„Menschenwürde“ (Verfassungsblog + Kommentar zum Hamas-Israel-Krieg) | Briefing 333 | Geopolitik

Briefing 333 Geopolitik | Gesellschaft, Israel, Hamas, Terror und Antwort, Menschenwürde, Human Dignity

Unser eigener Textteil erscheint heute kursiv. Sie wissen, liebe Leser:innen, dass wir immer wieder in den Verfassungsblog schauen, um uns rechtliche Orientierungshilfe für unsere politischen Argumentationen zu holen. In einer Sache sind wir uns mit dem Herausgeber sicherlich einig: Wir wollen eine Stärkung der Demokratie und damit der Verfassung. Aber nicht nur der Demokratie in Deutschland, denn ihre Statur hängt sehr mit dem zusammen, was woanders passiert. Wenn zum Beispiel Krieg, Terror und Zerstörung das Wort haben, schweigt in der Regel die Demokratie oder wird ganz kleinlaut. Es geht jedoch immer um Menschenrechte und um die Würde des Menschen, diesen Kompass müssen wir uns unbedingt bewahren, so schlimm die Zeiten auch sein mögen. Deswegen bilden wir nachfolgend das kurze Editorial des Verfassungsblogs von heute ab.

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Menschenwürde

Nach den Katastrophen und Krisenausbrüchen der jüngeren Vergangenheit war es eigentlich immer eine Frage von Tagen oder sogar Stunden, bis eine Flut von Zusendungen bei uns eintraf. Die Nachfrage nach rechtswissenschaftlicher Expertise war enorm, offenkundig und dringend. Die Rechtswissenschaft stand – nach einem Moment des Atemholens und Gedankenordnens – bereit, dieser Nachfrage in Form von Blogposts auf dem Verfassungsblog nachzukommen, und wir standen bereit, sie zu veröffentlichen. Der Ausbruch der Covid-Pandemie, der Angriffskrieg gegen die Ukraine – Maßstäbe waren gefragt, mittels derer man das amorphe Grauen in Recht und Unrecht unterscheiden, Standpunkte, mittels derer man dem Blick auf das Geschehen eine normative Richtung geben kann.

Jetzt, nach dem seit letztem Wochenende von der Terrororganisation Hamas verübten Massaker in Israel, scheint alles anders zu sein. Wir verspüren eine eigentümliche Sprach- und Ratlosigkeit in der globalen Verfassungsrechts-Community, uns selbst eingeschlossen. In eine Debatte über die rechtliche Bewertung der Folgen und Auswirkungen dieses Massakers einzusteigen, ohne zu allererst dieses Massaker selbst zu adressieren, erscheint inadäquat. Betrachtungen über die Rechtswidrig- bzw. Rechtfertigbarkeit dieses Massakers anzustellen, erscheint seinerseits inadäquat: Diese Tat war ein Angriff auf die Menschenwürde. Das und nur das gibt es dazu zu sagen.

Wir werden keine Texte und Kommentare veröffentlichen, die die Menschenwürde der von der Hamas Ermordeten und Entführten in irgendeiner Weise relativieren und den Angriff auf sie als Reaktion auf oder Verteidigung gegen anderweitiges Unrecht zu rechtfertigen versuchen. Die Menschenwürde gilt absolut. Das ist die Richtschnur unserer redaktionellen Entscheidungen im Umgang mit dieser Katastrophe und allen weiteren, die noch aus ihr folgen werden.

Das Gebot zum Schutz der Menschenwürde gilt nur dann absolut, wenn es universell gilt, und es gilt nur universell, wenn es absolut gilt. Das ist die Bedingung der Möglichkeit von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und damit all dessen, was wir hier auf dem Verfassungsblog tun. Die absolute und universelle Geltung des Gebots zum Schutz der Menschenwürde selbst steht nicht zur Diskussion. Wir werden keine Texte und Kommentare veröffentlichen, die zur Entmenschlichung von Palästinenser*innen aufrufen.

Was je nach Fallkonstellation aus dieser absoluten und universellen Geltung der Menschenwürde folgt, kann und muss diskutiert werden. Den Diskussionsraum dafür aufzumachen, ist unser Job, und wir werden uns bemühen, ihn zu erfüllen. Wer – innerhalb der beschriebenen Grenzen – zu dieser Diskussion beitragen kann, ist herzlich eingeladen, das zu tun.

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Lesen Sie bitte gerne hier weiter:

Als Reaktion auf das Massaker und die Geiselnahme durch die Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 haben wir einen Aufruf israelischer Völkerrechtler*innen veröffentlicht.

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Wir haben in unserem gestrigen Leitkommentar sehr wohl auch Ursachen des Terrors in den Blick genommen.

Finanzhilfen für palästinensische Organisationen aussetzen?

 Wir betonen aber, dass dieser Artikel unmöglich vollständig sein kann und haben uns am heutigen Morgen weiter in die Geschichte Israels und seiner Kriege mit den Nachbarn eingelesen. Nichts ist nur so oder so, das wäre zu schön. Deswegen ist die verfassungsrechtlich fundierte obige Position auch besser als die politische, die wir gerade erleben: zu viel Relativierung und Distanz auf der einen Seite, das direkte Benennen des Terrors als Folge von Versäumnissen; absolute Solidarität, die auch jede Radikalisierung der Politik in dem Land, dem die Solidarität gilt, einschließen müsste, auf der anderen Seite.

Nibelungentreue, die dies letztlich bedeuten würde, würde man es ganz ernst nehmen, darf aber nicht der Maßstab einer Politik sein, die das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung im Auge hat – und sie darf nicht der Maßstab der sogenannten Wertepolitik sein, weil politische Blankoschecks  diese Werte aushöhlen, ja vernichten können .Die Defensive, in der wir diese Werte, die Demokratie, die Menschenwürde, die Humanität, weltweit sehen, zumindest, wenn man den die durchschnittliche Entwicklungung aller Staaten betrachtet,  ist ohnehin ein Problem. Das gilt bereits ohne Statements, die zwar aktuell und im Ganzen berechtigt Solidarität ausdrücken, aber gefährliche Festlegungen für Zeiten enthalten, deren Gepräge wir noch gar nicht kennen und auf deren Anforderungen wir dann erst reagieren können, wenn sie gestellt werden, umso mehr gilt es, wenn man diese Aussagen einbezieht.

Während Corona waren wir vor allem sprachlos darüber, wie die Pandemie die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft eingeschränkt hat, ihren Anliegen auf eine Weise Luft zu verschaffen, die medial interessant war, unser logisches oder naheliegendes Beispiel dafür ist die Mietenbewegung in Berlin. Wir waren trotzdem im Team Vorsicht und wären es wohl auch jetzt wieder, würden sich  neue Varianten mit ähnlichen Folgen ausbreiten wie Alpha, Delta, Omikron. Der Ukrainekrieg hingegen ist für uns nach eineinhalb Jahren deswegen eine schwierige Angelegenheit geworden, weil die deutsche Regierung ein Management maximaler Nutzlosigkeit betreibt und damit uns allen schadet, ohne der Ukraine wesentlich zu helfen. Wir meinen nicht die Waffenlieferungen, diesbezüglich haben wir mehrfach die Linie von Kanzler Olaf Scholz verteidigt, sondern das kontraproduktive Sanktionsregime, das immer noch weiter ausgeweitet werden soll, nur, um die Hilflosigkeit des Westens noch mehr unter Beweis zu stellen. Das war ist für uns auch nicht in erster Linie eine rechtliche, sondern eine dringende wirtschaftliche Angelegenheit.

In der Folge  des oben erwähnten Artikels und nach der Erwähnung aller neuen Beiträge seit dem letzten Editorial – übrigens mit Schwerpunkt Polen, wegen der dort anstehenden Wahlen – hat der Herausgeber verkündet, er braucht eine Woche Pause, wegen Erschöpfung.

Auf alles, was schon schiefläuft, der neue, asymmetrische, aber nicht weniger bedrückende Nahostkrieg obenauf, das schlaucht. Wir haben auch zwischenzeitlich unsere Aktivität hier zurückgefahren, weil es immer mehr und mehr zu werden scheint, was aus der Ordnung gerät. Konflikte gibt es überall auf der Welt, ständig. Aber die Pandemie, der Ukrainekrieg, ein Konflikt, der Israel betrifft und die Palästinenser, der nun hinzutritt, ohne dass zum Beispiel ein Ende des Ukrainekriegs in Sicht wäre – das ist ein schwerer Brocken, und man soll ihn nicht  unterschätzen, weil man selbst im (noch?) einigermaßen sicheren Deutschland sitzt. Das Schicksal des Nahen Ostens mit Israel mittendrin ist auch unser Schicksal oder doch ein Teil davon. Wir müssen an dieser Stelle nicht beschreiben, warum das so ist, jeder hierzulande weiß es. Und das fasst uns an. Vor allem, wenn wir nach einer Haltung suchen, die jedwede Verantwortung einschließt, aber Kritik, wo sie berechtigt ist, nicht ausschließt. Die Haltung, beide Seiten zu sehen, ist immer die schwierigste und wir können gut verstehen, dass und warum sich viele Menschen dazu nicht durchringen können oder wollen.

Wir dürfen uns dafür aber nicht auch noch tadeln lassen, dass wir vor allem die Menschenwürde aller im Blick haben, deswegen haben wir das obige, verhältnismäßig kurze Editorial abgebildet, dessen Kürze wohl auch schon davon zeugt, dass alles so schrecklich geworden ist. Menschen reagieren unterschiedlich auf Situationen. Die einen drehen frei, die anderen verstummen. Wir haben einige Tage geschwiegen und gestern anhand einer Civey-Umfrage zu den deutschen Hilfen für den Gaza-Streifen sechs Tage nach dem Angriff der Hamas einen Leitkommentar verfasst. Das heutige Editorial passt dazu: Zur Menschenwürde zählt auch, nun nicht 2,3 Millionen Menschen im Stich zu lassen, weil eine kleine Minderheit unter ihnen den Weg des furchtbaren Terrors gegangen sind. Um es nicht zu vergessen: Wir wissen auch, dass der Unterstützerkreis viel größer ist als die Zahl der aktiven Terroristen, aber gefährlich ist vor allem die Unterstützung aus dem Ausland, von Regimen, die etwas Entlarvendes haben. Sie entlarven zum Beispiel die antidemokratische Haltung einiger Scheinlinker in Deutschland, etwa, wenn es um deren affine Haltung zum iranischen Mullah-Regime geht. Unter ihnen gibt es auch ausgewiesene Feinde Israels, nicht nur bei den Rechten. Wir haben lange Zeit die Auffassung vertreten, unabhängig vom deutschen Sonderverhältnis zu Israel, dass man doch nicht ein Feind des einzigen demokratischen Staates in der gesamten Region sein kann, sondern ihn unterstützten muss, weil er – nun ja, weil er uns doch viel selbstähnlicher erscheint als die Autokratien drumherum. Weil er Teil unserer Wertewelt ist.

Um diese Begründung, die den Vorteil hat, von der deutschen Vergangenheit unabhängig zu sein und ganz an Werten von heute orientiert, die uns sehr wichtig sind, nicht zu verlieren, sind wir darauf angewiesen, dass sich dieser Staat nicht immer mehr nach rechts bewegt. Deswegen interessieren wir uns auch für Vorgänge im Inneren dieses Staates, nicht nur für dessen Verhältnis zu anderen Nationen.

UPDATE. Netanjahu in Berlin, Scholz besorgt ->“In der Existenz bedroht“ – Israel auf dem Weg zur faschistischen Theokratie?

Wir haben den Begriff Faschismus aus dem vorherigen Abschnitt gestrichen, um bei der Suche nach dem oben verlinkten Beitrag festzustellen, dass er just vom Verfassungsblog in der Überschrift zu einem Beitrag über die Justiz in Israel verwendet wurde. Aber das ist es, was wir schon angedeutet haben: Jetzt wird es noch schwieriger werden, solche Fragen kritisch zu stellen, selbst, wenn man schlussendlich zu einer Ansicht kommt, die etwa lautet: noch nicht, aber es gilt, wachsam zu sein.

Die Zeiten sind für eine liberalere Haltung im Inneren und den Palästinensern gegenüber jetzt noch schlechter geworden, und das bekümmert uns zutiefst. Seit gestern gehen wir auf diesen Konflikt zu und nehmen ihn auf in unsere politische innere Welt und verarbeiten ihn aktiv durch Beiträge wie diesen. Und wir hoffen, dass die Waffen so bald wie möglich schweigen werden. Wir sind da auch zuversichtlicher als bezüglich des Abnutzungskrieges in der Ukraine, denn Israel wird tun, was zu tun ist und von niemandem daran gehindert werden. Wir hoffen vielmehr, dass es bei dem bleibt, was zu tun ist, und die Situation nicht dazu ausgenutzt wird, die Palästinenser endgültig dem einstigen Schicksal der Juden auszuliefern, nämlich sie in alle Winde zu zerstreuen. Vermutlich gibt es dafür in Israel gerade eine Mehrheit, aber wir verweisen schon wieder auf den Verfassungsblog: Demokratie heißt nicht, dass die Mehrheit alles darf, sondern konstituiert sich geradezu durch den Minderheitenschutz. Er ist unabdingbarer Teil des alle Menschen gleichermaßen schützhenden Rechtsstaats, ohne den es keine Demokratie gibt.

TH


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