung wählen, ist mittlerweile geringer, davon bin ich fest überzeugt.

Die Linke hat 40.000 Wähler durch zu Hause bleiben verloren, aber auch 10.000 an die CDU und 7.000 an die AfD.

Und 5.000 an die SPD und 3.000 an die Grünen. Austausch  mit der FDP hingegen: exakt Null. Ich finde Linke, die CDU wählen, sehr sonderbar, um ehrlich zu sein. Hingegen gibt es einen gewisser Wählerkreis, der das Rückkehr-nach-Reims-Syndrom hat und kein Problem damit, von links nach ganz rechts zu wandern, daher für mich keine Überraschung: die vergleichsweise große Abwanderung hin zur AfD. Im Osten ist dieses Syndrom ja noch viel stärker ausgeprägt. Vielleicht ist es aber nur ein Scheinsyndrom.

Worum handelt es sich dabei und wie wirkt es sich aus?

Es beschreibt ein Phänomen, das Didier Éribon in dem berühmten Buch „Rückkehr nach Reims“ analysiert hat. Wie es passieren konnte, dass so viele Menschen, die früher links, sogar kommunistisch, gewählt haben, nun den FN (Front National), jetzt RN, ihre Stimmen geben. Es ist vielleicht deshalb in Bezug auf deutsche Verhältnisse ein Scheinsyndrom, weil die Linke in der Arbeiterschaft, die Éribon untersucht hat, ohnehin nur eine geringe Basis vorfindet, anders als Marine Le Pen und ihr linker Gegenspieler Jean-Luc Mélenchon in Frankreich. Wir werden den Unterschied gleich an der Gesellschaftsgruppenanalyse sehen.

Noch ein paar Worte zur AfD?

Gottseidank einstellig geblieben, ein paar Wähler:innen an die CDU abgegeben, von den Linken erhalten, aber 26.000 Abwanderungen ins Nichtwähler:innen-Lager. Auch Rechte kriegen zum Glück den Hintern nicht immer hoch, sonst hätte es dazu kommen können, dass die aktuelle Regierungskoalition nicht so deutlich bei der Anzahl der Sitze führt, dass die problemlos weitermachen kann. Wobei ihr natürlich auch das Ausscheiden der FDP aus dem Abgeordnetenhaus hilft, denn somit fallen fast 14 Prozent der Stimmen untern den Tisch (4,6 Prozent für die FDP, 9 Prozent für die Sonstigen).

Und damit zur Wählergruppenanalyse, zunächst nach Altergruppen: Einer der Hauptgründe für das überraschend gute Ergebnis der CDU bei der Wiederholungswahl in Berlin ist ihr starkes Abschneiden bei den Wählern ab 60 Jahren, die dieses Mal zu 38 Prozent für die Christdemokraten stimmten. Außerdem konnte sich die Partei auf die Beamten verlassen.[4]

In den Kommentaren schrieb jemand: „Wie kann man nur in dem Alter eine Partei wählen, die die Rente ab 70 propagiert?“ Trockende Antwort eines anderen Lesers: „Weil man dann seine Rente meist schon sicher hat.“

Die Generationenfrage ist bei dieser Wahl sehr deutlich geworden und bietet Hoffnung für die Linke. Die Grünen führen bei der Altersgruppe unter 30, die Linke liegt deutlich vor CDU und SPD auf Platz 2. Das ist ausbaufähig, auf diese jungen Menschen muss die Partei unbedingt setzen. Sie wandern auch höchstens mal zu den Grünen, nicht zur AfD, wie einige paternalistisch organisierte Altlinke.

Hingegen kommt die Linke ausgerechnet in meiner Altersgruppe am schlechtesten an. Klar, wir sind keine „Traditionswähler“ schon seit DDR-Zeiten und vielfach gesettelt im grünen Bereich, aus der Zeit unserer politischen Prägung.

Die Jungen wählen nur wenig AfD, aber fast so viel FDP wie CDU und SPD.

Die FDP macht jungen Menschen ein Versprechen von der großen Freiheit im digitalen Universum, das auf geringe politische Erfahrung zielt: Es erweist sich für viele im Laufe des weiteren Lebens als Trugschluss. Die 4,6 Prozent, welche die FDP jetzt bekommen hat, sind hingegen valide. Etwa so viele Menschen in Berlin profitieren tatsächlich vom den Egoismus fördernden Programm dieser Partei. Viele junge Menschen sind aber für die Klimarettung und viele haben auch eine Ahnung, wie es sein könnte, trotz akademischer Ausbildung im Prekariat zu landen und daher sozial wach genug, die Linke zu wählen. Diese Generation ahnt, was kommen könnte und muss daher von der Linken gezielter angesprochen werden als bisher. Möglichst, ohne den Generationenbruch zur Maxime zu machen, denn wir werden es in der Tat nur alle zusammen wuppen, klassenorientiert, nicht altersorientiert.

Klassen sind in dem Panel der Welt nicht ausgewisen, nur Berufsgruppen. Beamte sind konservativ, Arbeiter:innen auch?

Arbeiter:innen gibt es in Berlin nur wenige, darauf habe ich oben angespielt. Deswegen ist der Klassenkampf entlang der Einkommensgrenzen zu führen. Das muss verstanden werden: Als Arbeiter:innenpartei im Sinne einer Heimat für Menschen, die in der Produktion oder gar im Primärsektor arbeiten, wird die Linke in Berlin nicht mehr weit kommen. Diese Zeit ist unwiderruflich vorbei.

Aber was macht man mit den strukturkonservativen Beamt:innen? Deren Zahl nimmt ja zu.

Diese Gruppe ist wirklich zukunftsfeindlich. Es könnte diesen Menschen gar nichts passieren, sie haben einen sicheren Job, egal, was kommt und wie experimentierfreudig sie politisch wären. Der Staat hat sie gut zu versorgen und basta. Aber warum wird ein Mensch Beamter oder Beamtin? Weil er eben konservativ, nicht progressiv denkt. Und das sichert Parteien wie der CDU viele Wähler:innenstimmen. Hinzu kommt: Ich glaube, dass in Berlin vor allem aus dem Sicherheitsapparat viele CDU und auch AfD wählen. Die CDU ist die einzige traditionelle Partei, die z. B. den Sound bei der Polizei gut trifft und nimmt diejenigen mit, die sich noch nicht entschließen können, ganz nach rechts zu driften. Giffey versuchte den Spagat, linkere SPD-Wähler:innen und die konservativen Beamt:innen zu erreichen und ist damit gescheitert. Immerhin kommt ihre Partei bei ihnen aber noch auf ein leicht überdurchschnittliches Ergebnis.

Bei den Bildungsabschlüssen ebenfalls ein sehr eindeutiges Bild: Je höher der Abschluss, desto mehr Grün und Links.

Das bietet doch für die Zukunft bei weiter zunehmender Akademisierung alle Chancen, oder? Allerdings sollte dann die Bildung selbst besser werden, und daran sind bisher schon Berliner Senate in allen möglichen Konstellationen gescheitert. So sehr, dass man fast meinen könnte, es handele sich nicht um Versagen, sondern um eine absichtliche Verdummungsstrategie, die Menschen politisch im präpubertären Stadium halten soll. Dazu reicht es nicht, sie im Studium für die Wirtschaft zu konfektionieren, dafür müssen von der Kita an die schlechtestmöglichen Verhältnisse geschaffen werden. Zugunsten der Reichen, deren Kinder privat betreut und geschult werden. Berlins Bildungssystem ist hochgradig klassistisch, egal, wer hier gerade regiert. Das kann den progressiveren Parteien noch auf den Kopf fallen. Wir können wirklich froh sein, dass so viele Menschen mit höherem Bildungsgrad nicht sagen: Unsere Stulle ist bei der FDP viel besser gebuttert. Der hohe Grünanteil bei Akademiker:innen trotz der begrenzten sozialen Kompetenz der Grünen ist aber auch schon ein Signal, das man nicht unterschätzen darf.

Daher meine ich: Jung und akademisch, inklusive der Gefahr, dass der Abschluss nicht mehr das ist, was er vor 20, 30 Jahren mal war, nicht mehr diesen Wert hat, wenn 80 Prozent aller Menschen in dieser Stadt eine Art Notabitur machen,  ist die beste Kombination, um in der Zukunft wirklich etwas besser zu machen.

Ist das nicht trotzdem Bashing gegen die Hauptschüler:innen?

Hier greife ich zu einem Beispiel. In meinem Umfeld gibt es eine Person, die hat, soweit ich weiß, nur einen Hauptschulabschluss, bestenfalls mittlere Reife, ist Mieterin und Fahrradfahrerin. Einkommensmäßig gehört sie zum untersten Mittelstand. Sie wäre, um sozial voranzukommen, angehalten, die Linke zu wählen, die ja auch grün genug ist, um zum Beispiel mich als ebenfalls Fahrradfahrer nicht zu verschrecken.

Aber es ist ihr wichtiger, auf einer rudimentären Ebene gesellschaftspolitisch sehr konservativ zu sein und zudem ihrer katholischen Prägung qua Familie zu frönen, obwohl sie nicht religiös ist. Und CDU zu wählen. Gegen die überwiegenden eigenen Interessen, nach meiner Ansicht. Ich bin sicher, es gibt gerade in dem Bildungscluster viele Menschen, die sich zwar informieren, aber die Zusammenhänge zwischen ihrem Wahlverhalten und den Zuständen, die sich einfach nicht verbessern wollen, anders wahrnehmen  als wir. Desweiteren bin ich mir nicht sicher, ob diese Person in Kenntnis meiner Ansichten nicht vielleicht anders gewählt hat als mir gegenüber angegeben.

Schlussendlich, aber ganz wichtig: Es  gibt eine individuelle Implikation, die man nicht außer Acht lassen darf.

Die Person hat gerade den kleinen Laden aufgegeben, in dem sie angestellt geschäftsführend tätig war. Das soziale Umfeld in der Gegend hat sich schnell und stark negativ verändert, traditionelle Kunden bleiben dadurch aus, die Inhaber schlossen den Laden am  31.12.2022. „Rapide sich verschlechterndes Umfeld“  entspricht meinen Beobachtungen. Stattdessen wird nun eine   Geldwaschanlage in dieses Ladenlokal einziehen, wie sie sich überall in Berlin ausbreiten, man kann auch sagen, sich wie die Raupe Nimmersatt in gewachsene Strukturen hineinfressen und sie, zusammen mit der Gentrifizierung, zerstören. Beides ist schädlich für eine solidarische Stadt.

Ich würde wegen des sehr unangenehmen Gefühls, das ich dabei habe, nicht rechts wählen, sondern möchte mehr Solidarität der Guten aller Ethnien und Religionen und sonstigen Identitätsbestandteile verwirklicht sehen. Aber es gibt Menschen, die persönlich verletzt wurden durch Vorgänge und Umstände, auf die sie keinen Einfluss hatten. Im Sinne des Gerechtigkeitsgefühls kann ich deren Ansichten durchaus nachvollziehen. Wir ärgern uns gemeinsam, aber wir bevorzugen unterschiedliche Konsequenzen.

Für gerade ziemlich verbitterte Menschen wie diese Person haben Grüne und Linke null Feeling und keine Angebote, obwohl diese Menschen die Stadt mit am Laufen halten mit ihren hübschen und interessanten, vielfältigen und charmanten Kleingewerben. Das ist die eigentliche Arbeiterschaft in Berlin, und die ist in Gefahr, nach rechts verloren zu gehen. Schon Corona hat in diesem Milieu deutliche Schleifspuren hinterlassen, Hilfen während der Lockdowns etc. hin oder her. Viele konnten das nicht auffangen, was verloren ging. Gerade einige der  Ehrlichen, die nicht die Gelegenheit genutzt haben, um sich ungerechtfertigte Hilfen zu organisieren, stehen wackeliger dar als zuvor. Und dann solche Erfahrungen obenauf, wie oben geschildert.

Der Weg, deshalb CDU oder AfD zu wählen, ist nicht meiner, führt m. E. in eine Sackgasse. Meine schlechten Erfahrungen, die ich vor zehn, fünfzehn Jahren in Berlin gemacht habe, sind schon weitgehend bewältigt, verarbeitet, und sie haben mich eher weiter nach links gehen lassen. Von den Grünen zur Linken, so der Stand seit der AGH-Wahl 2016. Seit etwa zwei bis drei Jahren bin ich auf dem Sprung nach weiter links, sollte es zu einer Partei kommen, die klassenkämpferisch, antiimperialistisch-äquidistant, gesellschaftspolitisch progressiv ist und Chancen hat, die Fünfprozenthürde zu überspringen. Die also meinem mittlerweile als überwiegend trotzkistisch identifizierten politischen Gepräge am besten entsprechen würde.

Dann blicken wir doch ein wenig voraus. Es ist Herbst 2026. Die nächsten Abgeordnetenhauswahlen stehen an.

Meine Befürchtung ist, dass wir wieder alle ran müssen, um den Rechtsruck zu verhindern und daher nicht dazu beitragen können, sympathische Kleinparteien zu wählen. Das ist wirklich ein Problem. Ich bin deshalb, anders als früher, nicht mehr sicher, ob die Fünfprozenthürde eine gute Idee ist. Sie sollte einst die verworrenen Weimarer Verhältnisse verhindern, aber gegenwärtig sorgt sie dafür, dass neue Kräfte es schwer haben, sich zu etablieren.

Wir haben nun fünf Parteien im Berliner AGH, normalerweise wären es sechs, ebenso wie auf Bundesebene. Damit ist, wenn jemand dies oder das verhindern und den Koalitionspoker in sein Wahlverhalten integrieren will, der Kanal dicht für weitere Aufsteiger. Es sei denn, sie treten so gewaltig an, wie man es z. B. einer Wagenknecht-Partei zurechnet, nämlich, sie kommen aus dem Stand über fünf Prozent. Sie würde dann im Bundestag die Linke ersetzen, aber nicht ergänzen, in Berlin wäre dann in der Tat eine Partei mehr im Abgeordnetenhaus zu finden. Oder sie decken einen lange vorhandenen Bedarf ab, wie die AfD am rechten Rand und klären damit die Lage. Sie machen das System transparenter, wenn auch nicht freundlicher. Doch viele kleine Parteien, die von bestimmten Kombinationen guter  Ideen leben und Dinge in Nuancen anders machen wollen als die Größeren, vielleicht etwas konsequenter sind, wie einst die Grünen, können sichnicht entfalten. Insofern hatten die Grünen eine glückliche Zeit, als sie sich in Form der vierten Kraft etablieren konnten, nach drei Jahrzehnten Dreiparteiensystem in Westdeutschland.

Würde 2026 eine Wagenknecht-Partei antreten, wäre sie wählbar?

Sie wäre all das nicht, was ich oben als für mich wichtige Inhalte oder Eigenschaften angerissen habe und wovon ich mindestens den überwiegenden Teil als gegeben abhaken möchte. Insofern ist die Frage leicht zu beantworten: nein.

Also wie gehabt? Die Linke mit Bauchgrimmen wählen?

Ich bin leider nicht im Besitz einer Glaskugel. Situationen und Konstellationen wiederholen sich nie exakt. Wir werden sehen, wie es bis dahin in Berlin aussieht und was wir tun müssen gegen rechts.

TH

[1] Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2023 – Wikipedia

[2] Wählerwanderung: CDU verliert nur an die Nichtwähler, Grüne gewinnen nur von einer Partei hinzu – WELT

[3] Bettina Jarasch – Wikipedia

[4] Alter, Beruf, Geschlecht: Generation 60plus sichert den deutlichen CDU-Sieg – SPD in keiner Altersgruppe vorn – WELT

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