Pension Tosca oder die Sterne lügen nicht – Tatort 195 #Crimetime 1158 #Tatort #München #Lenz #Scherrer #BR #Tosca #Sterne #Lügen

Crimetime 1158 Titelfoto BR

Die Vergangenheit suppt in die Gegenwart, und die ist auch voller Schlapphüte

Pension Tosca oder Die Sterne lügen nicht ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort. Der vom Bayerischen Rundfunk produzierte Beitrag wurde am 12. Juli 1987 im Ersten Programm der ARD erstgesendet. Er ist der einzige Fall von Kommissar Scherrer, gespielt von Hans Brenner und die 195. Tatort-Folge insgesamt.

Wer sich vorstellen kann, dass die nachfolgend beschriebene Handlung halbwegs funktioniert, der hat auch schon  halb gewonnen, was „Pension Tosca oder die Sterne lügen nicht“ angeht. Wow, wow, der Bayerische Rundfunk traut sich was. „Münchner Kindl“ haben wir vor einiger Zeit rezensiert. Den allerersten BR-Tatort. Das war ein kompakter, an einem Strang gezogener Film, wenn auch kein Tatort im engeren Sinn. „Pension Tosca“ ist ein besonders langer, mit unglaublich vielen Personen und Handlungselementen gespickter Film, der ebenfalls kein klassischer Tatort ist. Nachdem Sie im Folgenden erfahren, dass die Lage verzwickt ist, lesen Sie bitte auch die –> Rezension.

Handlung

Der frisch gebackene Kriminalkommissar Scherrer hat den Sonntag in schlechter Erinnerung. Kriminalhauptmeister Wislitschek hatte ihn und die Kollegen zum Fußball eingeladen. Doch das Spiel des FC Trudering gegen den FC Dingelbach hatte einen ganz und gar unsportlichen Höhepunkt: Uniformierte Rocker stürmten das Spielfeld und mischten die türkische Gastmannschaft brutal auf. Merkwürdig aufgefallen war Scherrer dabei der Kantinenwart Haubenwald. Als der eingriff, zogen sich die Schläger sofort zurück. Scherrer hätte das Ganze verdrängt, doch sein junger Kollege Augenthaler weist ihn darauf hin, daß eben dieser Haubenwald die von dem Ehepaar Löwenstern betriebene Pension Tosca beobachten lasse und irgend etwas vorbereite.

Als ein Mordanschlag auf Frau Adelina Löwenstern verübt wird, nimmt Scherrer die seltsamen Menschen genauer unter die Lupe, die in der Pension Tosca wohnen. Die Sängerin Sissi de Sandro ist Dauergast, ebenso der rumänische Sardinenhändler Ivanceanu. Auch Dr. Christa Nolte, Physikerin und Elektronikspezialistin, wohnt immer hier, wenn sie nach München kommt. Sie fühlt sich besonders wohl bei dem freundlichen Ehepaar Löwenstern. Gustav Löwenstern, dem Hobbyastrologen, ist sie fast freundschaftlich verbunden. Bei diesem Aufenthalt anläßlich eines High-Tech-Weltkongresses fühlte sie sich allerdings bedroht.

Der Fall scheint wirr und undurchsichtig. Doch schließlich bringt Löwensterns astrologische Tätigkeit Kriminalkommissar Scherrer doch einen wesentlichen Schritt weiter.

Rezension

Löwenstern heißt der Astrologe, der in diesem Tatort eine zentrale Rolle spielt, da denkt sich doch ein alter Nazi, der Name klingt so jüdisch, und warum will dieser Typ so viel über mich wissen, der eine Pension leitet, zusammen mit seiner Frau, Opernsängerin im Ruhestand. Frau Dr. Nolte ist Gast in dieser Pension, die passenderweise „Tosca“ heißt. Die Ermittler schauen ein seltsames Fußballspiel an, währenddessen es zu einer Rauferei kommt. Frau Dr. Nolte hat ein Treffen mit einem Ost-Agenten. Sie will aussteigen aus dem Verrat von Geheimnissen im Umfeld des Deutschen Elektronensynchrotrons. Auf Frau Löwenstern wird geschossen. Aber vielleicht war Frau Dr. Nolte gemeint, die mit beim Abendbrot saß. Ein schlechter Schuss, fürwahr. Löwenstern quartiert Frau Dr. Nolte zweimal um, aber immer ist eine Chansonette im Spiel, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. 

Zum 50jährigen Jubiläum des Bayerischen „Dritten Programms“ ausgerechnet zwei solche Werke aus dem Archiv zu kramen. Wie gesagt, die trauen sich was. Das zeugt auch von Selbstbewusstsein. Es ist aber nicht das Gleiche, als wenn der RBB ein Roiter-Sommerfestival veranstalten würde (was dann einige Jahe später wirklich stattfand, Anm. anlässlich der Veröffentlichung des Beitrags im Jahr 2023).

Typen konnten sie früher sehr gut, beim Tatort. Man merkt, dass die Drehbuchautoren und Regisseure noch selber besondere Zeiten und Typen erlebt hatten. Aber was an skurrilen Figuren in „Pension Tosca“ aufgefahren wird, ohne dass es in Richtung Klamauk à la Münster geht, ist beeindruckend.

Es gab beim BR einmal eine Zeit, die man sich auch deshalb heute kaum noch vorstellen kann, nach fast 70 Leitmayr-Batic-Filmen – weil nach dem beliebten Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer), dem mit dem Dackel, eine Zeitlang die Kontinuität verloren gegangen war. Nachfolger Lenz (Helmut Fischer) hat zwar  acht Fälle gelöst, aber mittendrin gab es Experimente, bei denen er aussetzen  musste. Eines davon war der Kollege Scherrer (Hans Brenner), der gerade die Mordkommission zwangsweise übernehmen musste, nach Lenz‘ Abgang, und eigentlich so gar keine Führungsfigur ist.  Wir zitieren nach dem Tatort-Fundus in etwa das, was wir aus dem einen Fall, den Scherrer hatte, ermitteln konnten, aber so ist es schön zusammengefasst:

„Scherrer pflegt einen kollegialen Stil, nimmt seine Mitarbeiter – dazu gehört auch Gerda Bleyfuß, die Sekretärin – wichtig und kehrt nur sehr selten seine Weisungsbefugnisse heraus. Er hat sich in seiner Freizeit mit der Geschichte des Nationalsozialismus in München beschäftigt; er mag ausländerfeindliche Äußerungen nicht überhören, steht der rassistischen Gewalt aber auch recht hilflos gegenüber, und stellt fest, dass Zivilcourage einer der Grundpfeiler der Gesellschaft ist: „Man muss manchmal Sachen tun, die einen erwiesenermaßen überhaupt nichts angehen; erstens als Polizist, zweitens als Bürger.““ (Text für den Tatort-Fundus:  Achim Neubauer).

Da Scherrer nur einen Fall hatte, für den er eigentlich gar nicht zuständig war, muss es einer sein, mit dem er als Freizeithistoriker und Bürger etwas anfangen kann, und das ist „Pension Tosca“ in der Tat.

Da wird ein alter Nazi, der Schlächter von Vilnius, wenn wir’s richtig verstanden haben, enttarnt, da üben junge Nazis im geheimen Keller eines Fußballvereinshauses für das Vierte Reich. Da muss man als Bürger auf jeden Fall etwas sagen. Zwar wird Scherrers  Kriminalhelfer Wislitschek (Gustl Weishappel) von den braunen Schlägern verletzt, aber der verhält sich beim Ermitteln on Location auch ziemlich ungeschickt.

Überhaupt kann dieser megalomanische Tatort nur einigermaßen zusammengehalten werden, weil viele Menschen suboptimal handeln. Das wiederum wirkt einigermaßen stimmig wegen der vielen skurrilen Charaktere, besonderen Typen, die weit weg von der kalten Perfektion oder festgefahrenen Reduktion sind, die uns heutige Tatorte suggerieren: Da wir keinem Versprechen mehr trauen können, das außerhalb von den Versprechen liegt, die wir uns selbst geben können, müssten heute Tatorte gemacht werden, die von der  Unmöglichkeit handeln, die Ordnung zu bewahren. Tun sie auch. Kühl, perfektionistisch, fatalistisch, pessimistisch.

1987 war eine andere Zeit. Da kam der Verfassungsschutz noch nicht als Großversager daher, noch nicht als Komplize, sondern als eine Institution, die einer aus dem Osten geflüchteten Frau Sicherheit geben kann, die von der Stasi erpresst wird. Mann, waren die Tatorte in jener Zeit affirmativ. Ein Verdacht bestand schon, Frau Dr. Nolte ist froh, neutrale Zeugen zu haben, als sie dem Staatsschützer das Päckchen mit den wissenschaftlichen Geheimnissen übergibt, man weiß ja nie. Aber es gibt noch Kennwörter, Parolen, konspirative physische Übergaben, die witzig und absurd gleichermaßen arrangiert werden. Die Anonymität des Internets ist noch weit weg. Die Dramen spielen sich noch nicht virtuell oder durch virtuelle Vorgänge ausgelöst oder begleitet ab.

Wir fanden diese Realität, so konstruiert und schablonenhaft sie dargestellt wird, interessant und wir hatten gar nicht den Eindruck, dass dieser Tatort gut 20 Prozent länger war als das heute unabdingbar auf 90 Minuten festgelegte Format. Die Langversionen wie „Reifeprüfung“ oder „Berlin, beste Lage“ waren immer interessant, immer besonders. Das trifft auch auf „Pension Tosca“ zu.

Dieser Tatort ist nicht berechenbar, wenn man davon absieht, dass 1987 die Täter noch gefasst wurden, wenn sich die Ermittler auf irgendeine Weise, und sei es durch die Zuhilfenahme der Astrologie, an die sie nicht glauben, durch den Handungsdschungel gearbeitet haben und am Ende immer die Sonne der Erkenntnis im Osten aufgeht. Jederzeit kann etwas wirklich Unvorhergesehenes passieren, und man hat so viele Details erfunden für diesen Film, dass die Passion spürbar ist, die hinter Tatorten wie diesen steckt.

Finale

Die Handlung ist zu umfangreich, die Neonazis wirken lächerlich – da gab es später bessere Darstellungen, aber immerhin hat man sie gezeigt. Die Überwacher-Agenten sind Karikaturen, kein Mensch in diesem Tatort kann richtig zielen beim Schießen aus der Nahdistanz, es ist hingegen sehr leicht, jemanden körperlich zu überrumpeln; ein Fußballverein, der von einem reichen Rechten gesponsert wird, spielt grottenschlecht am unteren Ende der Bezirksliga herum.

Rund ist der Film nicht, sondern hat Ecken und Kanten, die deutlich sichtbar sind. Kaum eine Figur verhält sich so, dass man die persönliche Kapazitätsgrenze aus dem gezeigten Verhalten schließen möchte, aber trotzdem ist es ein einmaliger, wunderbar freakiger  Film für echte Tatort-Fans, für Kollektionisten der Serie, zu denen wir uns mittlerweile auch rechnen.  Sicher ist der Film etwas zu affirmativ, baut auf eine gewisse Naivität, unser System betreffend, das Frau Dr. Nolte im Großen und Ganzen so gut findet. Aber wer aus der Tundra kommt, findet die Taiga schon recht kommod.  

Exkurs-Ergänzung Rechtsextremismus

Auch hier muss eine Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung sein. Von heute aus wirkt der Tatort vermutlich noch niedlicher, als wir das bei seiner Sichtung vor neun Jahren empfanden. Es gab zwar die AfD, sie war gerade gegründet worden, hatte aber noch nicht ihr rechtsextremes aktuelle Gepräge, 1987 hingegen gab es in der BRD überhaupt keine Rechtstendenzen, die häufig besprochen worden wären. Auch deshalb sind Filme wie dieser progressiv und weisen voraus. Der Verfassungsschutz war noch nicht so deutlich im Zweifel wie heute und die UdSSR, auf die im Film natürlich angespielt wird, gab es noch. Niemand konnte war darauf vorbereitet, dass sie vier Jahre später Geschichte sein würde. Stimm das so oder ist es Goldene Erinnerung? Allerdings, denn nach dieser unserer Erinnerung war das erste Warnzeichen, der Erfolg der Republikaner, ein Nachwende-Phänomen. Das stimmt so aber nicht, in Wirklichkeit griff der Tatort 195 etwas auf, was damals durchaus in der Luft lag:

Die dritte Entwicklungsphase des Rechtsextremismus setzte Anfang/Mitte der achtziger Jahre ein, und wieder waren es Momente eines gesellschaftlich-politischen Umbruchs, die seinen Auftrieb beförderten. Anders als früher handelte es sich nun aber um Faktoren, die mehr oder weniger in allen westeuropäischen Staaten wirksam waren (und weiterhin sind), womit dieser „neue“ Rechtsextremismus zu einem europäischen Phänomen wurde. Sozialer Wandel, technologische Modernisierung, geringes Wirtschaftswachstum, hohe Massenarbeitslosigkeit, Beschneidung der Sozialausgaben, die politischen und sozialen Umwälzungen in Osteuropa, das Abschmelzen des Ost-West-Gegensatzes, Migrationsbewegungen und Asylproblematik sind nur einige Stichworte, die den Problemhaushalt aller westeuropäischen Staaten prägen. Hinzu kommt der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten angesichts der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung.

Unter dem Druck der veränderten Verhältnisse zerbrach im Oktober 1982 die sozialliberale Koalition. Als die neue Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP das marode DDR-Regime mit einem Milliardenkredit unterstützte, gründeten neokonservative Kreise im Umfeld der Unionsparteien Ende 1983 die Partei Die Republikaner (REP). Nach einer längeren Anlaufzeit nahmen sie 1989 die Fünf-Prozent-Hürde 1989 gleich zweimal mit Leichtigkeit: In Berlin (West) fielen ihnen mit 7,5 Prozent der Stimmen elf und bei der Europawahl mit 7,1 Prozent sechs Mandate zu. Der Auftrieb des Rechtsextremismus machte sich auch dadurch bemerkbar, dass die organisierte Mitgliederschaft bis 1989 auf 50.000 Personen anwuchs. (Bundeszentrale für politische Bildung).

Das waren übrigens mehr Mitglieder, als die AfD im Moment hat (ca. 35.000) und über den konservativen Rollback der 1980er haben wir vielfach geschrieben. Im Grunde wäre es unlogisch gewesen, wenn es nicht auch damals eine „Diskursverschiebung nach rechts“ gegeben hätte, wie wir in Sorge um aktuelle Entwicklungen eine Beitragsreihe im Jahr 2019 benannt haben. Aber wir waren damals noch so jung, dass wir eher fragmentarische Erinnerungen an die Welt von damals haben, und  unsere Welt endete nach rechts bei der Union. Wir kannten damals  keinen einzigen Neonazi und haben diese Leute im Alltag auch nie wahrgenommen. Selbst die Verbindungen an der Uni, die wir kannten, wirkten nicht rechtsextrem, sondern konservativ, und waren keine Burschenschaften.

7/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Kursiv: Wikipedia 

Hauptkommissar Lenz – dieses Mal nicht dabei
Kommissar Scherrer – Hans Brenner
Kriminalhauptmeister Wislitschek – Gustl Weishappel
Kriminalmeister Augenthaler – Michael Lerchenberg
Kriminalrat Schubert – Rolf Castell
Christa Nolte – Dagmar Mettler
Löwenstein – Joachim Wichmann
Adelina – Grete Heger
Frau Bleyfuß – Heide Ackermann
Haubenwald – Walter Buschhoff
Warnecke – Götz von Langheim
Frau Jerzabek – Franziska Stömmer
Herr Jerzabek – Konrad Georg
Ivanceanu – Mircea Krishan
Sissi de Sandro – Jitka Frantova-Pelikan
Frau von Palma – Hilde Berndt
Emilie Obenwald – Barbara Kutzer
Adolf Obenwald – Philipp Seiser
Fräulein Herbenthal – Käte Jaenicke

 

Buch – Michael Kehlmann
Regie – Michael Kehlmann
Kamera – Hermann Reichmann
Kostüme – Barbara Gailling
Szenenbild – Peter Hermann
Musik – Rolf Wilhelm
Schnitt – Renate Metzner-Wilde
Produktionsleitung – Walter Breuer
Dramaturgie – Jochen Löscher

 

 

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