Crimetime 1147 – Titelfoto © WDR
Kressin und der tote Mann im Fleet ist der dritte Fernsehfilm der Krimireihe Tatort. Er wurde vom WDR produziert und führte Sieghardt Rupp in der Rolle des Zollfahnders Kressin in die Reihe der Tatort-Kommissare ein. Die deutsche Erstausstrahlung fand am 10. Januar 1971 statt.
Ein riesiges Ereignis für jeden Tatort-Fan. Endlich haben wir die Nummer 3, obwohl es ja irgendwie die Nummer 7 ist – und das mitten in der Quotendiskussion um die Experimentaltatorte. Aber der Reihe nach. Zunächst zur Handlung, dann zur Rezension.
Handlung (1)
Der Zollfahnder Kressin befindet sich auf einem Schiff auf der Rückreise aus dem Urlaub vom Bosporus und unterhält sich mit seinen beiden jungen Freundinnen Tatjana und Ulrike. Er sieht, wie der Reiseleiter Ben Canitz orangefarbene Handbälle ins Wasser wirft. Als Kressin ein Motorboot entdeckt, das diese Bälle wieder einsammelt, wird er aufmerksam und kann sogar den Namen Judith 3 des Bootes ausmachen. Er sucht Canitz in seiner Kabine auf und stellt ihn zur Rede, lässt ihn aber dann wieder allein, weil er ja noch im Urlaub und eigentlich nicht im Dienst ist. Als die Passagiere von Bord gehen und in einen Bus steigen, sieht Kressin, als er sich umblickt, zwei Männer, die auf das Schiff gehen. Sie holen Canitz ab und fahren mit ihm zu ihrem Auftraggeber, dem Geschäftsmann Aram, der Canitz gegenüber so tut, als würde er ihn mit weiteren Rauschgift-Lieferungen betrauen. In Wahrheit jedoch lässt Aram Canitz – unter dem Vorwand, ihm weiteres Rauschgift übergeben zu wollen – von seinen Leuten aufs Hafengelände locken, wo sie ihn ermorden.
Kressin frühstückt am nächsten Morgen mit den beiden Damen vom Schiff im Hotelzimmer und sieht in der Zeitung das Bild eines „unbekannten Toten“, der in einem Fleet aufgefunden wurde. Er erkennt Canitz und setzt sich mit der Kriminalpolizei in Verbindung. Im Präsidium trifft er Kommissar Trimmel, und die beiden fahren ins Hygieneinstitut, da Trimmel schon länger eine Spur zu Rauschgiftschmugglern verfolgt und sich Anhaltspunkte ergeben, die zu dem toten Canitz führen. Der Gerichtsmediziner besteht darauf, die Fingerabdrücke des Toten zu sichern, und erläutert ausführlich, wie das vonstattengeht. Die eigentliche Todesursache steht jedoch nicht einwandfrei fest. Da Kressin nicht mit der Kripo zusammenarbeiten möchte und immer noch Urlaub hat, begibt er sich im Alleingang auf die Suche nach dem Boot Judith 3, das er schnell findet und nachts heimlich durchsucht. Bootswächter Brodersen, der mit zwei Männern vom Hafen in seiner dortigen Behausung sitzt, hört verdächtige Geräusche aus der Judith 3. Zu dritt gelingt es den Männern, Kressin zu überwältigen. Bei einem anschließenden Rapport bei Aram macht dieser ihnen Vorwürfe, dass sie möglicherweise einen Beamten fertiggemacht haben. (…)
Rezension
„Taxi nach Leipzig“ und „Saarbrücken, an einem Montag“, die beiden ersten Tatorte von mittlerweile weit über 1.000 (über 1.200 im Jahr der Veröffentlichung dieses Beitrags), haben wir bereits rezensiert und nun der dritte, der gleichzeitig der erste mit dem Zollfahnder Kressin aus Köln ist, der allerdings hier in Hamburg tätig ist und dabei Trimmel aus Tatort 1 begegnet, der Zweitkommissar, der mehr als nur einen Kurzauftritt hat. Nummer 4, „Auf offener Straße“, mit dem der Südwest-Ermittler Lutz eingeführt wurde, haben wir übrigens auch schon in der Tatort-Anthologie verortet, aber im neuen Wahlberliner noch nicht wiederveröffentlicht.
Also, wir haben gerade nach dem Tatort „Fürchte dich“ (1033) eine Diskussion um die Experimente im Tatort und wie weit sie gehen dürfen, weil dieser Film von vielen Fans so vehement abgelehnt wurde – nicht von mir übrigens. Mich nerven eher die drögen Schema-F-Filme der Reihe, wenn sie nicht durch außerordentlich gute Plots hervorstechen oder durch ausgezeichnete Charakterstudien, das gibt es ja immerhin auch. Trotzdem, alles Geschmacksache, selbstverständlich.
Nur, was haben wohl die Fernsehzuschauer 1971 gedacht, als Kressin auf den Plan trat? So ein Typ in jener Zeit? Der einen gesellschaftlichen Wandel verkörperte, von dem höchstens zehn oder fünfzehn Prozent der Gesellschaft damals erfasst wurden? Heute ist es nicht einmal die Hälfte, die auf dem Kressin-Niveau von 1971 mitgehen kann. Ich lasse jetzt auch die Flapsigkeit und das, was heute aus Gründen der PoC nicht mehr ginge, raus. Allerdings gerate ich dann auch gleich ins Stolpern, denn das Meiste ginge genau deshalb nicht mehr. So leicht hatte sich nicht einmal Schimanski im Aufreißen von Frauen getan und Kressin muss sich nicht einmal dafür anstrengen, dass Sabine Sinjen und Eva Renzi als Playgirl-Duo ihm auf den Fersen sind und sich sogar an seinen Ermittlungen beteiligen dürfen.
Man kann die ganz offen gezeigten Anklänge an eine gewisse, schon damals sehr erfolgreiche Spielfilmreihe alles als Bond für Arme abtun, aber ich finde, „Kressin und der tote Mann im Fleet“ ist einer der lustigsten und kultigsten Tatorte. Von den Damen mit viel Zeit und Geld bis zu Sievers, dem Gangsterboss mit der Carrera-Rennbahn, die den Hollywoodstreifen abgeschaut ist, in denen Tycoone nur noch andere für sich arbeiten lassen und Zeit zum Garteneisenbahn-Spielen haben. Sogar der Gerichtsmediziner bekommt einen großen, richtig gut gespielten Moment, lange, bevor man die Idee hatte, diesen Teilnehmer an der kriminalistischen Arbeit allgemein in den Fokus zu rücken. Das wirkt hier so verblüffend statisch-bürokratisch, dass es schon wieder ein Genuss ist. Sogar die Freigabe von Haschisch wurde schon diskutiert, und es ist klar, wie Kressin als Sprachrohr der progressiven ARD-Fernsehmacher die Sache sieht. Witzig auch: dem gibt es dem bis heute kaum etwas hinzuzufügen. Natürlich war das auch der erste Drogenkrimi der Tatort-Reihe und was für ein heißes Thema deren Beginn doch war und wie die OK gerade erst begann, sich mit dem Thema zu befassen. In Deutschland natürlich. Dieses Verbrechen blüht nur, wo es Abnehmer gibt, also in den USA natürlich schon wesentlich länger, wie man im 3. Tatort nicht zu erwähnen vergisst.
Dieser ständige Gegenspieler ist ebenso ein Einzelfall im Tatort wie der schnodderige Zollfahnder. Wer hat es damals draufgehabt, diese einmalig lockeren und verspielten Dialoge zu schreiben? Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Natürlich, die Zeiten sind anders, viel düsterer geworden, aber ich sehe ja auch, wo alles herkommt. Nämlich von der Reihe „Stahlnetz“, dem Tatort-Vorgänger und da gab es derlei Spielwiesen für Extrovertierte, das Befreiungs-Feeling der späten 1960er und frühen 1970er, nicht einmal ansatzweise. Wenn ich heute Kressin betrachte und ihn auch mit den anderen Tatort-Filmermittlern seiner Zeit vergleiche, dann war er das erste Experiment und seine Filme sind für mich mit die besten der ersten Jahre. Und sie gehören zu den am wenigsten realistischen bis heute. Was sagt uns das? Der Spaß steht im Vordergrund, vielleicht neuerdings auch der Grusel, aber natürlich gab es auch damals schon eine Quote. Kressin war nun einmal der einzige seiner Art. Man kann alle anderen, Trimmel, Lutz, Finke, Konrad, Veigl zu einem Cluster traditioneller, wenn auch individueller Typen zusammenfassen; und dann war da noch dieser Kressin, der über alle Stränge schlug, was ihm als Zollfahnder offenbar leichter fiel, als wenn er in einer Mordkommission tätig gewesen wäre. Und schon damals wurde die Idee eingeführt, dass ein Polizist im Urlaub zufällig von einem Verbrechen Wind bekommt und sich selbst reinzieht in die Sache.
Wenn man so will, war damals jeder Tatort mit ihm ein Experiment, auch wenn man ihn ihn später ein klein wenig gebremst hat – auch zugunsten der, ja genau, der klassischen Krimiplots, die im Blick zu behalten man schon in „Der tote Mann im Fleet“ erkennbar Mühe hatte, weil Kressin, Trimmel, die beiden Miezen und das flotte Leben so viel Spielzeit in Anspruch nehmen. Es muss an der Kognition liegen und ich muss wieder dazu übergehen, mir die coolsten Sprüche und schnelle Bemerkungen aller Art ins Handy zu sprechen, aber mir fällt gerade nicht der Beste von allen ein, aus so vielen guten Sprüchen in diesem Film. Die Konversation der herzlichen Abneigung zwischen dem Kölner Sonnyboy, der in Wirklichkeit Österreicher war – in einer Szene merkt man das, da verspricht er sich und sagt, auch den habe ich nicht mehr genau im Kopf, einen österreichischen Ausdruck – und den Hamburgern, von denen Trimmel ja nun wirklich nicht der Steifste ist, natürlich der Talk immer Rande von dreckig, aber nie mittendrin mit den Frauen oder sie Unterhaltung mit Sievers über verschiedene Modelle für die Carrera-Autobahn. Zusammen ergibt das für mich eine der besten Kriminalkomödien, die ich bisher gesehen habe. Die Frechheit dieser Filme ist Geschichte, dagegen wirken selbst die Münsteraner bemüht und ihr Gags abgezirkelt. Vielleicht ist heute alles oder vieles mehr Kunst, visuell sogar ganz sicher, aber die Spielfreude im umfassenden Sinn des Wortes, diese Ausgelassenheit zeugt davon, dass es mal eine Zeit gegeben haben muss, in der man die neuen, guten Zeiten, und das waren wie ja für viele wirklich, hochleben lassen konnte. Ob Kressin damals so im Kreuzfeuer stand wie zehn Jahre später Schimanski? Verdient gehabt hätte er diesen Hype und das Entsetzen der Konservativen.
Man muss außerdem bedenken, die beiden jungen Frauen werden klar als Ehebrecherinnen dargestellt, deren Männer so gut verdienen, dass die Frauen in der Welt herumreisen konnten, Zustände, die heute geradezu utopisch erscheinen, wenn man den mittleren Mittelstand zugrundelegt.
Falls diese Krimis aber überwiegend akzeptiert wurden, würde das darauf hinweisen, dass die Menschen damals noch in einem Modus waren, dass sie sich sagten: Mit meinem eigenen Leben hat dies alles herzlich wenig zu tun, aber es wird jedes Jahr besser und wer weiß, was noch geschehen kann, wo doch die Welt so voller Abenteuer zu sein scheint. Eine weniger flapsige Beschreibung dieses Szenarios liefert z. B. „Strandgut“ vom NDR mit dem Ermittler Finke. Aber damals soll es wirklich Männer gegeben haben, die eine ganze Familie allein ernähren konnten und es deutete 1971 noch nichts darauf hin, dass der Aufwärtstrend stoppen könnte, im Gegenteil, die Zeit der großen Lohnzuwächse setzte damals erst ein. Die erste echte Delle durch die Ölkrise drei Jahre später veränderte dann allerdings, neben anderen Erscheinungen wie dem Terrorismus, den ersten Arbeitslosen etc. recht schnell das orangene Feeling der frühen 1970er, das doch ein wenig auf Sand gebaut war. Historisch betrachtet, war das eine einmalige, in Deutschland sehr kurze „Anything-goes-Phase“ und genau auf diese zugeschnitten war die Person von Kressin.
Die Tatort-Macher hatten immer das Ohr am Puls der Zeit, das gilt bis heute und vieles aus der Tatort-Geschichte ist deshalb verräterisch, wie etwa die sichtbare Stagnation der Reihe in den 1980ern gemäß dem gesellschaftlichen Klima, die seltsam uninspirierte Aufnahme der Wende mit nachfolgend besonders kritischen Tönen bei der einzigen Ost-Schiene, dem Dresden-Tatort des MDR. Selbstverständlich gab es immer wieder Innovationen, aber was zum Beispiel in den 1980ern kam, etwa die Figur Schimanski, war bereits in den 1970ern angelegt worden, denn auch der Duisburg-Cop ermittelte in einem Umfeld von Kollegen wie Brinkmann, der mir immer als besonders krasses Gegenbeispiel einfällt und mit seinen Tatorten ums Geld wunderbar die Bereicherungsära der 1980er covert. Sie ragen natürlich mit den Maximen ihrer Delinquenten schon in die heutige Zeit hinein, wie man von allen damaligen Tatorten aus eine Verbindung, eine Linie ins Hier und Jetzt erstellen kann.
Finale
Wenn wir schon über James Bond reden. Es war den Machern der Tatorte mit Kressin wohl klar, dass sie es mit Kressin nicht besser machen konnten als der Agent im Geheimdienst ihrer Majestät und deswegen haben sie ganz gezielt eine Miniatur hergestellt – und die funktioniert als Parodie besser als alles, was ich bisher an offiziellen Parodien der Reihe gesehen habe und auch als die meisten Filme, die sich an die Reihe anlehnen. Das Phänomen Bond war für viele Filmemacher der 1960er unfassbar und mit Staunen echoten sie es in ihren Genre-Werken. Es aber zu verarbeiten, man konnte es mit etwas Geschick ins Fernsehen transformieren. Das hat man hier geschafft und allein deswegen ist der erste Kressin ein wunderbarer Film. Bond hätte übrigens nie einen Satz gesagt wie jenen, dass in seinem Traumberuf Rentner leider keine Stellenangebote auffindbar sind.
Etwas Krimi-Beurteilung muss dennoch sein. Klar ist der Fall rudimentär, es geht einfach zu viel Spielzeit für Spiele weg, aber man kann nicht alles haben. Es ist immer etwas ungerecht, wenn man von Tatorten verlangt, dass sie tolle Handlungen und Charaktere haben und originell sein sollen und was alles. Der Begriff Zeitdokument hingegen entrinnt nur noch widerwillig meiner Tastatur, weil schon so oft gebraucht und natürlich mehr oder weniger auf jeden Tatort zutreffend. Die Filme werden ja, anders als manche Kinowerke, die uns heute trotz deutlichem Bezug zu politischen Ereignissen etc. überzeitlich vorkommen, auch, weil sie überhöht sind, bewusst in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt. In einigen Banalitäten liegt der Schlüssel für das stete Wissen darum, dass es dies gegeben haben könnte, mit etwas Glück, aber man immer die Distanz behält, die man hat, wenn man etwa eine Dokumentation anschaut. Dieser Kressin ist nun einmal besonders zeitbezogen und liefert ein tolles Zerrbild von der Party-Ära ab.
8/10
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
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