50 Milliarden € für die Ukraine? (Umfrage + Kommentar) | Briefing 229 | Geopolitik, Wirtschaft

Briefing 229 | Geopolitik, Wirtschaft, Ukrainekrieg, Kriegsbeihilfen, Wiederaufbau, Friedensverhandlungen

Am vergangenen Sonntag hatten wir uns zuletzt ausführlicher zum Ukraine-Krieg geäußert und dabei festgestellt: Wir glauben nicht, dass dieser bald vorbei sein wird. Man konnte das nicht von Beginn an wissen, aber mittlerweile ist klar, der Stellungskrieg nach einem über 100 Jahre alten Muster, der sich nun ergeben hat, wird nicht von heute auf morgen enden und wohl auch nicht in diesem Jahr.

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Unter zwei Voraussetzungen: Niemand setzt Waffen ein, die „Gamechanger“ sind, dazu würden auch westliche Bodentruppen gehören. Niemand ist ernsthaft an Friedensverhandlungen interessiert. Ob und wie aber soll die Ukraine nun weiter unterstützt werden? Dazu folgende Umfrage:

Civey-Umfrage: Sollte sich Deutschland Ihrer Meinung nach dafür einsetzen, dass die Europäische Union die Ukraine mit weiteren 50 Milliarden Euro unterstützt? – Civey

Die Ukraine wird seit Beginn des russischen Angriffs von diversen Staatenbündnissen und Institutionen finanziell unterstützt. Nach eigenen Angaben steuerte die Bundesregierung bis Mai 2023 „rund 16,8 Milliarden Euro” bei. Die Europäische Union stellte der SZ zufolge bisher „30 Milliarden Euro” bereit. Mit Blick auf den erhöhten Finanzbedarf der Ukraine forderte die EU-Kommission im Juni von den Mitgliedstaaten zusätzlich 50 Milliarden Euro. Die Weltbank schätzt die Kosten für den Wiederaufbau auf über 400 Milliarden Dollar. 

„Wir werden weiter finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Wir werden beim Wiederaufbau helfen. Wir werden weiter Waffen liefern, die dringend notwendig sind für die Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine.” Das versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juni laut ZDF in einer Videobotschaft. Neben Solidarität sei auch eine Perspektive in Form eines EU-Beitritts wichtig. Am Montag telefonierte er der Rheinischen Post zufolge mit Wolodymyr Selenskyj und bekräftigte „die fortwährende und unverbrüchliche Solidarität“ mit der Ukraine. 

Ungarn lehnt die Forderung der EU-Kommission nach weiteren Finanzhilfen ab. Es sei „völlig lächerlich und absurd“, dass Ungarn mehr Geld beisteuern solle, wo es doch selbst keine Fördermittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds erhalte, sagte Ministerpräsident Viktor Orban laut MDR am Freitag in Brüssel. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sieht für viele Mitgliedstaaten keinen Spielraum für weitere Gelder. Mit Blick auf Deutschland sagte er der SZ: „Angesichts der notwendigen Kürzungen in unserem nationalen Haushalt können wir derzeit keine zusätzlichen Beiträge zum Haushalt der Europäischen Union zeichnen“.

Vermutlich geht es bei Ungarn um Finanzmittel, die wegen mangelnder Demokratiefreundlichkeit auf Eis gelegt wurden, insgesamt fast 23 Milliarden Euro für 2023 bis 2027.  

Da trifft es sich wohl gut, dass Viktor Orbáns und Polens Wege hier trennen. Sonst gerne gemeinsam gegen die Rechtsstaatlichkeit in der EU, in diesem Falle sind die einen aber Russland-Freunde und die anderen Ukraine-Freunde. Und wir? Wir erklären uns.

Bei den 50 Milliarden Euro geht es um zusätzliches Geld, das aus dem EU-Haushalt an die Ukraine fließen soll, nicht um das, was einzelne Staaten der EU ohnehin tun.

Die EU-Kommission bereitet eine radikale Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vor. Aus dem EU-Budget sollen künftig jedes Jahr mehr als 12 Milliarden Euro an die Ukraine fließen, insgesamt bis zu 50 Milliarden. Wende der EU-Kommission: 50 Milliarden für die Ukraine – taz.de

Das ist nur ein Posten, der dafür sorgen soll, dass die Länder künftig mehr an den EU-Haushalt überweisen sollen, im Rahmen einer veränderten Weltordnung. Außerdem geht im Civey-Begleittext ein wenig unter, dass die 50 Milliarden nicht auf einmal, sondern in Tranchen von 12,7 Milliarden Euro jährlich gezahlt werden sollen. Fast gleichzeitig mit der Forderung von EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen an die Mitgliedsländer gab es bei einer Geberkonferenz neue Zusagen für die Ukraine, bei der auch die USA dabei waren.

London (rund 3,5 Milliarden Euro), Washington (1,2 Milliarden) und Berlin (381 Millionen) sicherten Kiew weitere Unterstützung zu. Die Summen, die Großbritanniens Premier Rishi Sunak sowie US-Außenminister Antony Blinken und seine deutsche Amtskollegin Annalena Baerbock am Mittwoch verkündeten, wirken beinahe bescheiden verglichen mit von der Leyens Ankündigung. Milliarden für die Ukraine: „Russland wird die Kosten für den Wiederaufbau zahlen müssen“ (tagesspiegel.de)

Wohlgemerkt, Deutschland hat bereits 17 Milliarden gezahlt und ist eines der Länder, die ihren selbst auferlegten Verpflichtungen auch nachkommen und sie nicht nur ankündigen. Im selben Tagesspiegel-Artikel wird verkündet, dass die Weltbank die Wiederaufbau-Kosten in der Ukraine auf 360 Milliarden Dollar schätzt (ca. 333 Milliarden Euro, Stand 05.07.2023). (…) Die Vereinten Nationen, Brüssel und Washington bezifferten die Kriegsschäden nur für das erste Kriegsjahr im März hingegen schon auf fast 380 Milliarden. Der ukrainische Premier Denys Schmyhal sprach vom „größten Wiederaufbauprojekt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“.

Die Kosten steigen selbstverständlich Tag für Tag, solange keine Waffenruhe einkehrt. Mittlerweile hat sich die EU auf ein elftes Sanktionspaket gegen Russland geeinigt, das u. a. Maßnahmen gegen die  Umgehung der bisherigen Sanktionen umfasst. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Sanktionen immer von begrenzter Wirkung sind, solange andere Staaten einspringen, wenn der Westen ein Land sanktioniert. Wir glauben, dass Russland diesen Krieg aus wirtschaftlicher Sicht noch lange wird führen können. „Russland wird zahlen“ heißt es ominös im selben Bericht. In Form wirtschaftlicher Not durch die Sanktionen? Bis zu einem gewissen Grad ganz sicher, ebenso wie Deutschland. Aber wenn jemand glaubt, Russland komme direkt für den Wiederaufbau der Ukraine auf, dann muss er davon ausgehen, dass Russland zu einem Frieden gezwungen werden kann, der einer russischen Niederlage gleichkommt. Das sehen wir erst einmal nicht kommen.

Ein weiterer Aspekt: Wird die Ukraine all das je zurückzahlen können, was sie jetzt erhält? Mittlerweile hat das Land EU-Beitrittskandidatenstatus. Nach unserer Ansicht wurde dieser viel zu früh eingerichtet, unter normalen Umständen, also in Friedenszeiten, wäre dieser angesichts der vielen Mängel in dem Land nicht so schnell gekommen. Außerdem wäre die Ukraine selbst ohne Krieg das mit Abstand wirtschaftsschwächste Land in der EU geworden und das hat Gewicht, angesichts einer Bevölkerung von vor dem Krieg ca. 44 Millionen Menschen, aktuell wird die Bevölkerung auf etwa 36 Millionen geschätzt. Im Jahr 2018 lag das Pro-Kopf-BIP der Ukraine bei nicht einmal 10.000 Euro, in der EU ist gegenwärtig Bulgarien mit ca. 28.000 Euro das Schlusslicht, Russland kommt etwa auf den gleichen Wert, Deutschland, zum Vergleich, liegt bei ca. 46.000 Euro, trotz der extrem schwachen Entwicklung der letzten Jahre.

Großbritannien mit seiner starken Wirtschaft geht, die Ukraine kommt, und damit eine der Ex-Sowjetrepubliken mit der schwächsten Wirtschaftsentwicklung nach der Wende. Das hätte die Disparitäten in der EU ohnehin verstärkt, zumal die Ukraine auch eines der Länder wäre, die es mit Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung nicht so haben, aber unter den jetzigen Umständen ist das Beitrittsversprechen, das die Kommissionspräsidentin ebenso abgegeben hat wie die 50-Milliarden-Forderung, geradezu grob fahrlässig.

Wie soll man also abstimmen, wenn man bedenkt, was auf die EU noch alles zukommen wird, wenn die Ukraine wirklich Mitglied werden sollte, und zwar beschleunigt, nicht etwa wegen ihrer Fortschritte, sondern wegen ihres Status als angegriffenes Land? Wir konnten uns noch knapp zu einem Unentschieden durchringen. Damit stehen wir ziemlich genau in der Mitte, auch prozentmäßig, denn ca. 35 Prozent derer, die bereits abgestimmt haben, sind klar dafür, ca. 40 Prozent klar dagegen, weitere 50 Milliarden Euro einzusetzen. Sehr interessant der Geschlechtervergleich: Männer sind zu ca. 41 Prozent dafür und nur zu 33 Prozent dagegen. Die Frauen, denen man mehr Empathie nachsagt, müssen also überwiegend dagegen sein, dass man den Geldhahn in Richtung Ukraine immer weiter aufdreht.

Vielleicht sind die Frauen auch einfach nur vernünftiger und haben eher einen Zugang zum Maß der Dinge, das in Sachen Ukraine auch nach unserer Ansicht langsam erreicht ist.

Großbritannien hat für die US-Hilfe im Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 2010 Schulden zurückzahlen müssen, da waren die Freunde von der anderen Seite des Atlantik ganz konsequent. Das heißt, man musste die rsultierenden Schulden über mehr als 60 Jahre abstottern. Wir glauben nicht, dass die wirtschaftlich schwache Ukraine jemals die Hilfen wird zurückzahlen können, die der Westen gegenwärtig leistet. Im Gegenteil, EU-Beihilfen in hohem Umfang werden notwendig sein, wenn das Land der EU beitritt. Davon wird Deutschland wiederum einen erheblichen Anteil zu schultern haben. Wir schreiben das recht unemotional, aber wir erlauben uns, darauf hinzuweisen, dass die immer maßloseren Forderungen seitens der ukrainischen Führung auch von uns zunehmend kritisch wahrgenommen werden. Vor allem aber ärgert uns der Spin, dass man sich dort jetzt schon darauf herausreden will, dass gegenwärtige und künftige Misserfolge im Krieg der zu langsamen Hilfe aus dem Westen geschuldet sind.

Demokratien, in denen gewisse Prozesse dafür notwendig sind oder sein sollten, können nicht über Nacht Billionen locker machen und ihre gesamte militärische Ausrüstung rüberschieben, um wem auch immer bei was und mit welcher Berechtigung auch immer zu helfen, aber das hat man in der noch nicht so richtig demokratisierten Ukraine wohl nicht so ganz verstanden. Uns ist schon klar, dass diese Forderungen auch nach innen gerichtet sind, aber das macht sie nicht weniger fordernd nach außen. Wir hätten vermutlich anders votiert, wenn die Weigerung der ukrainischen Regierung, wenigstens in Vorfriedensgespräche einzutreten, die keinen einzigen Zentimeter Bodenverlust bedeutet hätten, nicht noch hinzukäme. Etwas guter Wille ist angesichts der horrenden Verluste an Menschen und Material in diesem Krieg nun von allen Seiten angezeigt. Ist dieser zu erkennen, erscheinen auch weitere Forderungen in einem besseren Licht.

TH

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