Briefing 382 Gesellschaft, Ehrenamt, freiwilliges Engagement
Deutschland, ein Land mit Herz. Zivilgesellschaftliches Engagement wird großgeschrieben (oder in dem Fall doch groß geschrieben?). Überraschende Zahlen, aber auch Einschränkungen.
Fast 40 Prozent der Bevölkerung im Alter ab 14 Jahren engagieren sich freiwillig, ehrenamtlich, und die Möglichkeiten dazu sind vielfältig. Vor allem ist ein deutlicher Anstieg seit den 1990er Jahren zu bemerken. Fängt die Zivilgesellschaft die immer größeren Lücken im Daseinsvorsorgesystem des Staates auf? Oder worum geht es bei diesem Engagement? Hier zunächst die Zahlen:
Infografik: Wie viele Deutsche engagieren sich freiwillig? | Statista

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Das freiwillige Engagement in Deutschland ist nach Erhebungen des Bundesfamilienministeriums (PDF-Download) zuletzt auf einem höheren Niveau als noch in den 1990er und 2000er Jahren. So waren im Jahr 1999 21,6 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert. Dieses Level hielt sich bis zur Erhebung des Jahres 2009. 2014 und 2019 waren hingegen rund 29 Millionen Menschen freiwillig engagiert. Dies entspricht einem Anteil an der Wohnbevölkerung ab 14 Jahren von rund 40 Prozent.
Im Rahmen des freiwilligen Engagements bekleiden viele Menschen offiziell ein Ehrenamt. Doch der Begriff umfasst auch Tätigkeiten, bei denen sich Menschen ohne ein Amt engagieren. Die meisten freiwillig Engagierten brachten sich im Bereich Sport und Bewegung ein, wobei der Anteil der Männer hier höher ist als der Anteil der Frauen. Ebenfalls weit verbreitet ist Engagement im den Bereichen Kultur/Musik, im sozialen Bereich und in Schulen und Kindergärten.
Im Vergleich der Erhebungswellen lässt sich eine Tendenz zu einer weniger zeitintensiven Ausübung der freiwilligen Tätigkeit (beziehungsweise der zeitaufwendigsten freiwilligen Tätigkeit bei Mehrfachengagierten) feststellen. Der Anteil der freiwillig Engagierten, die für ihre freiwillige Tätigkeit bis zu zwei Stunden in der Woche aufbringen, ist von 1999 bis 2019 von 50,8 Prozent auf 60,0 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum ist der Anteil der freiwillig Engagierten, die für ihre freiwillige Tätigkeit sechs und mehr Stunden pro Woche aufbringen, von 23,0 Prozent auf 17,1 Prozent gesunken.
Das Bundesfamilienministerium erhebt Daten zum freiwilligen sozialen Engagement in Deutschland im Fünfjahresrhythmus. Die nächste Veröffentlichung zum Jahr 2024 wird voraussichtlich Anfang 2026 erscheinen.
Wird sich zeigen, dass Corona das Engagement geradezu notwendigerweise eingegrenzt hat und es seitdem nicht mehr auf das voherige Niveau zurückkehren konnte? Wirken sich die aktuellen Krisen und Kriege niederschmetternd aus. Sagen sich immer mehr Menschen „Hat eh alles keinen Sinn“ oder läuft es andersherum: „Jetzt gerade!“. Angesichts der Meldungen, dass sich immer mehr Menschen erschöpft fühlen, befürchten wir, dass das freiwillige Engagement derzeit nicht gerade eine Blüte erlebt. Hinzu kommt der demografische Wandel: Viele der besonders Engagierten sind nach unseren Beobachtungen nicht mehr ganz jung. Die Verschiebung hin zu Tätigkeiten, die nicht so zeitintensiv sind, zeigt das nach unserer Ansicht auch schon.
Im Prinzip ist es ähnlich wie auf dem Arbeitsmarkt: Nicht die Zahl der Beschäftigten ist entscheidend, sondern, wie viele Stunden geleistet werden. Wenn es um die gesellschaftliche Relevanz geht. Andererseits muss man es, von heute aus betrachtet, schon als Erfolg ansehen, wenn auch jüngere Menschen sich überhaupt noch mit etwas anderem als sich selbst beschäftigen. Die Mitgliederzahlen in Vereinen oder Parteien schrumpfen gleichwohl. Das Engagement sucht sich also andere, weniger verbindliche Wege, die in unsere volatile Zeit besser passen. Ganz schwierig dürfte deshalb auch eine qualitative Betrachtung sein: Welches Engagement bringt der Allgemeinheit wie viel? Das zu messen, ist herausfordernd und vermutlich gibt es eine solche Bewertung auch nicht und vielleicht ist das auch richtig so, zumal Ehrenamt allzu gerne vom neoliberalen Politikertross missbraucht wird, um Lücken im sozialen System billigst stopfen zu können. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür sind die Tafeln, die mehr und mehr staatliche Leistungen ergänzen müssen, weil diese nicht mehr ausreichen, um die Menschen wenigstens mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Angesichts dessen ein Witz, dass nun beim Sozialen gespart werden soll.
Man verlässt sich wieder einmal darum, dass die Gesellschaft sich, wie in wirklich armen Ländern, immer mehr gegenseitig unterstützt, wobei sich die Reichen in Relation zu ihrer finanziellen Leistungskraft vornehm zurückhalten. Vor allem die mittlere Mittelschicht hat nach unserer Wahrnehmung noch die Kraft und die Einstellung, um sich zu engagieren. Diese Klasse schrumpft aber seit Jahren zahlenmäßig noch stärker als zum Beispiel der Anteil jüngerer Menschen an der Bevölkerung, die noch alle Ressourcen haben, die ein Engagement möglich machen. Dass sich die Aufgabe des Engagements auf immer weniger Schultern verteilt, scheint zwar nicht der Fall zu sein, aber man begrenzt sich eben mehr.
Wir sehen jedwede Entwicklung in diesem Bereich mit gemischten Gefühlen: Es ist toll, dass Menschen noch etwas machen, was sich nicht nur um sie selbst dreht, aber die Politik testet auch immer mehr, wie sehr sie staatliche Aufgaben auf die Zivilgesellschaft abwälzen kann. Gerade die „Wir schaffen das“-Zeit war ein ganz extremes Beispiel dafür, unabhängig davon, ob man heute behaupten kann, es wurde alles geschafft. Und wie viele Menschen sagen sich jetzt gerade, wir bringen genug Opfer dadurch, dass wir alle Nachteile hinnehmen, die die Politik uns aus vorgeblicher Solidarität zu anderen aufbürdet? Zum ehrenamtlichen und insgesamt zum freiwilligen Engagement würde uns eine breit angelegte und fundierte Studie interessieren, denn auch hier wird über Demokratie und Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft entschieden: Inwieweit und wofür sind Menschen noch bereit, sich einzubringen?
Eines erscheint uns jedenfalls sicher. Ein verpflichtendes Dienstjahr, das alle jungen Menschen mehr an Gemeinschaftsaufgaben heranführt, sollte eingeführt werden. Dazu haben wir uns bereits an anderer Stelle geäußert, unter anderem hier: Allgemeine Dienstpflicht? (Umfrage).
TH
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