Briefing 192 | Gesellschaft, LGBTQ, LGBTI*, Homophobie, Tansphobie
„Am 17. Mai ist der internationale Tag gegen Homo-, Trans- und Biphobie. Dazu passend zeigt unsere erste Grafik, wie stark die Anzahl der Straftaten gegen die sexuelle Orientierung in Deutschland steigt. An zweiter Position zeigen wir Ihnen, welches die wichtigsten Lebensaspekte für Menschen aus der LGBTQ-Community sind.“
So hat Statista den Newsletter zu den beiden Grafiken überschrieben, die wir heute präsentieren. Wir beginnen gleich mit der homo*phoben Kriminalität:
Infografik: Mehr als 1.000 Fälle von homophober Hasskriminalität | Statista
Über 1.000 politisch oder religiös motivierte Delikte gegen die sexuelle Orientierung hat die Polizei in Deutschland 2022 laut Pressmitteilung des Bundesinnenministeriums registriert. In diesem Segment werden vor allem homophobe Straftaten erfasst. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der registrierten Fälle fast verdreifacht, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt.
Bei nur etwa 37 Prozent der Fälle konnten die Beweggründe eindeutig zugeordnet werden – davon entfällt der Großteil auf den Phänomenbereich “Rechte Kriminalität” (321 Straftaten) hinzu kommen 36 Delikte in den Bereichen ausländische und religiöse Ideologien. Der linken Szene ordnete die Polizei zehn Fälle zu.
Phänomenübergreifend wurden 227 Gewaltdelikte gezählt (2021: 164) – davon 213 Körperverletzungen (2021: 154). In 341 Fällen (2021: 310) wurden Beleidigungen zur Anzeige gebracht. Mit Blick auf den morgigen Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie ist noch eine weitere Kategorie der politisch motivierten Kriminalität von Bedeutung
Dem 2022 neu geschaffenen Themenfeld „geschlechtsbezogene Diversität“ wurden 417 Fälle zugeordnet – darunter 82 Gewaltdelikte mit 75 Körperverletzungen. Indes ist bei allen gegen die LGBTQ+-Community gerichteten Straftaten von „einer besonders hohen Dunkelziffer auszugehen“.
Und damit zur zweiten Grafik: Infografik: Was ist der deutschen LGBTQ-Community wichtig? | Statista
Menschen, die nicht heterosexuell oder cis-gender sind, werden im öffentlichen Alltag häufig diskriminiert, stigmatisiert und ausgegrenzt. Dabei wollen die Mitglieder der LGBTQ-Gemeinde wie alle anderen auch nur ein ganz normales selbstbestimmtes Leben führen, wie eine Umfrage der Statista Consumer Insights zu den für sie wichtigsten Lebensaspekten zeigt.
Rund 46 Prozent der Befragten, die sich zur LGBTQ-Community zählen, haben eine glückliche Beziehung als einen der drei wichtigsten Lebensaspekte angegeben. Mit etwa 37 Prozent der zweitgrößte Anteil will einfach eine gute Zeit haben. Themen wie Sicherheit, Soziale Gerechtigkeit und die Möglichkeit im Leben eigene Entscheidungen zu treffen sind 35 bis 36 Prozent der Umfrageteilnehmer:innen wichtig. Weitere 34 Prozent empfinden es als besonders erstrebenswert ein aufrichtiges und respektables Leben zu führen.
Erfolg und Karriere haben in der deutschen LGBTQ-Community hingegen nur wenig Bedeutung. Für nur etwa ein Sechstel ist es einer der wichtigsten Lebensaspekte die Karriereleiter hinaufzusteigen, Erfolg wünschen sich immerhin noch knapp ein Viertel der Befragten.
Um anhand der zweiten Grafik feststellen zu können, ob die LGBTQ-Community anders tickt, die Lebensprioritäten betreffend, müsste man die Angaben mit denen der Nicht-Diversen vergleichen, denn auch unter ihnen wird sich nur eine Minderheit Hoffnung auf eine große Karriere machen – nur als Beispiel. Mittlerweile ist es sogar so, in der Politik zum Beispiel, dass man Diversität auch für eine Karriere nutzbar machen kann. Außerdem führt kaum jemand ein selbstbestimmtes Leben. Das ist eine Idealvorstellung, die sich in der Realität an tausendfachen Abhängigkeiten bricht, die teilweise nicht einmal wahrgenommen werden. Wir verstehen daher „selbstbestimmt“ in diesem Fall eher so, dass es darum geht, die eigene sexuelle Orientierung frei leben zu dürfen. Da gibt es keine zwei Meinungen, das muss möglich sein.
Schwierig ist auch die politische Einordnung der oben gezeigten Priorisierungen. Einerseits gibt auch von links die Kritik, dass geschlechtliche Identität und die Kämpfe darum wichtiger genommen werden als der Klassenkampf mit dem Ende der herrschenden Verhältnisse, die Diskriminierung aufs Höchste befördern und an dessen Ende die Auflösung der Widersprüche stehen soll, auch derjenigen, die eine Diskriminierung von Gruppen hervorrufen. Uns ist aber klar, dass die Kämpfe um die Anerkennung der geschlechtlichen Identität für sich stehen dürfen müssen und dass es Menschen gibt, die sich ganz auf diese Anerkennung konzentrieren.
Außerdem ist die Mehrheit der übrigen Bevölkerung in diesen Dingen nicht besser aufgestellt, sondern eher noch verschlafener, weil sie generell nie einen Kampf gegen Diskriminierung führen musste und immer noch gerne andere diskriminiert, die Minderheiten angehören. Alltagsdiskriminierung gibt es nach wie vor und manchmal ist sie so subtil, dass zum Beispiel ein Mangel an Chancengleichheit, der darauf fußt, nicht so leicht zu ermitteln ist. Spektakuläre Fälle von Diskriminierung wurden z. B. offengelegt, als es um die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer ausländisch klingenden Nachnamen bei der Stellen- oder Wohnungsvergabe ging, aber bei der LGBTI* ist ein Nachweis dieser Art nicht möglich.
Darüber hinaus kommt es aber auch zu Straftaten mit homophobem, bi- und transphobem Hintergrund. Und diese nehmen gemäß dem ersten Schaubild zu. Bis auf das Jahr 2020, als es sozusagen einen Lockdown-Stillstand gegeben zu haben scheint, zeigen die Werte steil nach oben. Sicher spielt dabei auch die Aufmerksamkeit für das Thema eine Rolle, die unter anderem durch die erwähnte zusätzliche Kategorisierung im Jahr 2022 geschaffen wurde, gleichwohl wird nach wie vor von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Gerade im Bereich der alltäglichen Diskriminierungen und Beleidigungen ist es außerdem schwierig, Täter:innenermittlung zu betreiben. Prinzipiell gilt das auch für Gewaltdelikte unterhalb von Tötungsdelikten.
Generell steigt die Zahl der Straftaten, die etwas mit Gruppenfeindlichkeit zu tun haben, z. B. auch antisemitische Delikte, an. Die Gesellschaft befindet sich in keinem guten Zustand, sonst gäbe es diese Entwicklung nicht. Konfrontationen werden härter ausgetragen. Auf der Seite die besseren formalen Rechte für die LGBTI*-Community, deren wohl wichtigstes Symbol die Einführung der Ehe für alle im Jahr 2017 war und die eine oder anderen kleinen Verbesserung, die immer mal wieder arrangiert wird. Andererseits die Diskursverschiebung nach rechts, der wir hier einen mehrteiligen Artikel gewidmet haben und die nicht nur LGBTI*-Menschen, sondern auch die Demokratie in Gefahr bringt.
Diese Rechtsverschiebung bedingt generell, dass wieder sehr offen Hetze betrieben wird und dass diese auch in Gewalt gipfeln kann. Sie wird wohl über kurz oder lang auch bewirken, dass die AfD anschlussfähig werden wird, weil es im Osten der Republik immer schwerer gelingt, politisch vernünftige Bündnisse gegen sie zu schmieden. Gut hingegen, dass bei der Zuordnung von Straftaten mit antidiversem Hintergrund bezüglich der wenigen Delikte „von links“ von einer Zuordnung durch die Polizei gesprochen wird. Das würden wir gerne mal überprüfen, zumindest, sofern Gewalttaten darunter sein sollen. Wir wissen ja, wie mühsamst der Apparat und der konservative Teil der Politik immer wieder versucht, die nicht haltbare Hufeisentheorie irgendwie zu belegen.
Jede Gruppe hat nach unserer Ansicht andere Prioritäten, was die Lebenswünsche und die Lebenswirklichkeit betrifft, zudem sind die individuellen Unterschiede in der Regel größer als die gruppenbezogenen. Statistisch wertvoll ist die Zahl der homo-, bi- und transphoben Straftaten, weil sie sich gut in den Kontext der Gesamtentwicklung einordnen lässt. Diese ist negativ und wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen, dass Straftaten als solche gemeldet, verfolgt, geahndete werden und wir müssen uns überlegen, wie man es hinbekommt, dass die Aggressionen nachlassen. Es gibt dabei nicht den einen großen Hebel, den man ansetzen kann, auch nicht deren zwei, Sozialarbeit einerseits, härtere Strafen andererseits. Das wäre zu vereinfachend. Die sozioökonomischen und kulturellen Kulissen, vor dem sich diese zunehmende Gewaltbereitschaft abspielt, sind zu hinterfragen.
TH