Crimetime 1163 – Titelfoto © SWF / SWR
Vor dem Einschlafen, oder kurz danach
Mitternacht, oder kurz danach ist eine Folge der ARD-Krimireihe Tatort. Die vom Südwestfunk (SWF) unter der Regie von Michael Lähn produzierte Episode wurde als 103. Tatort-Folge am 26. August 1979 in der ARD ausgestrahlt. Es ist der zweite Fall mit Kommissarin Buchmüller.
Eines müssen wir gleich zu Beginn festhalten, damit wir diese lobende Erwähnung nicht etwa vergessen: Toll von Sendern wie dem SWR, den Nachlass der früheren Anstalten SWF und SDR aktiv zu verwalten, indem alte Bienzle-Tatorte oder noch ältere Wiegand- und Buchmüller-Tatorte gesendet werden. Letztere sind schon ein Eintauchen in eine Welt, die, wenn man nur „Mitternacht, oder kurz danach“, als Interpretationsbasis zur Verfügung hätte, für eine ganz andere als unsere heutige halten würde. In vieler Hinsicht war sie das auch. Was wir damit meinen und mehr zum Film steht in der –> Rezension.
Handlung
Nach einer Party in seinem Hause wird der erfolgreiche Kunstmaler Kurt Homberg tot aufgefunden. Die Spuren deuten auf einen Mord hin. Kurz zuvor war es zwischen ihm und seiner Frau Regine zu einem Streit gekommen. Kurt war eifersüchtig auf seinen Freund und Kollegen Manfred Enders, der zwar weit weniger erfolgreich, aber besser war als er und den er finanziell unterstützte. Nicht zu belasten schien ihn hingegen, daß Regine und Manfred ein Verhältnis hatten. Die beiden verhalten sich merkwürdig.
Rezension
Leider hat es bei der ersten weiblichen Person, die als leitende Ermittlerin tätig war, nur für drei Tatorte gereicht. „Der Mann auf dem Hochsitz“ haben wir bereits rezensiert, „Der gelbe Unterrock“ ist so berüchtigt, dass er weggesperrt wurde. (Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung der Rezension im Jahr 2023: Die Traditionspflege des SWR beinhaltete aber auch, dass der Film dann doch wieder gezeigt wurde, daher der Link zu einer Rezension dieses Films im Rahmen von „Crimetime“.)
Falls sich nicht die Politik der ARD dahingehend ändert, dass Vollständigkeit Vorrang vor Vermeidung von Peinlichkeiten oder politischen Misstönen hat, werden wir diesen dritten und letzten Buchmüller-Fall leider niemals in die Tatort-Anthologie aufnehmen können. In Berlin gibt es ein umfassenderes Phänomen: Markowitz-Tatorte aus den frühen 1990ern werden gerne wiederholt, die späteren Roiter-Folgen vergräbt man lieber im Archiv. Schade. Wir meinen: wenn schon, denn schon. (Auch hier eine Anmerkung parallel zur obigen: Mittlerweile wurde auch der eine oder andere Roiter-Film wieder gezeigt, der RBB hat 2017 außerdem alle seine Tatorte von 1971 bis Mitte der 1980er restauriert und ausgestrahlt.)
Neulich hat der Bayerische Rundfunk seinen ersten Tatort und einige weitere aus den 1970ern bis zum Ersteinsatz des heutigen Teams im Jahr 1991 wiederholt. Es macht so viel Spaß, diese Filme zu sehen – und wären sie noch so schlecht, das historische Interesse würde sie für uns alle spannend machen.
Und damit sind wir beim zweiten Buchmüller-Tatort aus dem Jahr 1979. Die frühen Tatorte sind oft sehr besonders, experimentell, weichen stärker voneinander ab als die heutigen, die bei allen unterschiedlichen Team-Aufstellungen doch Ähnlichkeiten im Ablauf haben, zum Beispiel darin, dass beinahe immer ziemlich zu Anfang ein Tatort zu besichtigen ist. Dass sich das bei dem Namen der Reihe von selbst versteht, tut genau das nicht. Wir haben schon Tatorte ohne Leichen gesehen, wie etwa den erwähnten ersten Bayern-TO „Münchener Kindl“ und solche, bei denen die Leiche so spät zu einer solchen wird, dass die Ermittlungen kaum noch sinnvoll gestaltet werden können. Das heißt auch, diese Tatorte sind kaum als typische Polizeikrimis zu bezeichnen.
(Der Fluch der wesentlich späteren Publikation gegenüber den Entwürfen ist eine Spezifität geworden, seit wir das Archiv ganz leerräumen und uns auf die Kraft der Neurzensionen verlassen wollen, sprich, darauf, dass wir damit den vorgesehenen Publikationsrhytmus einhalten können. Auch hier ist die Zeit vorangeschritten, der Experimental-Tatort ist sozusagen ein Unterformat geworden, inklusive der Diskussion darüber, wie viele solcher Experimente es pro Jahr in etwa geben darf, damit die Zuschauer:innen nicht maßlos überfordert werden und in Scharen das Lagerfeuer verlassen.)
Ein wenig in diese Richtung zielt „Mitternacht, oder kurz danach“, dessen Titel wir klasse finden, der aber eine sehr lange Zeit bis zum einzigen Mord braucht. Wenn man zum Beispiel die rudimentäre Ermittlungsarbeit von KOK Buchmüller, die fast nur aus Befragungen besteht, kritisiert, muss man dies der Tatsache zuschreiben, dass der Mord erst nach gut einem Drittel des Films stattfindet.
Auch danach wird den Figuren, die sich um den Toten bewegen, viel Raum zugestanden. Wenn ein Produzent der 70er-Tatorte, mit dem wir uns ausgetauscht haben (Rainer Gieß, der für die Felmy-Haferkamp-Filme verantwortlich war), nicht ganz einverstanden ist mit unserer Deutung, dass die frühen Tatorte sehr den deutschen Autorenfilm jener Zeit reflektieren, hier wirkt es wieder so. Die quälend langsame Filmweise, die endlos scheinende Stille, bis ein Charakter etwas sagt oder tut, die Aufnahmen von Blicken ohne Worte, Gesten ohne Handlung, dies erinnert schon sehr an den frühen R. W. Fassbinder und seine scharfen, aber enervierenden Blick auf die Gesellschaft, die ebensolche auf die einzelnen Figuren mit sich brachten.
Eines ist dennoch anders: Die Autorenfilmer waren darauf bedacht, zwar interpretierbar, aber dem kritisch-akademischen Rezipienten doch verständlich zu erscheinen, und für niemand anderen als dieses Publikum waren einige Autorenfilme, die um 1970 herum entstanden, gedacht. Ein Massenpublikum konnten und wollten sie nicht haben. Der Tatort war aber von Beginn an ein Straßenfeger. Es muss so reizvoll gewesen sein, und ist es heute noch, Sozialthemen endlich an ganz viele Millionen Menschen zu vermitteln, die man mit intellektuellen Kunstfilmen nicht erreichen würde, dafür dieses Format zu gebrauchen, manchmal auch zu missbrauchen.
Nur, wenn schon so intensiv mit den Figuren gearbeitet wird wie in „Mitternacht, oder kurz danach“, dann müsste es doch eine Botschaft geben, oder? Das wäre doch das Mindeste, wenn man schon das Tempo komplett zugunsten des Psychodramas herausgenommen hat. Aber wir sind nicht fündig geworden, der Mitwirkung von Otto Sander und Hannelore Hooger zum Trotz, Letztere bekannt aus einem der wichtigsten frühen deutschen Autorenfilme mit dem unvergesslichen Titel: „Die Artisten unter der Zirkuskuppel, ratlos“ (1968) und damit als Person eine Klammer zwischen dem Erwachen des jungen Deutschen Films und dem Fernsehen zehn Jahre später darstellt.
Was wird kritisiert? Die Kunstwelt und ihre Eitelkeiten? Dafür finden wir den Film zu individuell, zu wenig aufs Typische und Satirisch-Überspitzte gebürstet, zu wenig humorvoll. Denn Humor gibt es, wenn überhaupt, so hintergründig, falls nicht, unfreiwillig, denn das Draufhalten auf Gesichter, die Mühe haben, so lange aussagekräftig zu sein, wie die Kamera auf ihnen verharrt, hat etwas Naiv-Gewolltes, das stellenweise zum Schmunzeln reizt. Oder will man dieses Dreiecksverhältnis zweier Maler mit der Frau des einen mit großer Skepsis beleuchten, gibt es literarische Vorbilder dafür? Natürlich gibt es die, sogar filmische, aber hier endet die Ménage à trois tödlich. Und damit kommen wir zum wohl erstaunlichsten Punkt des Films.
Es ist von Anfang an so klar, wer den Mord begangen hat, obwohl dieser Tatort als Whodunit aufgestellt wurde, dass wir immer auf eine schroffe Wendung, ein neues Element gewartet hatten, damit so etwas wie Unvorhersehbarkeit aufkommt. Aber dieses Element eines guten Krimis war ganz offensichtlich nicht gewünscht. Stattdessen werden wir Zeugen eines Wechsels von Anziehung und Abstoßung, Zuneigung und Abscheu, der vielleicht doch eine Deutung zulässt. Diese ist konservativ, was dem SWF aber unabhängig von seiner Vorreiterfunktion in Bezug auf weibliche Ermittler recht gut stehen würde: Die modernen Verhältnisse und die gewisse Bohème-Attitüde der Beteiligten und ihrer Freunde, der Journalisten und Mäzene, die vorgebliche Lockerheit, Menschen teilen zu können, anstatt sie ganz für sich zu wollen, Freundschaften auf offenbar unnatürliche Weise zu testen, das könnte auch Zeitkritik sein. Ablehnung der sich rasch verändernden Wertvorstellungen und Lebensformen der 1970er. Die Situation des Beziehungsdreiecks, das Grundgerüst, ist aber so überzeitlich, dass sie im Grunde dafür nicht taugt.
Finale
Es bleibt ein seltsamer Film, der als Tatort eines der fragwürdigsten Produkte ist, die wir uns für mittlerweile über 400 Rezensionen (Stand 2015, Zahl der damals geschriebenen / veröffentlichten Kritiken für den „ersten“ oder „alten“ Wahlberliner) angeschaut haben. Die Handlung ist sehr schmal, die Ermittlerin und ihr Team zu wenig gefordert, die Auflösung mit dem Zeigen eines Videos als Dosenöffner für die verstockte Malersfrau psychologisch zweifelhaft. Dies gilt für das gesamte Szenario, das Tableau, das hier vor uns liegt, für Menschen, die abstrakt wirken, auch wenn man ihnen manche Gefühlsregung, sogar Tränen, zugesteht. Wir konnten uns mit keiner Figur identifizieren, und das ist wieder ein Merkmal des Autorenfilms: nicht so blödsinnig affirmativ zu sein.
Trotz des Spaßes, den historische Tatorte immer machen, weil sie eben historisch sind, können wir dieses Mal nur die frühere Mindestpunktzahl vergeben: 5/10.
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
Oberkommissarin Buchmüller – Nicole Heesters
Lamm – Dieter Ohlendiek
Mewes – Henry van Lyk
Kurt Homberg – Mathias Ponniér
Regine Homberg – Verenice Rudolph
Manfred Enders – Otto Sander
Pless – Hannelore Hooger
Meidl – Alf Marholm
Buch – Irene Rodrian
Regie – Michael Lähn
Kamera – Johannes Hollmann
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