Kriegsende dieses Jahr? (Umfrage + Kommentar) +++ Weitere Überlegungen zum Frieden, zur UNO und zur NATO, den USA und China | Briefing 228 | Geopolitik

Briefing 228 | Geopolitik | Ukrainekrieg, Friedensverhandlungen und wie sie Erfolg haben könnten

Glauben Sie, dass Sie einschätzen können, ob der Ukrainekrieg noch dieses Jahr enden wird? Wir machen es dieses Mal anders als sonst in unseren Umfrage-Beiträgen und sagen schon eingangs, wie wir abgestimmt haben. Nämlich mit „unentschieden“. Wir verwenden die Frage aber auch, um eine Position von uns noch einmal klarzustellen.

Civey-Umfrage: Halten Sie es für realistisch, dass es noch in diesem Jahr gelingt, den Krieg in der Ukraine zu beenden? – Civey

Begleittext von Civey aus dem Newsletter von heute:

Derzeit gibt es mehrere, internationale diplomatische Bemühungen im Russland-Ukraine-Krieg. So trafen sich hochrangige Sicherheitsberater:innen laut AFP jüngst in Kopenhagen, um über Friedensgespräche zu beraten. Demnach erhofften sich die Teilnehmenden mehr Unterstützung von Staaten, die sich – wie Indien oder Brasilien – bislang zurückhielten. Medien bewerten das Treffen als wichtigen Schritt für Friedensverhandlungen. Offizielle Gespräche könnten dem ARD zufolge bereits im Juli stattfinden. 

Zudem reiste ein Friedensbeauftragter von Papst Franziskus am Mittwoch nach Moskau. Der Kardinal Matteo Maria Zuppi will laut Vatican News, „Gesprächskanäle öffnen und mögliche Wege zu einem Frieden in der Ukraine sondieren”. Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte einen vom Papst vorgeschlagenen Friedensdialog mit Moskau im Mai abgelehnt, wie das ZDF berichtet. Die Bedingung für Verhandlungen ist für die Ukraine der vollständige Rückzug Russlands von ukrainischen Territorium. 

Die Chance auf baldigen Frieden wird international unterschiedlich eingeschätzt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sagte der BILD, Waffenstillstand oder Frieden könnten nur erreicht werden, wenn der Westen Einmischungen wie Waffenlieferungen einstellen würde. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete Anfang Juni auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, dass er erneut Kontakt zu Wladimir Putin aufnehmen möchte. Für ihn sei ein „fairer Frieden” aber nur bei kompletter Gebietsrückgabe Russlands an die Ukraine möglich. 

Was es im Moment gibt, sind also Vorgespräche, keine direkten Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Wir finden, jede Chance muss genutzt werden, um solche Gespräche zu führen. Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt, weil wir überhaupt nicht einschätzen können, wann solche Gespräche zum Erfolg oder wenigstens zu direkten Verhandlungen führen werden. Dass das überhaupt passieren kann, dazu ist nach unserer Einschätzung die Beteiligung der USA und Chinas an Vorgesprächen erforderlich, die als einzige Länder auf wenigstens einen der beiden kriegführenden Staaten massiv Einfluss nehmen können. Beide Supermächte wirken aber derzeit nicht, als ob sie das perfekte Interesse an einem schnellen Kriegsende haben, denn beide glauben, dass sie geopolitisch von diesem Krieg profitieren. Man sollte sich nicht von Schattenboxen täuschen lassen, also von Vorschlägen, von denen die Vorschlagenden genau wissen, dass sie nicht umgesetzt werden, aber den Anschein erwecken sollen, jemand, der etwas zu sagen hat, will ernsthaft den Frieden.

Dass die Ukraine nach fast eineinhalb Jahren eines äußerst verlustreichen Krieges jedes Gespräch ablehnt, solange noch russische Truppen im Land stehen, ist zumindest unklug. Das müssen wir an dieser Stelle klar festhalten, weil wir das bisher nicht getan haben. Wir sind nicht in Hollywood bei „300 Spartaner gegen die persische Armee“, wo die Spartaner dank ihrer überlegenen Moral und Kampfkraft gegen eine gewaltige Übermacht antreten, sondern in einem schmutzigen Abnutzungs- und Stellungskrieg gelandet, der noch lange, lange dauern kann, wenn nicht eine der beiden Seiten Waffen einsetzt oder Hilfe in so massiver Form erhält, dass das gegenwärtige Patt aufgehoben wird. Wir erinnern noch einmal gerne daran: Selbst durch die riesige Übermacht der Entente nach Eintritt der USA 1917 dauerte der Stellungskrieg in Frankreich an und war noch nicht beendet, als im November 1918 Frieden geschlossen wurde. Es wurde also um Frieden verhandelt, während noch deutsche Truppen auf fremden Land standen.

Am Ende war es so, wie es jetzt auch sein müsste: die Eroberungstruppen zogen sich zurück und der Frieden konnte umgesetzt werden. Einen wichtigen Unterschied gibt es allerdings: 1918 kapitulierte das Deutsche Reich, das werden wir jetzt bei Russland nicht erleben. Vielmehr wäre es eine Frage der diplomatischen Kunst, trotzdem einen russischen Truppenabzug zu erreichen. Und zwar nicht, indem man ihm einen Diktatfrieden aufzwingen will, so, wie Russland auch der Ukraine keinen Diktatfrieden aufzwingen darf, sondern, indem am Ende etwas steht, was beide Regierungen vorzeigen können: Die Befreiung der Ukraine einerseits und eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands. In diesem Krieg darf es keine allzu deutlichen Verlierer geben, sonst wird fortwährend Unruhe herrschen. Ob das moralisch eine richtige Lösung ist, bemisst sich daran, ob man der Ansicht ist, Russland habe den Angriff auf die Ukraine sozusagen aus dem Nichts organisiert oder ob es einen Ausgleich für eine lange Vorgeschichte voller Diskriminierungen Russland gegenüber geben muss, die zunächst 2014 in der Krimbesetzung mündete. Wenn man sagt, dies ist zu berücksichtigen, dann legitimiert man damit noch lange nicht den Angriff vom Februar 2022.

Ob man das gelten lässt oder nicht: Es ist die einzige halbwegs pragmatische Lösung, die nicht neue Probleme schafft. Eine Abtrennung von ukrainischem Gebiet zugunsten Russlands oder als russische dominierte Volksrepublik (en) würde vor allem dafür sorgen, dass Russland schwer wieder ins internationale Geschäft käme und die NATO eine neue Rechtfertigung bekäme, sowohl für ihre Existenz als auch für ihre weitere Ausdehnung, die sie vielleicht gar nicht verdient hat. Komplett bescheuert hingegen, so deutlich muss man das sagen, ist die Ansicht einiger Diskussionsteilnehmer, man müsse den Krieg so lange hinziehen, bis Russland im Inneren instabil wird. Wer nach Putin kommt, weiß kein Mensch, aber dass es in der aufgeheizten Stimmung, die dann wohl herrschen wird, Ultranationalistin vom Schlage eines Jewgeni Prigoschin sein könnten, ist nicht auszuschließen, und jemand wie er würde dann über Russlands Atomwaffen verfügen können. Will das ernsthaft jemand? Wir halten nichts davon, zu sagen, man muss Russland zu Willen sein, weil es eine Atommacht ist, man gibt also die Ukraine kampflos preis, aber man muss die Gefährlichkeit der Lage nicht durch solche aberwitzigen Ideen steigern wollen.

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Die USA, wo einige sehr wohl auf die Destabilisierung Russlands setzen, und das nicht erst seit dem Ukrainekrieg, werden jede Lage wuppen, auch einen Downfall Russlands. Wir in Europa aber nicht, weil wir kein eigenes Abschreckungspotenzial haben und ein wirklich harter Krieger könnte auf die Idee kommen, mal anhand von Polen oder den baltischen Staaten oder auch Deutschland zu testen, ob die NATO wirklich funktioniert. Wir haben schon einmal die Überlegung geäußert, dass die USA nicht voll hinter den Angegriffenen stehen würden, zumal, wenn nach 2024 wieder Republikaner vom Typ Donald Trump dort das Sagen haben sollten. Obwohl Russland damals noch keine Atomwaffen hatte, hatten die USA das Land nicht direkt angegriffen, als es Westberlin einschloss, sondern das Problem logistisch gelöst. Das kann man aber nicht bei jeder Angriffshandlung so machen.

Danach gab es in Europa nie wieder eine Situation, bei der die USA oder dann die NATO direkt gefordert gewesen wären. Sie haben es viele Jahre später im Kosovokrieg getan, aber eher im Offensivmodus. Der damalige Einsatz von NATO-Truppen hat übrigens auch der russischen Führung als Präzedenzfall für die Krim-Annektion gedient und auch für deren Hilfe für die Separatisten in der Ostukraine. Interessanterweise werden Argumentationen zur damaligen Lage übrigens gerne von links verkürzt: Nein, es gab kein UNO-Mandat.

Aber warum nicht? Weil je nach Interessenlage im Sicherheitsrat immer mindestens ein Mitglied dagegen ist, in dem Fall natürlich Russland dagegen war, dass Serbien im Kosovo eingehegt wird, so wie es heute natürlich gegen eine Aktion gegen sich selbst votieren würde.

Mit diesem Instrument kann man also keinen noch so aggressiven Angreifer zurückschlagen und keine Genozide verhindern, es sei denn, der Angreifer hat keinerlei mächtige Freunde auf der Welt. Mithin muss man von einer Dysfunktionalität des Sicherheitsrats sprechen, die schon im Kalten Krieg geradezu dramatisch war und bis heute dafür sorgt, dass viele Kriege nicht verhindert werden. Natürlich gilt das auch für den Ukrainekrieg, denn selbstverständlich hat Russland sein Veto gegen die Ukraine-Resolutionen eingelegt. Als der Sicherheitsrat am 17. November 1946 erstmals tagte, war man wohl noch idealistischer gestimmt und die Blockeinteilung des Kalten Krieges war noch nicht formiert.

Mit Blick auf die UN und eine moderne Umsetzung völkerrechtlicher Konzeptionen wäre deshalb eine Reform des Sicherheitsrates dringend notwendig, so, wie er gegenwärtig existiert, ist er eher ein Unsicherheitsrat. Die UNO wird als Verhandler in einem Ukraine-Frieden vermutlich auch als Gesamtinstitution keine große Rolle spielen. Die beiden Supermächte müssen es im Wesentlichen regeln, wenn es nicht zu endlosen weiteren Verlusten kommen soll. Oder zu einem russischen Sieg, denn der wäre nach unserer Ansicht immer noch eher möglich, als dass die Ukraine die über 100.000 km² russisch besetztes Gebiet mit konventionellen Waffen zurückerobert. Es sei denn, die NATO würde den ausgelaugten ukrainischen Kräften Nachschub in Form von Bodentruppen schicken.

Erinnern wir aber noch einmal an 1918: Es gab trotzdem keine komplette Befreiung besetzter Gebiete durch Kriegshandlungen. Und selbstverständlich haben die 300 Spartaner am blutigen Ende gegen die persische Armee verloren und waren alle tot.

Während der Bewegungskrieg noch dominierte und die russischen Streitkräfte in der Ukraine hoffnungslos desorganisiert und überfordert wirkten, hatten wir es nicht für ausgeschlossen gehalten, dass ein Zurückschlagen funktionieren könnte, aber der Zeitablauf hat die Dinge verändert. Deswegen wäre die ukrainische Regierung gut beraten, zwar an ihrem Befreiungsziel festzuhalten, aber trotzdem jetzt schon Verhandlungen zuzustimmen. Die Befürchtung, dass dabei am Ende ein Gebietsverlust herauskommen könnte, ist verständlich, wir würden ihn nicht gutheißen, der Trostpreis wäre eine schnelle NATO-Mitgliedschaft für das, was leider als „Rest-Ukraine“ zu bezeichnen wäre.

Eine komplett befreite Ukraine hingegen sollte neutral bleiben und in ein moderneres Sicherheitskonzept eingebunden werden als das vorhandene, in dem immer derjenige macht, was er will, der sich gerade für stärker hält. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren das die NATO-Staaten. Insofern gibt es bisher kein integratives Sicherheitskonzept, sondern nur ein exklusives Bündnis für Weststaaten und solche, die dem Westen dienlich sein könnten, was dazu geführt hat, dass die Türkei als nunmehr ziemlich schwieriger Partner ebenfalls NATO-Mitglied ist. Und es sind vor allem US-amerikanische Interessen, die einer solchen Sicherheitsarchitektur entgegenstehen. Man argwöhnt, dass die Europäer dadurch zu unabhängig werden könnten. Was man mittlerweile aber riskiert, ist, dass China aus all diesen Fehlstellungen, die wir sehen, Nutzen zieht.

Vielleicht dämmert es ja den Strategen in Washington noch, bevor weitere, blutige Jahre ins Land gehen, dass man auch aus pragmatisch-geostrategischen Gründen nun langsam auf einen großzügigen, umfassenden Frieden in der Ukraine hinwirken sollte. Wären die USA auf diese Weise am Ball, könnte China aus Gesichtswahrungsgründen den „Neutralen“ gegenüber nicht sagen, wir machen nicht mit und signalisieren Putin weiterhin volle wirtschaftliche Unterstützung.

Schade, dass diese Konzeption, selbst friedensstiftend aktiv zu werden, im Westen so wenige Freunde hat. Und noch einmal: Klar, man wird Putin dafür etwas geben müssen, was man ihm im Moment nur sehr ungern gibt, und es wird nicht ein Teil der Ukraine sein können. Den kriegt er nur, wenn er seine Truppen einfach dort stehen lässt, den Konflikt „einfriert“ und darauf  hofft, dass die Fliehkräfte in der Ostukraine ihm helfen, wackelige Staatsgebilde von seinen Gnaden zu etablieren. Das wäre ein bitterer und wenig zukunftsweisender Sieg, errichtet auf den Versäumnissen der Vergangenheit, dazu geschaffen, weitere Unruhe zu verursachen.

TH

Hinterlasse einen Kommentar