Die Ukraine in der NATO? (Umfrage + Kommentar) | Briefing 144 | Geopolitik, Ukrainekrieg

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Derzeit ist die Ukraine in der Defensive. Es sieht aus, als ob russische Einheiten die hart umkämpfte Stadt Bachmut eingeschlossen hätten und die Verteidiger, die sich darin befinden, zur Aufgabe zwingen könnten.

Das Muster hatten wir in diesem Krieg schon häufiger und jedes Mal fragt man sich danach: Welch ein Sterben für ein paar Quadratmeter Boden im ukrainischen Hinterland. Ganz weit darüber scheint die Frage zu schweben, was wird eigentlich nach dem Krieg? Wie werden die Grenzen der Ukraine aussehen? Wie will man vermeiden, dass sich ein Angriff wie derjenige, den Russland seit dem 24.02.2022 auf das Land ausführt, wiederholt?

Die NATO-Mitgliedschaft scheint da eine naheliegende Lösung zu sein, denn noch nie wurde ein NATO-Mitgliedsstaat auf seinem Territorium  angegriffen. Das gilt auch für die überwiegende Mehrzahl der Nicht-Atomstaaten im Bündnis. Diese Frage, die Civey heute gestellt hat, liegt also nah:

Civey-Umfrage: Sollte die NATO die Ukraine Ihrer Meinung nach perspektivisch als Mitgliedstaat aufnehmen? – Civey

Der Begleittext aus dem Newsletter dazu:

Die NATO-Verbündeten haben sich darauf geeinigt, dass die Ukraine Teil ihrer Militärallianz wird. Das verkündete Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern in Helsinki auf einer Pressekonferenz. Dies sei jedoch eine langfristige Perspektive. Derzeit hätte die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland Priorität. Sobald dieser vorbei ist, müsse man aber sicherstellen, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. Er geht davon aus, dass Russland die Ukraine kontrollieren will und keinen Frieden plant.

Seit Juni letzten Jahres ist die Ukraine offizieller Beitrittskandidat. Im September beantragte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen beschleunigten Beitritt zur NATO. Er reagierte damit auf die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland, die der russische Präsident Wladimir Putin kurz zuvor unterzeichnet hatte. Vorangegangen waren Referenden in den besetzten Gebieten, die vom Westen als Völkerrechtsbruch bezeichnet wurden.

Die NATO-Osterweiterung durch den ukrainischen Beitritt stellt aus Russlands Sicht eine Bedrohung dar. Wladimir Putin begründete seinen Angriff u.a. damit, genau dies verhindern zu wollen. Der Beitritt ist auch unter den westlichen Bündnispartnern umstritten. Mitglieder wie Deutschland und die USA sahen einen ukrainischen Beitritt bislang eher skeptisch, da sie einen Konflikt mit Russland vermeiden wollen.

Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt, um das gleich klarzustellen. Zu vieles hängt für uns von Umständen ab, die wir noch nicht voraussehen können. Zum Beispiel, ob es die Ukraine am Ende des Krieges überhaupt noch geben wird. Das ist nämlich keineswegs sicher, trotz aller westlichen Finanz- und Waffenhilfe. G3ewiss wäre es geboten, Putins unverantwortlichen „Angriffsgrund“ mit einer einhegenden Maßnahme zu beantworten, aber wir finden, die USA und Deutschland liegen richtig damit, wenn sie vorsichtig bleiben. Die osteuropäischen Staaten, die sich einen Ukraine-Beitritt wünschen, haben nicht die geopolitischen Konsequenzen zu tragen, die sich daraus ergeben könnten. Und was, wenn Russland sich tatsächlich weitgehend zurückziehen würde aus dem Land unter der Garantie, dass die Ukraine eben kein NATO-Mitglied wird?

Diesen Weg darf man sich nicht verbauen und da muss auch das Recht von Staaten zurückstehen, ihre Bündnisse frei zu wählen. Das Blutvergießen zu beenden, wäre in diesem Fall und unter Wahrung der weitgehenden Integrität des Landes wichtiger.

Sehr viele Länder haben von dem Recht der Bündnisfreiheit schon Gebrauch gemacht und die NATO hat sich dadurch immer weiter ausgedehnt, bis an die Grenzen Russlands. Nun werden mit Finnland und Schweden ohnehin zwei weitere, bisher offiziell neutrale, wenngleich westlich orientierte und wirtschaftlich wie demokratietechnisch sehr kompetente Länder zur NATO stoßen. Allein das ist eine Niederlage für die Strategen im Kreml und ihre wenigen eindeutigen Verbündeten auf der Welt.

Hingegen würde es möglicherweise nach einem halbwegs fairen Friedensschluss ausreichen, wenn man der Ukraine Sicherheitsgarantien geben würde, die notabene nicht beinhalten dürfen, dass dort NATO-Truppen stationiert oder gar Atomwaffen der NATO gelagert werden. So viel Verständnis muss man auch für eine russische Führung aufbringen, die sich ins Abseits gestellt hat. Ganz sicher würde von diesem Gebiet kein Angriff auf Russland ausgehen, auch, wenn es der NATO angehören würde, aber wenn Symbole wie die offizielle Neutralität wichtig sind, sind sie wichtig.

Keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. So sieht es gegenwärtig eine relative Mehrheit von 40 Prozent derer, die abgestimmt haben, und zwar eindeutig. Auf der genauen Gegenseite verorten sich 31 Prozent. Wir sind bei den 8 Prozent gelandet, die sich diesbezüglich jetzt nicht festlegen wollen.

Es ist für uns auch ein großer Unterschied, ob man einem Land bei der Selbstverteidigung hilft, oder ob man die NATO immer weiter ausdehnt und damit auch überdehnt. Schon der Konfliktmacher Türkei zeigt, dass nicht alles in diesem Bündnis glänzend läuft, es große Disparitäten gibt, dass geostrategische Aspekte zu sehr über die Wertegemeinschaft dominieren.

Dass einige osteuropäische Länder, auch ehemalige Sowjetrepubliken, so sehr russlandfeindlich sind, zeigt allerdings auch, wie wenig sie seinerzeit mit den Herzen dabei waren, als sie Mitgleider der sowjetischen Einflusssphäre oder der Sowjetunion selbst waren. Auch das muss berücksichtigt werden, wenn man geostrategische Entscheidungen wie die künftige Absicherung der Ukraine gegen Angriffe aus dem Osten trifft. Es kommt nichts von nichts und wir glauben, die Angst einiger kleinerer Staaten, die nun sowohl EU- als auch NATO-Mitglieder sind, vor Russland ist echt, nicht gespielt.

Der Westen muss sich außerdem dafür verantworten, dass er der Ukraine nicht erst seit dem sogenannten Euromaidan den Wurstzipfel von Wohlstand und Sicherheit in erst einmal unerreichbarer Höhe, aber sichtbar aufgehängt hat und damit den politischen Gang der Dinge in dem Land entscheidend beeinflusst hat. Die Ukraine hätte durchaus neben Serbien das zweite osteuropäische Land werden können, das sich freiwillig an Russland orientiert oder tatsächlich eine Mittlerposition einnimmt. Wobei das bei Serbien noch immer nicht eindeutig ist, trotz der Tatsache, dass die NATO dort völkerrechtswidrig in den Nachfolgekrieg um das jugoslawische Territorium eingegriffen hat. Ebenfalls wäre in Sachen Ukraine eine echte Neutralität wohl kein langfristiger Trend geworden, denn der Westen hat dank seiner geostrategischen Macht und seines größeren Wohlstandes eine beinahe unwiderstehliche Anziehungskraft. Gerade auf ein Land, das u. a. noch weit von EU-Standards entfernt ist und wirtschaftlich hinter Russland und noch mehr hinter dem Westen zurückliegt.

Russland hingegen hat seit der Krim-Besetzung eine ökonomisch eher bescheidene Entwicklung genommen und die Lücke zum Westen nicht weiter schließen können. Das vermerken die Menschen sehr wohl, die wissen wollen, wo ihre Stulle gebuttert ist. Hinzu kommen allfällige Streitigkeiten um die Vergütung von Durchflussrechten für russisches Gas durch die Ukraine, kommt die Unterstützung der Separatisten im Osten durch Russland, die von der überwiegenden Mehrheit der Menschen in der Ukraine nicht geschätzt wird. Man stelle sich vor, Dänemark würde aktiv eine Separatistenbewegung in Nord-Schleswig-Holstein promoten, die bewaffnete Auseinandersetzungen provoziert. Würden wir das in Ordnung finden? Wir haben kürzlich auch den Unterschied zwischen Autonomiebestrebungen und dem Austritt aus einem Staat dargestellt. Erstere Handhabe gibt es in vielen Ländern, aber eine Zersplitterung in immer kleinere Einheiten, wie auf dem Balkan zu beobachten, kann nicht die endgültige Lösung sein. Zumindest nicht, wenn diese sich nicht wiederum in einer großen Gemeinschaft wie der EU zusammenfinden.

Von einer solchen Mitgliedschaft wären aber die ostukrainischen Gebiete abgeschnitten, würden sie bei Russland bleiben und die Dann-noch-Minderheit der prowestlichen Ukrainer:innen im Donbass hätte nichts zu lachen. Hingegen sind wir ziemlich sicher, dass im Zuge der geforderten Demokratisierung ethnische Russ:innen im Westen des Landes vor Verfolgung geschützt wären, wie sie es auch in den baltischen Staaten sind. Es gab auf dem Gebiet der EU bisher keine ethnischen Säuberungen – allenfalls gewisse Fouls, wie die Tatsache, dass einige Länder versuchen, Minderheiten kulturell „anzupassen“, wie es die Franzosen mit der (auch) germanophonen Bevölkerung innerhalb ihrer Grenzen tun, indem sie diese kulturellen Wurzeln beseitigen.

NATO-Länder unterliegen im Grunde den gleichen Voraussetzungen wie EU-Länder, mit der erwähnten Ausnahme, die dazu geführt hat, dass auch Druck aus den USA es nicht bewirken konnte, dass die EU die Türkei aufgenommen hat. Das Beitrittsverfahren gibt es schon lange, aber es steckt fest und das Land entwickelt sich zu einem geostrategischen Eigenbrötler, der versucht, sich zwischen allen Fronten zu bewegen und dabei selbst Fronten eröffnet, wie in den syrischen Kurdengebieten. Das heißt: Wenn man der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft anbietet, muss man sie perspektivisch in die EU lassen, sonst gibt es in Abwesenheit einer langfristigen, für die Bevölkerung vorteilhaften Neutralität ein Defizit bei der klaren Verortung. Die Ukraine ist groß und immer noch bevölkerungsreich genug, um geopolitisch als Nahtstelle zwischen Russland und dem Westen für Unruhe zu sorgen, wenn man sie nicht deutlich genug einbindet. Was wiederum eine sehr teure Angelegenheit würde, nebenbei bemerkt. Dass z. B. der NATO-Staat Norwegen kein EU-Mitglied ist, kann man mit einem Lächeln quittieren: Länder, die so aufgestellt sind, glauben eben, dass sie ökonomisch alleine besser fahren, als zu den Zahlmeistern der EU zu rechnen. Aber die Ukraine hat diese große wirtschaftliche Festigkeit nie gehabt, seit sie existiert. Dafür hats sie eine lange Grenze mit Russland (und eine mit Belarus), die es zwingend erforderlich macht, eine ruhige Lage herbeizuführen und eine vom Westen gestützte wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen.

Wie man das am besten erreicht, hängt vom weiteren Kriegsverlauf und den Friedensverhandlungen ab, die darauf folgen. Es kann richtig sein, die Ukraine in die NATO und die EU aufzunehmen, muss aber nicht. Letzteres ist sowieso eine langfristige Perspektive, Ersteres könnte ziemlich schnell gehen. Einen zeitlichen Gap wird es deswegen ohnehin geben und wir haben uns an anderer Stelle schon dagegen ausgesprochen, dass die Ukraine einen EU-Expresszuschlag bekommt, weil sie sich dem Aggressor gegen den Westen stellvertretend für den Westen entgegengestellt hat. Letzteres ist ein gerne verwendetes Narrativ, das bei näherer Betrachtung nicht so recht zieht. Kein NATO-Staat war bisher in Gefahr, von Russland angegriffen zu werden und die berüchtigte Cyber-und-Medien-Aktivität russischer Propagandisten lässt sich durch eine NATO-Mitgliedschaft nicht abwehren, falls sie denn eine so große Rolle spielt, wie immer wieder behauptet wird. Die Verpflichtungen des Westens gegenüber der Bevölkerung der Ukraine gegenüber ergeben sich in der Tat mehr aus deren Anfütterung durch westliche Akteure, mithin aus den Folgen von Propaganda, als aus der aktuellen demokratisch-westlichen Struktur der Ukraine.

Wir haben jedoch über lange, lange hinweg Zeit gelernt: Am Ende ist am stabilsten, was geopolitisch funktioniert, was Konflikte in Grenzen hält, nicht das, was einige Hitzköpfe anzetteln, die darauf abzielen, die Welt in Brand setzen oder alle zu opfern außer natürlich sich selbst. Wir setzen also vor allem auf die Vernunft, die irgendwann einkehren wird. Ob mit oder ohne NATO-Beitritt der Ukraine. Dazu muss vor allem eine Entwicklung dahingehend eintreten, dass die ganz Großen nicht sehr gut mit der gegenwärtigen Lage fahren, mithin China und die USA. Bei der Herbeiführung einer solchen Lage kommt den Europäern und den neutralen großen Staaten eine ganz bedeutende Rolle zu. Wir sind sehr gespannt darauf, ob die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik sich endlich dazu bequemt, strategische Ansätze in dieser Richtung zu entwickeln, die über den Status von hektischen und unausgegorenen Spontanreaktionen hinausgehen.

TH

 

 

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